Editorial

Imago Hominis (2016); 23(1): 003-005
Susanne Kummer

In Österreich sterben jährlich rund 20.000 Menschen an Krebs, bei 38.000 Menschen wird eine Krebserkrankung diagnostiziert. Immerhin: Mit einer Fünf-Jahres-Überlebensrate von 56,7 Prozent bei Krebspatienten liegt Österreich im europäischen Spitzenfeld. Die Ursache der Krebserkrankung ist häufig unbekannt. Diese Unsicherheit führe zu Schuldzuweisungen oder Mythen – gleichzeitig werden evidenzbasierte Fakten vernachlässigt, wie etwa die Tatsache, dass Krankheitsverlauf und Überlebensrate auch stark an sozioökonomische Faktoren gebunden sind. Bislang ist das Gesundheitssystem kaum darauf ausgerichtet, dass Krebs immer häufiger zu einer chronischen Erkrankung wird, die sich über viele Jahre zieht. Möglichkeiten, Grenzen, Kosten und Nutzen der Krebstherapie, Perspektiven der Psychoonkologie, die Rolle des Hausarztes in der Begleitung von Krebspatienten sowie die Ärztliche Wahrhaftigkeit und End of Life Care waren Thema des interdisziplinären Symposiums, das IMABE am 3. Dezember 2015 in Kooperation mit der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt, der Österreichischen Ärztekammer und der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft in Wien unter dem Titel „Trauma Krebs: Tun und Lassen in der Medizin“ veranstaltete.

Die Medizin hat zwar enorme Fortschritte gemacht, wo aber suggeriert wird, dass sie alles heilen kann, werden falsche Hoffnungen geweckt. „Wir tun auch Dinge, die für den Patienten nicht sinnvoll sind“, warnte der Palliativmediziner Marcus Schlemmer (Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, München). Als Beispiel nannte er teure Therapien im Endstadium Krebs, mit denen vielleicht ein Überleben von im Schnitt 14 Tagen erreicht werden kann, gleichzeitig die Lebensqualität aber aufgrund der Nebenwirkungen dramatisch sinkt. Die Palliativmedizin sei weniger krankheitsorientiert, sondern mehr patientenorientiert, was für alle Disziplinen wichtig wäre. Die Wahrhaftigkeit des Arztes gegenüber dem Patienten spielt eine große Rolle. Wahrhaftigkeit sei eine Haltung, die sich in der Kommunikation bewähren muss, so Schlemmer. Ein Arzt sei verpflichtet, dem Patienten zu sagen, was er weiß und zugleich herauszuhören, was der Patient wissen will. Einem schwierigen Aufklärungsgespräch dürfe der Arzt nicht ausweichen, denn: „Wenn diese Gespräche nicht geführt werden, dann werden unsinnige Operationen und Chemotherapien gemacht.“

Erst kürzlich hatte eine in JAMA (2016; 315: 272-283) publizierte Studie betätigt, dass es in den letzten sechs Lebensmonaten einer unheilbaren Krebserkrankung immer wieder zu Hospitalisierungen kommt, auch wenn dies medizinisch nicht immer sinnvoll ist. In der Untersuchung wurden die Daten von sieben Industrieländern in Europa bzw. Nordamerika analysiert, das Ergebnis: Die Mehrheit aller Patienten (Alter: über 65 Jahre) wurde in den letzten 180 Tagen vor ihrem Tod noch einmal in einem Akutkrankenhaus behandelt, etwa ein Viertel erhielt noch einmal eine Chemotherapie. Deutschland wies eine Hospitalisierungsrate von 73,8 Prozent und einen Anteil der Chemotherapie von 35 Prozent auf, in Belgien wurden 89,3 Prozent der Patienten hospitalisiert und 41,0 Prozent erhielten noch eine Chemotherapie.

Von jedem Arzt fordert Schlemmer als Grundhaltung ein, zu lernen, sich „emotional in das Patientenbett zu legen und sich zu fragen: Wie würde ich das gerne jetzt erfahren?“ Ehrlich müsse man als Arzt aber nicht nur gegenüber dem Patienten, sondern auch sich selbst gegenüber und den eigenen Grenzen sein: Auf onkologischen und Palliativstationen würden Mediziner über die Jahre hunderte Menschen sterben sehen – wie andere Menschen es nur aus dem Krieg kennen. „Das ist extrem belastend.“

Große Herausforderungen stünden in der sogenannten „personalisierten“ oder „individualisierten“ Krebstherapie bevor, die auf Genanalysen beruht: Die Methode sei kostspielig und gesicherte Daten über die Erbringung des erhofften Nutzens noch spärlich, wodurch Ärzte in konkreten Entscheidungssituationen vielfach überfordert seien, betont Internist und Onkologe Josef Schwarzmeier (Karl Landsteiner Gesellschaft, Wien).

Ein Tumor lässt sich meist mit bildgebenden Verfahren sichtbar machen, die Gedanken und Gefühle eines Krebspatienten hingegen nicht. Die Diagnose einer „bösartigen“ Erkrankung bedeutet für die Betroffenen eine existentielle Krise, sie müssen lernen, mit ihrer Krankheit umzugehen. Positiv bewertet Alexander Gaiger (Klinische Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie Innere Medizin I, Medizinische Universität Wien), dass es in Österreich möglich geworden ist, Patienten nach Abschluss einer primären Tumortherapie eine onkologische Rehabilitation anzubieten. Bekräftigt werde dieser Ansatz durch US-Studien, die zeigen, dass onkologische Rehabilitation sicher und effektiv ist, das soziale Gewicht der Krebserkrankung mindert und bei einigen Tumorarten auch zu einer Verbesserung des Überlebens führt.

Die Zusammenarbeit zwischen den Hausärzten, die den Patienten, sein soziales Umfeld und seine Krankengeschichte oft schon über Jahrzehnte kennen, und den Onkologen in den Krankenhäusern verbessere sich, dennoch gelte es „Gräben“ zu überwinden, so der Tenor der Experten. „Das geht nur, wenn es eine gegenseitige Haltung der Wertschätzung gibt“, betonte Annemarie Schratter-Sehn (Institut für Radioonkologie am Sozialmedizinisches Zentrum Süd - Kaiser-Franz-Josef-Spital, Wien). Onkologen und Hausärzte sollten mit einer Stimme sprechen. Besonders wenn es um ältere und multimorbide Patienten geht, ist die Rolle des niedergelassenen Allgemeinmediziners als „ortskundiger Begleiter“ durch die oft unübersichtliche Landschaft aus Diagnostik und Therapie zielführend und entlastend. Die Familie sei gleichzeitig unverzichtbar: „Die Patienten wollen begleitet sein. Die ersten Begleiter sind die Familienmitglieder“, sagt der Allgemeinmediziner Christian Euler (Österreichischer Hausärzteverband). Häufig sei der Hausarzt das einzige Kontinuum an der Seite des Patienten, der in den Details der Diagnose seiner Erkrankung wie verloren ist. Patienten wollen als Personen wahrgenommen werden. Das müsse der eigentliche Sinn des Begriffs „personalisierter Medizin“ sein. 

In der vorliegenden Ausgabe von Imago Hominis finden sich einige Themen des Symposiums nun in schriftlicher Form wieder, die Vorträge können auf unserer Webseite www.imabe.org nachgehört werden.

Besonders hinweisen möchten wir auf zwei weitere Beiträge, die sich der Thematik Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung bzw. Euthanasie widmen. Marcus Knaup (FernUniversität Hagen) analysiert kritisch den neuen Straftatbestand, den der Deutsche Bundestag am 6. November 2015 beschlossen hat, nämlich ein Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung.

Willibald Stronegger (Medizinische Universität Graz) zeigt in seiner Analyse aus biopolitischer Perspektive, nach welchen Mechanismen im Laufe der Geschichte der moderne Staat den Boden für die Akzeptanz eugenischer Maßnahmen sowie der Tötung auf Verlangen vorbereitet.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: