Begleitung sterbender Demenzkranker aus pflegespezifischer Sicht

Imago Hominis (2016); 23(2/3): 103-110
Karin Böck, Gabriela Hackl

Zusammenfassung

Pflege und Begleitung sterbender Menschen, die an einer dementiellen Erkrankung leiden, stellen An- und Zugehörige, aber auch das begleitende Team vor besondere Herausforderungen. Pflegepersonen arbeiten immer im Spannungsfeld zwischen Standards und Leitlinien und der gelebten Pflegepraxis in der Begegnung mit Menschen und ihren Bedürfnissen. Es werden strukturelle Rahmenbedingungen, Denkmodelle und Pflegekonzepte aufgezeigt, die einen bedarfsgerechten Zugang in der Pflege und Betreuung sterbender, dementer Menschen ermöglichen. Entlang von Praxisbeispielen werden Qualitäten beschrieben, die helfen, Bedürfnisse zu erfassen und Pflegepersonen zu befähigen, Menschen in der letzten Lebenszeit zu begleiten – mit oder ohne der Diagnose Demenz.

Schlüsselwörter: Pflege im „Hier und Jetzt“, Bezugspflege, Verstehende Diagnostik, Begleitung als Kontinuum, Intuition

Abstract

End-of-life care and assistance of people who suffer from dementia are challenging for relatives as well as for professional caregivers. Dealing with guidelines, standards and the personal needs of the individuals will possibly lead to tensions. We want to show structural conditions, hypotheses and care concepts that enable suitable end-of-life care for people who suffer from dementia. Practical examples will be used to describe caregivers expertise to help define peoples’ needs and to accompany them adequately during the last part of their life with or without the diagnosis of dementia.

Keywords: care in the “here and now“, primary nursing, understanding diagnosis, companionship as a continuum, intuition


Die Pflege und die Dokumentation der Pflege bedeuten demzufolge nicht das Abarbeiten und Abfragen von Lebensgeschichten und Dokumentation dieser in Form von Biographiebögen und Ausfüllen formaler Anforderungen, sondern:

  1. Information und Beratung der Menschen, für die wir die Fürsorge übernehmen
  2. Begleitung (emotional, empathisch, organisatorisch, durch Intervention)
  3. Partizipatives Handeln im Sinne der Bedarfe und Bedürfnisse des demenzkranken, sterbenden Menschen

Nur wenn Pflegende und Angehörige die Wünsche und Mitteilungen des Betroffenen differenziert einschätzen, können sie ihm bestimmte Unterstützungsleistungen geben und ihm die Möglichkeiten selbstbestimmten oder bedürfnisgerechten Verhaltens eröffnen.7

Als Grundlage zu den praktizierten Pflegemodellen nach Krohwinkel und Orem sowie dem Bemühen, das „Hier und Jetzt“ und die nahe oder auch ferne Zukunft des Betroffenen gemeinsam zu meistern, kommt der Grundhaltung der Pflege- und Betreuungspersonen eine essentielle Bedeutung hinzu. Die professionelle Haltung Pflegender im Umgang mit kognitiv eingeschränkten und/ oder sterbenden Menschen ist durch „radikale Betroffenenorientierung“ gekennzeichnet.  In der Palliative Care lassen sich einige Orientierungen bilden,8 denen unter anderem auch die „radikale Betroffenenorientierung“ zuzordnen ist.

„Meine Autonomie hängt dann offensichtlich davon ab, dass es sorgende Andere gibt, die mich verstehen wollen, sich mit mir verständigen können, meine Interessen, meinen mutmaßlichen Willen zur Geltung bringen wollen.“9

Heller und Knipping haben den Begriff der radikalen Betroffenenorientierung wir folgt definiert: „Radikales Interesse und Mitleidenschaft, Orientierung an den Äußerungen und Wünschen, dem Lebenslauf und der Lebensgeschichte bilden den Ausgang allen Bemühens.“10

Ausschließlich durch diese Grundhaltung kann Menschen die aufgrund der kognitiven Einschränkungen auf die Solidarität und Verantwortung anderer angewiesen sind, würde- und respektvolle Hilfestellung angeboten und geleistet werden. Durch geförderte Selbstbestimmung und in Organisationen implementierte Prozesse, die dem Willen oder vermeintlichen Willen des demenzkranken Menschen gerecht werden, ist es möglich, für den Betroffenen qualitätsvolle Pflege und Betreuung zu leisten.

Die Würde des einzelnen Individuums ist unantastbar und muss speziell bei kognitiv eingeschränkten Menschen, bedingt durch die erhöhte Verletzlichkeit, Hilf- und Wehrlosigkeit, um jeden Preis gewahrt werden.

Zeit in der Pflege

Um radikale Betroffenenorientierung zu gewährleisten, bedarf es entsprechender Ressourcen. Einerseits ist die Qualifikation und Qualifizierung der Mitarbeiter von Relevanz, andererseits ist aber auch der Faktor „Zeit“ von enormer Bedeutung. In den meisten Pflegeangeboten in Österreich wird lediglich die Zeit finanziert, die sich mit unmittelbarer Pflege beschäftigt. Zuwendung, Nähe, validierende Maßnahmen, Geduld und Flexibilität sind Leistungen, die im österreichischen Gesundheitssystem nur mangelhaft bis gar nicht finanziert werden.

Der Zusammenhang zum Zeitmangel ist in der Long-term Care Insurance [LTC(I)]11 wie folgt begründet:

Von zentraler Bedeutung sind in den gesamten Ergebnissen die öffentliche Mittel je nach Prozenten des Bruttosozialproduktes, der Personalschlüssel, die gewählte Organisationsform mit dem ihr zugeordnetem Pflegesystem, die Qualifikation des Pflegepersonals und die Pflegebedürftigkeit des Bewohners/Kunden/Patienten. Schweden bringt die meisten Mittel für die LTC(I) auf und damit auch die höchste Personalbesetzung. Österreich organisiert die Mittel wie Schweden über die Steuern, liegt aber mit dem Personalschlüssel wesentlich niedriger als Schweden.12 Dies bedeutet, dass nicht nur die Finanzierung der eigentlichen Pflegeleistung, sondern auch die Quantität des eingesetzten Pflegepersonals den Anforderungen an „radikale Betroffenenorien tierung“ nur schwer gerecht werden kann.

Was die Qualifikation der Mitarbeiter betrifft, um mit demenzkranken Sterbenden ihren Bedürfnissen entsprechend professionell vorgehen zu können, ist in den meisten Organisationen ebenfalls noch Handlungsbedarf. Zwar existieren bereits einige Fort- und Weiterbildungsangebote zum Thema „Umgang mit Demenz“ und „Hospiz und Palliativ Care“, der Durchdringungsgrad bei den Mitarbeitern ist aufgrund der hohen Fluktuation und der Ressourcenfrage im Pflegebereich jedoch noch nicht entsprechend gegeben.

Somit ergibt sich ein weiteres Handlungsfeld:

Fachwissen/Qualifikation von Mitarbeitern

Damit Pflegepersonen nicht aufgrund der komplexen Situation der Betreuung von demenzkranken und sterbenden Menschen schnell an ihre Grenzen stoßen, ist die Vermittlung von Fachwissen zu den beiden Themen einerseits für den Betroffenen wichtig, insbesondere sind es die Mitarbeiter selbst, die entsprechende Hilfestellung in der Pflege brauchen. Fachwissen bedeutet, die Fähigkeit, berufstypische Aufgaben den theoretischen Anforderungen entsprechend eigenverantwortlich und selbständig durchzuführen. Aber nicht nur die Fachkompetenz, auch die Methodenkompetenz, Sozial- und Selbstkompetenz der Pflegenden sind wesentliche Bausteine in der professionellen Pflege demenzkranker Sterbender. Erst durch die Entwicklung und Förderung dieser Kompetenzen gelingt es, Pflegenden die Sensibilität und Achtsamkeit für die Kunden/Bewohner/Patienten aufzubringen. Hier haben Organisationen entsprechende Möglichkeiten für ihre Mitarbeiter anzubieten, um qualitätsvolle und nachhaltige Pflege der Betroffenen zu gewährleisten. Da aber nicht allen Bedarfen und Bedürfnissen von sterbenden Menschen mit Demenz von einer Berufsgruppe alleine erfüllt und befriedigt werden können, braucht es multiprofessionelle Teams.

Multiprofessionelles Team

Ohne multiprofessionelle Zusammenarbeit ist die Abdeckung der Bedarfe und Bedürfnisse dementiell erkrankter, sterbender Menschen nicht möglich. Nur durch das gemeinschaftlich agierende Team der Mitarbeiter der Pflege, der behandelnden Ärzte, der Palliativmediziner, Hospiz- und Palliativteams ist es möglich, die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Betroffenen zu erhalten und qualitätsvoll sowie ressourcenoptimiert professionell zu pflegen und zu betreuen.

Die multiprofessionelle Zusammenarbeit beginnt bei der Erhebung des mutmaßlichen Willens des Betroffenen, sofern keine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht vorliegt und das Stellen eines Sachwalterantrages nicht mehr möglich oder nicht zielführend ist. Um diesen zu erheben, empfiehlt es sich, auf frühere Äußerungen verbal und/oder non-verbal des Betroffenen zurückzugreifen. Der Entscheidung zur Änderung der Therapie von kurativ in palliativ muss eine Diskussion aller Behandelnden – Ärzte, Pflege, fallweise Palliativteam, Seelsorger, Therapeuten, usw. – sowie ein Gespräch mit den Angehörigen vorausgehen.13 Der Zuzug eines Ethikkomitees ist in hochkomplexen Betreuungssituationen und Problematiken bei der Entscheidungsfindung in jedem Fall anzuraten.

Weiters sind mobile Hospiz- und Palliativteams eine unschätzbare Bereicherung in der Betreuung betroffener Demenzkranker. Durch die Expertise der genannten Teams in Bezug auf Schmerztherapie, Symptomkontrolle und psychosoziale Betreuung können Pflegepersonen und Angehörige vorort in ihrem Tun entlastet und unterstützt werden.

Die Ressource „Zeit haben“ ist durch die Einbindung und Leistung ehrenamtlicher Mitarbeiter in das Betreuungsteam gewährleistbar und zu nutzen. Es empfiehlt sich allerdings beim Einsatz von ehrenamtlichen Mitarbeitern, danach zu trachten, dass diese vorab entsprechende Schulungen zu den Themen Demenz und Sterbebegleitung erhalten haben.

Wie bereits angeführt, sind strukturelle Rahmenbedingungen und Fachwissen in Bezug auf die Erkrankung Demenz und die Symptomkontrolle und -linderung bei sterbenden Menschen eine absolute Voraussetzung. Hinzu kommt die ebenfalls notwendige Haltung der Pflegenden und begleitenden Personen, die durch die angeführten Fallbeispiele deutlich und nachvollziehbar wird.

Menschsein in der Begegnung

Fachwissen um Demenzstadien, Validation, Multimorbidität, Pflegediagnosen, Palliativpflege etc. sind wichtig und geben den Rahmen, der professionelle Pflege ermöglicht. Zeit in der Pflege ist eine elementare Ressource und wird umso wichtiger, je weniger verbale Kommunikation möglich ist. Das alles ermöglicht Pflege und leitet Pflegende – begründet und evidenzbasiert. Aber wenn sie die Liebe nicht hätten, wären sie nichts, sagt das Hohelied der Liebe in der Bibel.14 In Anlehnung daran möchte ich formulieren, wenn Pflegepersonen nicht als Menschen spürbar bleiben, dann wird Begleitung im Sterben rein handlungsorientiert: Menschen fühlen sich dann als Menschen nicht mehr angenommen.

Fall Frau N.

Mann und Sohn stehen neben ihrem Bett, als ich ihr zum ersten Mal begegne. Ich begrüße die Patientin, stelle mich vor und berühre vorsichtig ihre nicht geschwollene Hand, während ich erkläre, dass ich gekommen bin, weil die Hausärztin mich um Unterstützung gebeten hat. Ihre Augen schauen scheinbar an mir vorbei ins Leere. Ich bleibe ihr zugewandt, in Ruhe, selbst ankommend im „Hier und Jetzt“. Lange, sehr lange bewegt sich scheinbar nichts, außer dass meine Hand hinaufgeglitten ist zu ihrer Schulter. Doch dann nehme ich wahr, dass sich ein feiner Schleier hebt, der ihre himmelblaue Iris zu verdecken schien. Wir schauen uns an, bis ihr Mann sagt, „Sie kann nicht antworten, sie antwortet schon lange nicht mehr.“ Da berühre ich ihre Schulter intensiver und antwortete ihm, „Ihre Frau weiß, dass ich da bin.“ Im selben Augenblick durfte ich wahrnehmen, wie sich ihr Schultergürtel entspannte. Es ist nicht wichtig, ob sie weiß, wer ich bin. Wichtig ist, wir sind uns begegnet als Karin und Frau Nanni. Sie konnte sich entspannen in dieser Begegnung. In diesem Augenblick ist „Beziehung“ entstanden – wir haben uns „aufeinander bezogen“. Es berührt mich immer, wenn diese Begegnungen von Mensch zu Mensch entstehen, bei demenzkranken Menschen bekommt es für mich aber den hohen Wert von etwas ganz Besonderem. Ich weiß, dass ich mich täglich, manchmal stündlich darum bemühen muss, da es nur jetzt im „Hier und Jetzt“ eine Wichtigkeit hat für demenzkranke, sterbende Menschen. Und ich bin überzeugt: Nicht nur für diese.

Während ich anschließend mit Gatten und Sohn spreche, bleibt auch Frau N. in meinem Blickfeld, meine Stimme bleibt unaufgeregt und ich spreche etwas verlangsamt, weil Frau N. mit im Gespräch ist, selbst wenn sie sich nicht beteiligt. Diese Gespräche benötigen meine emotionale und praktische Präsenz.15 Ich bin als Karin emotional anwesend, ich spüre in mir als Resonanzkörper, was sich verändert. Meine Sinne sind hellwach und ich berühre körperlich, d. h. meine Hand bleibt ganz leicht in Kontakt, solange ich keine Abwehr spüre. Meine Hand bleibt auch dieses Mal auf Frau N.‘s Schulter liegen, und wenn wir von ihr sprechen, sehe ich sie an und verstärke meine Berührung – eine fragende, sprechende, beseelte Hand,16 die in diesem Gespräch den Kontakt aufrecht hält. Frau Rosas Schulter bleibt entspannt, die Augenlider flattern manchmal, ab und zu wird ihre Atmung etwas schneller und einmal vermeine ich, eine kleine Nachdenkfalte zwischen den Augenbrauen zu entdecken. Gegen Ende des Gespräches streichelt Herr N. spontan das Gesicht seiner Frau, weil ihn die Trauer über das bevorstehende Sterben berührt, und ich trete einen Schritt zurück.

Begleitung braucht Kontinuum17 ganz besonders bei demenzkranken Menschen. Dieses Kontinuum kann nur entstehen, wenn es Bezugspflegepersonen gibt. Ich wusste, dass ich das nicht sein konnte. Und dies war auch nicht erforderlich. Frau N. lebte schon lange in einem Pflegeheim und trotzdem blieb Hauptbezugsperson der Gatte, der dies durch seine sehr verbindliche Unterstützung und Begleitung ermöglichte. Sehr oft sind es An- und Zugehörige, die durch langjährige Verbundenheit die höchste Kompetenz besitzen, um wahrzunehmen, was benötigt wird. Dann gilt es primär, diese zu unterstützen. Mein Besuch bei Frau N. war von Fragen und Beratung geprägt, aber zwischendurch gab es auch lange Zeiten, in denen niemand ein Wort sprach, Zeiten, in denen wir sehr präsent im Raum waren, ohne etwas zu wollen. Susanne Kränzle18 nennt es Aufmerksame Absichtslosigkeit, Alfred Höller Daseins-Pflege.19

„Es macht hilflos, etwas einfach anzunehmen und sein zu lassen. Und doch ist es wichtig, einfach da zu sein, zu sehen, zu fühlen, anzuerkennen und ins Herz zu schließen. Bedürfnisse eines sterbenden Menschen beschränken sich nicht nur auf körperliche Bedürfnisse. Darüber hinaus gibt es ein tiefes Bedürfnis des Menschen in seiner Befindlichkeit vollkommen und tief wahrgenommen zu werden. Und hier kommt die Qualität der Präsenz zu tragen. Gerade in der letzten Lebenszeit ziehen sich Menschen häufig auf das Wesentliche zurück. Es ist die Atmosphäre, die wir schaffen, der Raum, den wir erwartungsvoll öffnen, die eine gute Sterbebegleitung ausmachen.“20

Da-Sein ermöglicht ein Wahrnehmen über offensichtliches Wissen und messbare Parameter hinaus. Es fordert mich als Mensch und als Fachkraft.

Schwierige Entscheidungen waren in den letzten Wochen gemeinsam mit der Hausärztin immer wieder neu zu treffen gewesen. Braucht Frau N. nicht doch parenterale Ernährung, wenn sie sehr wenig isst? Wie viel Flüssigkeit tut ihr gut? Soll sie umgelagert werden? Ist ein Krankenhausaufenthalt noch sinnvoll? Entscheidungen, die medizinisch/pflegerisch zu treffen waren bzw. den mutmaßlichen Willen von Frau N. berücksichtigen. Auch mir werden diese Fragen von Herrn N. und seinem Sohn gestellt aus liebender Sorge, nichts zu versäumen. Der Mann meint: „Schon zwei Mal sagte die Hausärztin uns, sie ist sterbend, und dann hat sie sich doch wieder erholt, und es gab wieder eine gute Zeit des Weiterlebens. Wie kann ich sicher sein, dass sie bald sterben wird?“ Sicher sein können wir nie, wohin das Leben sich entwickelt, körperliche Anzeichen sind Hinweise, aber auch nicht mehr. Begleitung ist daher ein Weg für Angehörige und das multiprofessionelle Team, nicht wissend, was morgen sein wird. Es braucht die Bereitschaft, täglich/manchmal stündlich neu zu entscheiden, was jetzt gut zu tun oder besser zu lassen ist. Bei meinem Besuch gibt es tatsächlich „nichts“ zu tun. Frau N. liegt gut, sichtlich entspannt, und wir dürfen annehmen: schmerzfrei. So entscheiden wir in Absprache mit dem Pflegeteam, die Intimpflege später durchzuführen und sie jetzt nicht umzulagern

Manchmal frage ich Bezugs(pflege)personen nach ihrem Bauchgefühl, ob diese oder jene Entscheidung sich gut anfühlt, und oft kommt die Antwort „Ich kann’s nicht sagen“. Diese Frage, plötzlich gestellt, führt zu unsicheren Antworten, denn

Intuition braucht nach der Beschäftigung mit einem Problem eine Phase der Ruhe, in der sich Informationen unbewusst sortieren können. Danach treten häufig neue Informationen als Aha-Erlebnis ins Bewusstsein mit denen weitergearbeitet werden kann.“ (Sechser E.)21

Diesen Freiraum schwerkranken Menschen, Angehörigen und mir selbst zu ermöglichen, führt dazu, dass wir auf ein Erfahrungswissen (Intuition) zurückgreifen können, wie es auch im Pflegekonzept der Maeutik22 zu finden ist. Ich frage auch Herrn N., ob er zuversichtlich sei, dass seine Frau auch dieses Mal wieder zu Kräften kommen werde, wenn wir sie sehr gut unterstützen. Als er mir eine rasche Antwort geben will, deute ich ihm sich Zeit zu nehmen. Wir schweigen lange, und dann weint er. Er hatte an feinen Veränderungen bemerkt, dass die Situation dieses Mal eine andere war. Und er sollte Recht behalten. Frau N stirbt am nächsten Tag und wurde auch nicht mehr umgelagert.

Nicht immer können Begleitungen in den letzten Tagen in einer Ruhe stattfinden, die wenige Interventionen braucht. Auch sehr alte Menschen leiden in den letzten Lebenstagen an vielfältigen Beschwerden wie Schmerzen, Atemnot und vielem mehr. Da die verbale Kommunikation sehr oft eingeschränkt ist, bekommt die Fremdeinschätzung eine hohe Bedeutung. Verstehende Diagnostik23 mit ihren Fragen „Was passiert in welcher Situation?“, „Wobei tritt ein Verhalten auf?“, „Wie häufig tritt es auf?“, „Wie stark ist ein Verhalten?“ helfen, Symptome zu interpretieren. Aber auch multiprofessionelle Teams (More heads are better than one) kommen hier immer wieder an ihre Grenzen. Es braucht einen multifaktoriellen Zugang, der An- und Zugehörige miteinbezieht, und auch dieser kann insuffizient sein.

Fall Herr F.

Er lehrte uns dies, und ich denke mit Demut bis heute an ihn. Er lebte zuhause in seiner großen Familie. 88 Jahre seines Lebens hatte er in diesem Haus verbracht. Seine Frau war schon viele Jahre tot, aber Kinder, Schwiegerkinder, Enkel und Urenkelinnen gehörten zu seinem Lebensumfeld. Menschen starben seit Generationen zuhause, und so sollte es auch für ihn ermöglicht werden. Aber seine Unruhe verließ ihn nur für wenige Stunden am Tag, und seine Angehörigen und das begleitende Team brachte sie an die Grenze des Tragbaren. Wir haben alle erdenklichen pflegerischen, medizinischen, psychosozialen und priesterlichen Fachkompetenzen zu Rate gezogen, lebensgeschichtliche Ereignisse mit einbezogen, bis wir uns keinen Rat mehr wussten und mit den An- und Zugehörigen ausgehalten haben, dass er nach Stunden der Ruhe immer wieder und immer wieder aufgestanden ist, obwohl er dies kaum mehr konnte, um dann wieder erschöpft in sein Bett zu sinken, bevor er erneut sich aufgerichtet hat. Er bewegte sich gleichzeitig in verschiedenen Welten und Lebenszeiten – und wir mit ihm. Manchmal schien ich seine leibliche Schwester zu sein, die bereits tot war. Dann sprach er zu mir als seine Tochter. Manchmal sprach er über seine Milchkühe in der Vergangenheit, dann wieder wollte er melken gehen. Manchmal wusste er, dass ich Krankenschwester bin, und manchmal streifte mich sein Blick wie aus einer anderen Welt. Wir waren, wer wir waren. Wir gehörten zu seiner Welt oder auch nicht. Wir reagierten auf seine drängende Suche oder auf ein freudiges Erstaunen und seufzten tief erleichtert – oft mit ihm, wenn er wieder gut gebettet zur Ruhe kam. In den letzten Stunden seines Lebens kam er zur Ruhe und atmete leise sein Leben aus. Auch das ist Begleitung. Und ich weiß, dass das eine oder andere in seinem Herzen ankam von unseren Bemühungen um ihn, und … er hat auch mich be-wegt.

Zusammenfassung

Pflegende, die Pflegeziele und Pläne auflösen können hin zu einer Grundhaltung der „Radikalen Betroffenenorientierung“, Pflegende, denen es gelingt, Pflege im „Hier und Jetzt“ zu gestalten, die Fachkompetenz besitzen, aber als Menschen berührbar bleiben, ermöglichen es, pflegebedürftigen Menschen und deren An- und Zugehörigen in schwierigen Lebens- und Pflegesituationen Vertrauen zu fassen sowie Begleitung und Pflege zuzulassen.

Pflege und Betreuung demenzkranker, sterbender Menschen bedarf eines komplexen Settings und benötigt Wissen und professionelles Handeln. Emotionale und praktische Präsenz, fragende, sprechende, beseelte Hände, aufmerksame Absichtslosigkeit und Da-Sein sind Faktoren, die unterstützend in der Begleitung und Pflege bis zuletzt wirksam werden und Zuwendung, Beziehung und Liebe ermöglichen. Menschen, die an dementiellen Krankheitsbildern leiden, lehren uns insbesondere diese zutiefst menschliche Fachkompetenz.

Sie selbst benötigen diese hospizliche Haltung oft schon lange, bevor es tatsächlich aufs Sterben zugeht, denn „Die Person sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus.“ (Arno Geiger) d. h. es gehen viele schmerzhafte Abschiede, nämlich psychische, physische und soziale Verluste dem letzten Abschied voraus.

Sterben anzuerkennen ist aber für alle Menschen unabhängig von ihrer Erkrankung ein (hoch)emotionaler Prozess, der ein Verstehen oft übersteigt und Begleitung benötigt. Daher ist das Sterben dementer Menschen integriert zu sehen in dem übergreifenden Thema der hospizlichen Lebens- und Sterbebegleitung. Denn jede Diagnose benötigt auch Fachkompetenz, und für Pflegebedürftige und Pflegende ist Beziehung (Bezugspflege) immer hilfreich. Christian Morgenstern verdichtet in seinem Gedicht, was gemeint ist:

„Jetzt bist du da, dann bist du dort,
Jetzt bist du nah, dann bist du fort.
Kannst du‘s fassen?
Und über eine Zeit
gehen wir beide in die Ewigkeit
dahin – dorthin. Und was blieb?…
Komm, schließ die Augen, und hab mich lieb!“

Christian Morgenstern

Anschrift der Autorinnen:

Karin Böck, MAS
Pflegedienstleiterin Mobiles Hospiz
Caritas der ED Wien
Erlaaer Platz 4, A-1230 Wien
karin.boeck(at)caritas-wien.at

Gabriela Hackl
Leiterin des Pflegedienstes Betreuen und Pflegen
Niederösterreich – Ost, Caritas der ED Wien
Albrechtskreithgasse 19-21, A-1160 Wien
gabriela.hackl(at)caritas-wien.at

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