Demenz und Gewalt

Imago Hominis (2016); 23(2/3): 111-118
Monique Weissenberger-Leduc

Zusammenfassung

Ein großer Teil der Arbeit widmet sich dem Versuch, Gewalt als Menschenrechtsverletzung, die im Allgemeinen verborgen bleibt, in die vier biomedizinischen Prinzipien von Beauchamp und Childress einzubetten.

Schlüsselwörter: neurodegenerative kognitive Erkrankung/Demenz, biomedizinische Prinzipien von Beauchamp und Childress, Gewalt, Geriatrische Pflege

Abstract

A large part of the work is dedicated to the effort of integrating the mistreatment of elders into Beauchamp and Childress (Principles of Biomedical Ethics) as a form of violation of human rights that is generally kept concealed.

Keywords: neurocognitive disorders/dementia, principles of biomedical ethics, elder abuse, geriatric care


Einleitung

Da die Pflegerealität auch das Problem der Gewalt gegen alte Menschen einschließt, dürfen Pflegepersonen den Kopf nicht in den Sand stecken und so tun, als gäbe es so etwas in ihrem Arbeitsbereich nicht.

Der Gewaltbegriff ist kein klarer, einhellig und eindeutig definierter Terminus. Gewalt gegen alte Menschen mit und ohne neurokognitive Beeinträchtigung (Demenz) kann in einem institutionellen Rahmen ebenso wie in der eigenen Wohnung stattfinden. Sie kann von professionellen Pflegepersonen, von Angehörigen, Nachbarn, Amtspersonen, aber auch von anderen alten Menschen ausgeübt werden. Gewalt können Betroffene direkt durch eine bestimmte Person, indirekt durch organisatorische Rahmenbedingungen einer Institution oder durch die Gesellschaft erfahren. Der Begriff umfasst ein weites Spektrum von Haltungen und Verhaltensweisen, die die Würde des alten Menschen missachten und ihm körperlichen oder seelischen Schaden zufügen. Im Rahmen dieser Arbeit soll nur ein Teilaspekt besprochen werden, nämlich die Gewalt an alten Menschen mit neurokognitiven Erkrankungen im intramuralen Bereich. Hierzu ist es zunächst nötig, verschiedene Sichtweisen des Gewaltbegriffs zu erläutern.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gewalt in der Toronto-Deklaration 2002 wie folgt: „Elder Abuse is a single or repeated act, or lack of appropriate action, occurring within any relationship where there is an expectation of trust which causes harm or distress to an older person.”1

Damit wird ein besonderer Aspekt ins Spiel gebracht: nämlich die Enttäuschung der Erwartung, dem Gegenüber vertrauen zu können („er wird sich um mich kümmern, mich versorgen“); dies macht das Gewalterlebnis für die Betroffenen noch schwerwiegender. Die Definition bezieht sich implizit auf Pflegebedürftige und grenzt damit andere Gewaltakte, z. B. Raubüberfälle im öffentlichen Raum, aus. Abschließend hält die Deklaration fest, dass es sich bei Gewalt gegen alte Menschen um eine klare Verletzung der Menschenrechte handelt.2

Unterscheidung nach Hirsch

Rolf Dieter Hirsch greift die von Johan Galtung3 entwickelte Unterscheidung zwischen direkter, struktureller und kultureller Gewalt auf und bezieht sie auf alte Menschen. Wie Galtung versteht auch Hirsch unter Gewalt „[j]edes Handeln, welches potentiell realisierbare grundlegende menschliche Bedürfnisse (Überleben, Wohlbefinden, Entwicklungsmöglichkeit, Identität und Freiheit) durch personelle, strukturelle oder kulturelle Determinanten beeinträchtigt, einschränkt oder deren Befriedigung verhindert.“4

Hier liegt der Fokus also auf der Nichterfüllung von Bedürfnissen. Viele gewalttätige Handlungen bestehen auch in Unterlassungen, z. B. Anstellung von zu wenig Personal, Vorenthalten von Medikamenten oder Nahrung.

Ein Mensch kann auf einen anderen in vielfältiger Form Gewalt ausüben. Eine umfassende, aber auch praktikable Untergliederung stammt von Josef Hörl und Reingard Spannring.5 Professionelle Pflegepersonen können demnach folgende Formen von Gewalt gegen ältere Menschen ausüben:

  • „Gewalt durch aktives Tun“: wie körperliche Misshandlung; psychische Misshandlung und Verletzungen der Seele; finanzielle Ausbeutung oder Einschränkung des freien Willens.
  • Vernachlässigung durch aktive oder passive Unterlassung von Handlungen bzw. durch psychische Hintansetzung (Alleinlassen, Isolierung; beharrliches Schweigen).6

Gewalt im Rahmen der prinzipienorientierten Ethik von Beauchamp und Childress:7

Vorbemerkungen

Das Modell „Principles of Biomedical Ethics“ von Beauchamp und Childress wurde erstmals 1977 veröffentlicht und seither laufend weiter bearbeitet. Die letzte Ausgabe erschien 2013. Die Anwendung der klassischen ethischen Theorien8 auf konkrete medizinethische Fragen ist – wie die Autoren feststellen – oft problematisch. So stößt z. B. die Demenzforschung an ihre Grenzen, weil Personen mit fortgeschrittener Demenz nicht mehr einwilligungsfähig sind. Menschen aber ohne ihre Einwilligung zu Studienteilnehmern zu machen, wäre eindeutig unmoralisch.

Beauchamp und Childress definieren mit ihren vier Prinzipien gleichsam ein Rohgerüst, das als Basis für ethische Beurteilungen dienen soll. Die vier Prinzipien lauten:

  • Prinzip des Respekts vor der Selbstbestimmung (Principle of Respect for Autonomy)9
  • Prinzip des Nichtschadens (Principle of Nonmaleficence)10
  • Prinzip des Wohltuns (Principle of Beneficence)11
  • Prinzip der Gerechtigkeit (Principle of Justice)12

Das Thema Gewalt am Patienten mit Demenz im professionellen Pflegealltag soll im Folgenden in die Prinzipien von Beauchamp und Childress eingebettet werden.

Prinzip des Respekts vor Selbstbestimmung13

Der Respekt vor Selbstbestimmung ist die Anerkennung des Rechts, eigene Entscheidungen zu treffen. Für Beauchamp und Childress bedeutet Respekt vor Selbstbestimmung das Recht:

  • Meinungen zu haben
  • Entscheidungen zu treffen
  • Handlungen nach persönlichen Wertvorstellungen und Überzeugungen vorzunehmen.

Immer dann, wenn dieses Recht von Menschen mit Demenz bewusst oder unbewusst ungerechtfertigt beschnitten oder es ihnen aberkannt wird, üben wir Gewalt aus!

Respekt vor Selbstbestimmung ist keine bloße Idealvorstellung, sondern ist eine berufliche Verpflichtung für Medizin und Pflege und verlangt respektvolles Handeln. Es ist sowohl eine negative als auch eine positive Verpflichtung.

Negative Verpflichtung: Ich muss Meinungen und Rechte eines Patienten respektieren, solange seine Taten niemandem Schaden zufügen, und ich darf Informationen nicht manipulieren oder verzerren. Je wehrloser ein alter Mensch wird, desto stärker wächst die Gefahr, dass über ihn Macht und dadurch Gewalt ausgeübt wird. Wir können nur dagegen ankämpfen, wenn wir uns dieser Gefahr stets bewusst sind!

Positive Verpflichtung: Ich muss alles dafür tun, um die selbstbestimmte Entscheidungsbildung zu fördern. Konkret bedeutet dies, dass Pflegepersonen verpflichtet sind, einen Kontext so zu gestalten, dass Patienten mit Demenz die Möglichkeit haben, ihr Selbstbestimmungsrecht wahrzunehmen. Die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass die Person mit Demenz nicht nur als Defizitwesen, sondern als Trägerin von Ressourcen gesehen und respektiert wird.

Beispiele für Verpflichtungen, die sich aus dem Prinzip der Selbstbestimmung ableiten lassen:

  • Wahrheitsgemäße Auskünfte: Pflegepersonen müssen genau überlegen und abschätzen: Was will der Patient jetzt hören? Welche Information ist in einer konkreten Situation für einen bestimmten Patienten mit Demenz sinnvoll und zulässig?
  • Respekt vor der Privatsphäre: Diese Verpflichtung wird in Krankenhäusern und Pflegeheimen bei Personen mit Demenz, die angeblich „nichts mehr mitkriegen“, jeden Tag verletzt (Gangbetten, ständig offene Türen zu Patientenzimmern; Körperpflege ohne Abschirmung …)
  • Einwilligung einholen: Hier sollten wir vor allem an tägliche Situationen im Pflegealltag denken wie Körperpflege, Kontinenz-Training, das Spritzen von Insulin, Verbandswechsel … Wenn die Begegnung zwischen Pflegeperson und Patient gelingt, können fortgeschritten Demenzkranke sich auch ohne Worte einverstanden erklären.

Fast bis zuletzt können uns die Patienten über ihren Körper und durch ihr Verhalten selbstbestimmt „sagen“, was sie sicher nicht wollen, z. B. Gewaltanwendung, um jemanden zu einer Handlung zu zwingen, die er selbst nicht wünscht, wie das Festhalten des Kopfes während der Essensverabreichung, damit der Patient essen muss und den Kopf nicht wegdrehen kann. Die unmissverständliche Antwort des Patienten: Er presst den Mund zusammen oder spuckt den Bissen aus.

Es gibt viele sublime Formen der Gewalt, die Menschen mit Demenz daran hindern, selbstbestimmt zu handeln, oder ihre Handlungsweise in kränkender Weise stigmatisieren.

Dazu im folgenden einige Beispiele:

Infantilisierung: Pflegerin Frau Rita beim Mittag-
essen im Speisesaal zu Frau Rosa: „Ein Löffel für Mama, für den Buben … schau.“ Frau Rosa ist eine alte Frau; für sie ist es kränkend und beleidigend, wie ein kleines Kind behandelt zu werden.

Nicht wahr- und ernstnehmen: Frau Margarethe: „Ich muss sofort aufs Klo!“ Pflegerin Frau Rita: „Zuerst essen, dann gehen wir aufs Klo!“

Als Defizitwesen gesehen werden: Eine Patientin, die mit etwas Unterstützung zu Hause leben könnte, muss in eine Institution, weil die verantwortliche Pflegeperson nur ihre Defizite, nicht aber ihre Ressourcen sieht (siehe das Beispiel von DGKS Rosa und Frau Mayer weiter unten).

Stigmatisierung: Verächtliche, kränkende und abwertende Behandlung: Frau Ludwig versucht alleine zu essen. Ein Teil des Essens landet auf dem Tisch. Die alte Frau wischt über den Tisch. Pflegerin Berta kommt herein und sagt laut: „Schauen Sie, was Sie gemacht haben. Alles ist schmutzig. Es ist ekelig.“ Ein zweites Beispiel: Pflegerin Anna kommt in den Aufenthaltsraum, bleibt stehen und sagt laut: „Hier stinkt es, wer hat gekackt?“

Verdinglichung: Der Patient wird nicht wie ein fühlendes Wesen, sondern wie ein Objekt behandelt. Dies geschieht z. B. wenn zwei Pflegepersonen miteinander in ein Gespräch vertieft sind und nebenbei Pflegemaßnahmen setzen, etwa einen bettlägerigen Patienten umlagern.

Urteile über die Kompetenz, selbstbestimmt zu handeln und zu entscheiden, werden häufig durch Pflegepersonen getroffen. Diese Urteile bilden Eintrittspforten und limitierende Schranken für das Selbstbestimmungsrecht eines Patienten mit Demenz. Wenn jemandem diese Kompetenz abgesprochen wird, kann das weitreichende Konsequenzen haben:

  • Es wird eine Sachwalterschaft beantragt.
  • Eine Entscheidung wird nicht erkannt und daher nicht respektiert. So wird der Patient, der nicht essen will, mit der Bitte um das Setzen einer Ernährungssonde ins Krankenhaus eingewiesen, weil er – wie man meint – nicht essen kann.
  • Ungerechtfertigte Institutionalisierung: DGKS Anna wird gefragt, ob Frau Mayer 80a nach Hause entlassen werden kann. Ihre Antwort: Frau Mayer ist vollständig verwirrt, findet sich überhaupt nicht zurecht, ist inkontinent, isst nicht. Eine Entlassung nach Hause ist undenkbar. Hätte man DGKS Sonja gefragt, hätte sie gesagt: Frau Mayer ist hier auf der Station räumlich desorientiert, deswegen findet sie die Toilette nicht. Zuhause war sie links hinten, hier ist sie rechts. In ihrer Not benützt Frau Mayer den Papierkorb. Wir sind draufgekommen, dass sie problemlos allein essen kann, wenn wir die schwere metallene Wärmehaube für sie entfernen. Ja, sie kann nach Hause entlassen werden, wenn sich täglich eine Heimhilfe um sie kümmert.

Das Anerkennen eines Verständnis-Kontinuums, das sich von vollständiger Selbstbestimmung bis zur völligen Abwesenheit von Selbstbestimmung erstreckt, räumt Patienten mit neurokognitiven Erkrankungen die Möglichkeit ein, alle Entscheidungen selbstbestimmt zu treffen, zu denen sie noch in der Lage sind. Personen, die rechtlich für geschäftsunfähig erklärt wurden, können z. B. sehr wohl selbst ihre Mahlzeiten auswählen oder Essen und Trinken ablehnen. Die meisten dieser Entscheidungen sind auch dann möglich, wenn die Demenz weit fortgeschritten ist. Voraussetzung dafür ist, dass die körpersprachlichen Mitteilungen der Betroffenen gesehen, ernst genommen und berücksichtigt werden.

Welche Entscheidungen dürfen wir einem Patienten mit fortgeschrittener Demenz noch selbst überlassen, ohne ihn zu gefährden? Marckmann formuliert die grundlegenden Fragen so: „Was kann Respekt vor der Selbstbestimmung bei einer Patientin mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten bedeuten? Ab welcher Ausprägung der Demenz ist es gerechtfertigt, der Patientin – zu ihrem eigenen Wohl – die Entscheidung abzunehmen?“14

Wir sind verpflichtet, diese Menschen vor Schaden zu bewahren und ihnen medizinische und mitmenschliche Hilfe zukommen zu lassen. Beauchamp und Childress betonen, dass die zunehmende Hilflosigkeit der Betroffenen nichts an dem Respekt ändern darf, mit dem wir ihnen begegnen.

Zwei Aspekte, an die selten gedacht wird, wenn von Gewalt die Rede ist, möchte ich gerne aufgreifen:

  1. „Wir können nicht Informationen finden, von welchen wir nicht wissen, dass sie uns fehlen.“15 Für den Pflegealltag bedeutet dies: Wenn eine Pflegeperson dem Patienten seine Wahlmöglichkeiten – aus welchem Grund auch immer – bewusst nicht aufzeigt, beeinflusst sie seine Entscheidung oder bestimmt selbst, was geschehen soll: Wenn etwa Pflegeprobleme, Pflegeziele und die daraus resultierenden Pflegemaßnahmen ohne Einbindung des Patienten mit Demenz festgelegt werden. Pflegepersonen müssen gut begründen, dass einschränkende fürsorgliche Maßnahmen, die die Wahlfreiheit des Patienten verringern, wirklich notwendig waren.
  2. Kognitiv nicht beeinträchtigte Menschen in Langzeitpflegeeinrichtungen erleben aufgrund ihrer Funktionseinschränkungen aufgezwungene Entscheidungen bei allen Aktivitäten des täglichen Lebens (ATLs). Der Verlust der Durchführungsautonomie bedeutet nicht automatisch den Verlust der Entscheidungsautonomie! So können zerebral intakte bettlägerige Patienten durchaus selbstbestimmte Entscheidungen hinsichtlich Essen, Körperpflege, Aktivität oder Schlafbedürfnis treffen. Über diese Entscheidungen setzt sich das Personal nicht selten aus Zeitgründen oder aus Achtlosigkeit hinweg. Dabei darf aber nicht vergessen werden, wie weit die Institution dem Personal Arbeitsabläufe nach Effizienzgesichtspunkten, Regeln, Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen aufzwingt und damit selbstbestimmte Entscheidungen des Personals und der Patienten behindert. Alte, kranke und pflegebedürftige Patienten mit und ohne Demenz sind immer auf Hilfe angewiesen. Sie sind daher von vornherein die Schwächeren, weil sie nicht auf unsere Unterstützung verzichten können. Beispiel: Eine selbstbestimmte Patientin mit fortgeschrittener Demenz darf aussuchen, was sie essen möchte. Voraussetzung dafür ist ein Schöpfsystem, das es ermöglicht, zwischen den Speisen zu wählen. In dem derzeit aus Kostengründen bevorzugten Tablett-System wird der Patientin einfach etwas hingestellt, das sie – falls sie verbal dazu in der Lage war – vor einer Woche gewünscht und mittlerweile vergessen hat. Das ist eindeutig ein Beispiel für strukturelle Gewalt.

Prinzip des Nichtschadens

Das Prinzip des Nichtschadens besagt, dass es moralisch falsch ist, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Im Gegensatz zum Prinzip des Wohltuns (Verpflichtung zu helfen) handelt es sich hier um eine negative Verpflichtung. Daher haben Regeln, die aus dem Prinzip des Nichtschadens folgen, die Form von Verboten. Das Prinzip des Nichtschadens hat in vielen Situationen Vorrang, aber die Gewichtung hängt von den jeweiligen Umständen ab. Wenn etwa eine Pflegeperson nach Verabreichung einer adäquaten, schnell- und kurzwirkenden Schmerztherapie einen schmerzhaften Verbandswechsel durchführt, wird sie den Schaden (den Restschmerz) in Kauf nehmen, weil sie weiß, dass sie dadurch den Heilungsprozess fördert.

Beauchamp und Childress erweitern das Prinzip des Nichtschadens durch die Verpflichtung, Menschen auch keinem Schadensrisiko auszusetzen. Geht es um einen potenziellen Schaden, verlangen sowohl Moral als auch Gesetz vom Handelnden die Einhaltung der Sorgfaltspflicht. Für Ärzte und Pflegepersonen bedeutet Sorgfaltspflicht zum einen, auf dem aktuellen Stand des medizinischen bzw. pflegerischen Wissens zu sein, und zum anderen, die jeweiligen Umstände zu kennen und zu berücksichtigen. Eine Verletzung des Prinzips des Nichtschadens findet statt, wenn das Krankenhauspersonal Delir nicht erkennt und dadurch keine präventive Maßnahme setzt. Die geriatrischen Patienten mit Demenz als Leidtragende werden einem Schadensrisiko ausgesetzt, gegen das sie sich nicht wehren können.

Prinzip des Wohltuns

Das Prinzip des Wohltuns ist ein Gebot zum Wohl des Patienten zu handeln und den Nutzen für ihn gegen Risiken und Kosten abzuwägen (z. B. Wirkungen und Nebenwirkungen einer Behandlung). Dies verlangt von den Menschen mehr als das Prinzip des Nicht-Schadens: „Principles of beneficence potentially demand more than the principle of nonmaleficence, because agents must take positive steps to help others, not merely refrain from harmful acts.”16

Im Rahmen des Prinzips des Wohltuns sprechen Beauchamp und Childress den Paternalismus an, den sie als ein absichtliches Nichtberücksichtigen von Präferenzen oder geplanten Handlungen definieren. Paternalismus wird meist mit dem eigenen größeren Wissen und der in vielen Jahren erworbenen Erfahrung gerechtfertigt. Dadurch soll dem Patienten zu besseren Entscheidungen verholfen werden, die seinem Wohl dienen oder ihn vor Schaden bewahren. Diese guten Absichten ändern nichts daran, dass Paternalismus eine Form von Gewalt darstellt: Hier wird bewusst an den Bedürfnissen des anderen vorbei gehandelt. Im Extremfall werden die Bedürfnisse, Prioritäten, Wünsche und Wertvorstellungen des Betroffenen zugunsten der Durchsetzung eigener Vorstellungen einfach vom Tisch gewischt und komplett missachtet. Eine paternalistische Handlung findet nicht nur bei großen Entscheidungen wie der Wahl einer Karzinomtherapie statt, sondern z. B. auch, wenn eine Pflegeperson die persönlichen Gegenstände einer Patientin durchsucht oder ordnet, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. Hier denke ich konkret an das Reinigen und Einräumen von Nachtkästen oder Kleiderschränken, während die Bewohnerin im Aufenthaltsraum sitzt.

Prinzip der Gerechtigkeit

The terms fairness, desert (what is deserved), and entitlement have all been used by philosophers as a basis on which to explicate the term justice. These accounts interpret justice as fair, equitable, and appropriate treatment in light of what is due or owed to persons. The term distributive justice refers to fair, equitable, and appropriate distribution of benefits and burdens determined by norms that structure the terms of social cooperation. Its scope includes policies that allot diverse benefits and burdens such as property, resources, taxation, privileges, and opportunities.17

Alle Theorien der Gerechtigkeit müssen entscheiden, auf welche Merkmale sie sich konzentrieren wollen: Wohlergehen (well-being), gerechte Verteilung von Grundbefähigungen, Gesundheitsförderung … Dazu schreibt Georg Marckmann, dass „[in] ethisch-normativer Hinsicht zu untersuchen [ist], wie die Ungleichheiten im Gesundheitszustand verschiedener sozialer Gruppen moralisch zu bewerten sind und welche Verpflichtungen zur Behebung dieser Disparitäten sich daraus ableiten lassen“.18

Ein Krankenhausaufenthalt für Patienten mit einer neurokognitiven Erkrankung ist derzeit mit erheblichen Belastungen verbunden. Die zunehmende Standardisierung und Rationalisierung der organisatorischen Krankenhausabläufe ist selbst für jüngere Patienten belastend. Für Menschen mit Demenzerkrankung ist sie eine Katastrophe. Aufgrund ihrer Erkrankung brauchen sie kompetente geriatrische Bezugspflegepersonen, die es ihnen ermöglichen, das System Krankenhaus ohne Schaden zu nehmen zu verlassen. Ressourcenknappheit und zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens führen nicht nur zu Rationalisierung, sondern auch zu Rationierung, d. h. zu Leistungsbegrenzungen. Die Frage, wie viel uns die Behandlung, Betreuung und Begleitung von Menschen wert ist, die nicht mehr aktiv am Arbeitsprozess teilnehmen, sollte nach medizinischen, pflegerischen, ethischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekten diskutiert werden. Erst dann könnten Entscheidungen getroffen werden, die eine gerechte strukturierte Ressourcenallokation im Gesundheitswesen ermöglichen. Derzeit verhindert z. B. das Patient-Pflegeperson-Verhältnis aufgrund von Arbeitsverdichtung und Personalschlüsselkürzungen, dass täglich alle erforderlichen Grundpflegehandlungen durchgeführt werden.19 Hier wird nicht nur strukturelle Gewalt durch Unterlassung gegen Patienten ausgeübt, sondern – durch den Zwang, gegen das eigene Gewissen arbeiten zu müssen – auch strukturelle Gewalt gegen die Mitarbeiter.

Giovanni Maio schreibt zu Recht: „Ökonomisches Effizienzdenken kann für die Medizin sehr nützlich sein, wenn es um die Frage geht, wie sich ein medizinisches Ziel ohne Verschwendung, günstig und mit minimalem Einsatz erreichen lässt. (…) Aber eine sinnvolle Rangfolge der Ziele der Medizin und der Ökonomie kann doch nur so aussehen, dass die Ziele der Ökonomie in den Dienst der Ziele der Medizin gestellt werden müssen. Die Ökonomie hätte demnach eine der Medizin dienende Funktion.“20

Die Pflege ist auf das Wohl des Kranken ausgerichtet. Hier entsteht oft ein erster Konflikt zwischen der Grundhaltung des Nichtschadens, des Helfenwollens, der Achtsamkeit, des Respekts und dem Diktat der (Zeit-)Ökonomie. Rationalisierung ist sinnvoll, um vorhandene begrenzte Ressourcen zu optimieren. Aber die Ziele – oder sogar die Rechtfertigung – der Pflege dürfen nicht in den Dienst der Ökonomie gestellt werden. Rationierung verursacht eine Vorreihung des ökonomischen Denkens vor genuinem, sozialem, helfendem Denken der Pflege. Die Zeit, die notwendig ist, um Selbstbestimmung leben zu können, wird wegrationiert. Die Zeit für die Zuwendung, die so zentral für das Erleben von Lebensqualität, für Gesundung und Gewaltprävention ist, wird durch Bestrebungen der Effizienzsteigerung und Beschleunigung einfach abgeschafft. Ohne Zuwendung gibt es keine Vertrauensbasis. Zuwendung ist eine Grundvoraussetzung von Pflege, Betreuung und Begleitung und eine effiziente Gewaltprävention.

Zusammenfassend verstehe ich Gewalt als eine „vermeidbare Beeinträchtigung menschlicher Grundbedürfnisse“,21 die entweder direkt von einem oder mehreren Akteuren oder aber strukturell bzw. kulturell ausgeübt wird und die beim Opfer Schaden und/oder Leid hervorruft.
Zum Abschluss würde ich sehr gerne einen Auszug aus einem wunderbaren Gedicht von
Erich Fried22 zitieren:

„Die Gewalt“

Die Gewalt fängt nicht an
wenn einer einen erwürgt.
Sie fängt an, wenn einer sagt:
„Ich liebe dich: Du gehörst mir!”

Die Gewalt fängt nicht an
wenn Kranke getötet werden.
Sie fängt an wenn einer sagt:
„Du bist krank: du musst tun was ich sage.”

Referenzen

  1. WHO, The Toronto Declaration on The Global Prevention of Elder Abuse (2002), www.who.int/ageing/projects/elder_abuse/alc_toronto_declaration_en.pdf (letzter Zugriff am 15. März 2016)
  2. Konkret betroffen sind hiervon die Artikel 1, 3, 4 und 25 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
  3. Galtung, J., Kulturelle Gewalt, in: Landeszentrale für politische Bildung BW (Hrsg.), Aggression und Gewalt, Kohlhammer, Stuttgart (1993), S. 52-73
  4. Hirsch R. D., Gewalt gegen alte Menschen: Ein Überblick zur Situation in Deutschland – Möglichkeiten zur Prävention und Intervention durch private Initiativen, in: Hirsch R. D., Prävention von Gewalt gegen alte Menschen – private Initiativen, Workshop Reader, Bonn, 30. Oktober 2003, S. 14
  5. Hörl J., Spannring R., Gewalt gegen alte Menschen, in: Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen (Hrsg.), Gewalt in der Familie – Rückblick und neue Herausforderungen. Gewaltbericht 2001, Wien (2002), S. 305-344, S. 314
  6. ebd.
  7. Beauchamp T. L., Childress J. F., Principles of Biomedical ethics, Seventh Edition, Oxford University Press, Oxford/ New York (2013)
  8. Beauchamp und Childress setzen sich u. a. mit dem Nützlichkeitsprinzip von Mill und mit dem sogenannten „Handeln aus Pflicht“ bei Kant auseinander.
  9. Beauchamp T. L., Childress J. F., S. 1-149
  10. ebd., S. 150-201
  11. ebd., S. 202-248
  12. ebd., S. 249-301
  13. Ich habe das englische Wort „autonomy“ bewusst nicht mit Autonomie, sondern mit Selbstbestimmung übersetzt. Autonomie bedeutet Selbstgesetzgebung und besteht nach Kant darin, sich selbst moralische Gesetze zu geben und sich ihnen freiwillig zu unterwerfen. Die Selbstbestimmung des Patienten zielt hingegen nur darauf ab, dass seinen Wünschen, Bedürfnissen und Werthaltungen von den behandelnden und betreuenden Personen entsprochen wird.
  14. Marckmann G., Was ist eigentlich prinzipienorientierte Medizinethik? ÄBW (2000); 12: 74: 1-4, S. 2
  15. Rauter E. A., Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht. Über das Herstellen von Untertanen, Weismann Verlag, München (1971), S. 17
  16. Beauchamp T. L., Childress J. F., S. 202
  17. ebd., S. 250
  18. Marckmann G., Public Health und Ethik, in: Schluz S., Steigleder K., Fangerau H., Paul N. W. (Hrsg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung, Suhrkamp, Frankfurt am Main (2006), S. 209-223, S. 210
  19. Ausserhofer D. Zander B., Busse R., Prevalence, patterns and predictors of nursing care left undone in European hospitals: results from the multicountry cross-sectional RN4CAST study, BMJ Quality and Safety (2013); 0: 1-10
  20. Maio G., Wenn Prozesse wichtiger sind als Inhalte. Zur inneren Aushöhlung der Medizin durch das Paradigma der Ökonomie, in: Ärzteblatt Baden Württemberg (2011); 4: 240-243, S. 241
  21. Galtung J., Kulturelle Gewalt, Der Bürger im Staat (1993); 43(2): 106-112, S. 106
  22. Fried E., Um Klarheit. Gedichte gegen das Vergessen, Verlag K. Wagenbach, Berlin (1985)

Anschrift der Autorin:

DGKS DDr. Mag. Monique Weissenberger-Leduc
Philosophin, Soziologin & Pflegewissenschaftlerin
Universität Wien & Forum Palliative Praxis Geriatrie
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