Seit der Geburt des ersten „Retortenkindes“ im Jahr 1978 sind die an der künstlichen Befruchtung beteiligten Techniken (ART) mit enormem Tempo gewachsen. Allerdings nahm man es bei der Sicherheit und Wirksamkeit in der Anwendung am Menschen nicht immer so genau - mit ethischen und klinischen Folgen. Zu diesem Ergebnis kommen zwei britische Wissenschaftlerinnen in einem jüngst im Reproductive BioMedicine Online (2012: Volume 25, Issue 2 , 108-117) publizierten Artikel. (Herausgeber und Gründer des Journals ist der IVF-Pionier und Nobelpreisträger Robert Edwards.)
Nur wenige Verfahren seien nach klinischen Standards geprüft worden, bevor sie auf den Markt kommen, analysieren Rachel Brown und Joyce Harper vom University College London. Die Vorteile einiger Technologien, die bereits routinemäßige etabliert sind, nennen sie „dubios“. Zudem wären Wissenschaftler trotz neuer, randomisierter Studien nicht bereit, die Sicherheit der betroffenen Frauen und den Nutzen der Anwendungen an erste Stelle zu stellen und die Anwendungen der Techniken zu modifzieren, kritisiert Genetikerin Harper, selbst Forschungsdirektorin des Londoner Centre for Reproductive and Genetic Health.
Als Beispiel für Übereilung nennen sie das Präimplantationsdiagnostik-Screening von Embryonen. Die mit 62 Prozent häufigste Indikation für PID ist die Aneuploidie, also numerische „Fehler“ der Chromosomenzahl. Im Rahmen der Chromosomdiagnostik wird dafür die Methode der „Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung“ (FISH) angewendet, diese stellt aber nur ein grobes Messinstrument dar, Fehldiagnosen sind nicht ausgeschlossen (vgl. IMABE-Info „Präimplantationsdiagnostik“).
Bislang gibt es 11 randomisierte Studien, die untersuchten, ob IVF-Schwangerschaftsraten nach dieser Form der PID stiegen. Ein Zusammenhang konnte bis heute nicht belegt werden, dennoch wird das Screening als Standardinstrument bei IVF angeboten, kritisiert Brown. Offenbar hätten selbst fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse wenig Einfluss darauf, wie PID routinemäßig im klinischen Umfeld eingesetzt wird.
Die Autorinnen deuten an, dass kommerzielle Erwägungen eine Rolle bei der Förderung von Techniken spielen könnten. Die durchschnittliche Erfolgsrate der künstlichen reproduktiven Technologien (Baby-Take-Home-Rate) liegt bei immer noch niedrigen 15 bis 20 Prozent, wobei jeder Versuch Tausende von Dollar kostet. In einem im Dezember 2011 im Oxford Journal of Human Reproduction veröffentlichten Artikel (2011; doi: 10.1093/humrep/der414) hatte Harper die Ethik und den Eifer der IVF-Industrie in Frage gestellt, mit dem sie ungetestete Technologien auf den Menschen anwenden. Gerade weil es im Bereich der ART um emotional verwundbarer Personen geht (manche Methoden werden erst nach mehreren gescheiterten IVF-Versuchen angeboten) und wirtschaftliche Interessen mit ein Rolle spielen, plädieren die Autorinnen für besondere Sorgfalt: Es sei sicherzustellen, „dass alle neuen Technologien angemessen sind und auf ihre Sicherheit und Effizienz getestet werden, bevor man sie klinisch einsetzt.“