Editorial
Autonom heißt aus philosophischer Perspektive, dass der Mensch die Fähigkeit hat, mit Hilfe des Verstandes und des freien Willens das Gute zu erkennen und auch das Recht hat, das Erkannte für sich zu wählen.
Vielfach wird Autonomie aber als reine Selbstgesetzgebung definiert, ohne auf das objektiv Gute zu reflektieren. Diese Abkoppelung der Autonomie vom objektiv Guten hat vielfach zu einer verfälschten Sicht des Selbstbestimmungsrechts geführt, das gerade in der Medizin negative Folgen zum Schaden der Patienten haben kann. Denn Autonomie ist nicht bloß Autonomie des Willens. Selbstbestimmung muss immer auch im Einklang mit der Vernunft stehen. Wenn nämlich der Sinn für die objektive Wirklichkeit verloren geht, wird der Patient unfähig, zwischen der Seriosität medizinisch wissenschaftlicher Standards und willkürlicher Scharlatanerie zu unterscheiden.
Heutzutage wird als oberstes Prinzip der Menschenwürde in erster Linie die Autonomie angesehen, ja Menschenwürde geradezu an Autonomie gekoppelt. Die Medizinethik ist zu einer ausschließlichen Autonomieethik geschrumpft. Das ist freilich eine unzulässige Verkürzung bzw. Einengung, denn diese Geisteshaltung übersieht den zutiefst sozialen Charakter der menschlichen Natur. Die Tatsache, dass die Menschen von Natur aus auf vielfältige Weise aufeinander angewiesen sind und füreinander Verantwortung tragen (was gerade bei der Sorge um kranke Menschen augenfällig wird), relativiert die Bedeutung der Autonomie als oberstes Kriterium der Menschenwürde. Hinzu kommt, dass das Verhältnis von Arzt und Patient asymmetrisch ist. Daraus ergeben sich oft höchst unterschiedliche Vorstellungen über konkrete Behandlungsstrategien. Darüber hinaus wird das Wohl des Patienten von seiner Familie und seinen Freunden aus einem anderen Blickwinkel gesehen als dies der Patient wahrnimmt. Ein kluger Patient wird daher seine eigenen Grenzen anerkennen und autonom eine Vertrauensperson in den Entscheidungsprozess einbeziehen. Vielfach sind die medizinischen Zusammenhänge so komplex, dass der medizinische Laie überfordert ist. In existentieller Not wie einer schweren Krankheit, in denen Patienten besonders vulnerabel sind, zeigt sich auch mitunter eine Willensschwäche, die mit einer Entscheidungsschwäche verbunden ist. In allen diesen Fällen von eingeschränkter Autonomie muss eine Kompensation zum Wohl des Patienten erfolgen, die nicht alleine durch den Arzt, sondern nur gemeinsam mit dem Pflegepersonal und der Verwandtschaft geleistet werden kann, die Gespräche „führen“, in denen Informationen, aber auch Emotionen, Hoffnungen und Nöte so thematisiert werden, dass es zu einer guten Entscheidung kommt.
Ein überzogenes bzw. überspitztes Selbstbestimmungsrecht, kann beim Patienten einen erheblichen Schaden anrichten, beispielsweise wenn er eine offensichtlich hilfreiche Therapie aus irrationalen Gründen ablehnt oder eine sinnlose Therapie einfordert. Hier einen Ausweg zu finden, stellt nicht nur eine juristische, sondern vor allem auch eine große Herausforderung für das Vertrauensverhältnis von Arzt, Patient und dessen Angehörige dar.
Wenn man daher dem bis heute immer noch gültigen Prinzip des „primum nil nocere“ gerecht werden will, kann die optimale Entscheidung zum Wohl des Patienten nur in einem dialogischen Prozess gemeinsam ergründet werden.
Thomas Hoffmann (Fernuniversität Hagen) differenziert in seinem Beitrag die Begriffe Autonomie, Selbstbestimmung und Willkürentscheidungen und die damit verbundenen neuzeitlichen Missverständnissen aus philosophischer Perspektive. Axel W. Bauer (Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg) erläutert tragende Elemente des Autonomiebegriffs im bioethischen Diskurs der 1990er Jahre und stellt sie in ihren zeithistorischen Kontext. Franz Josef Illhardt (Universität Freiburg) geht in seinem Beitrag zur Einschränkung der Patientenautonomie und Zurechnungsfähigkeit von einem Fall der sog. Ethik-Beratung aus, der Autonomie als Basis für den
informed consent hinterfragt und ausgehend von diesem Fall die Rhetorik der Autonomie beklagt. Stefan Hauser (Evangelische Hochschule Darmstadt) geht der Frage nach, was es heißt, unter den Bedingungen einer asymmetrischen Kommunikation in der Pflege die Selbstbestimmung des Patienten zu achten. Maria Kletečka-Pulker und Katharina Leitner berichten in ihrem Beitrag über eine Studie des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin (Universität Wien), die sich mit den Ursachen der geringen Inanspruchnahme von Patientenverfügungen (4,1 Prozent) und Vorsorgevollmachten (2 Prozent) in der Bevölkerung beschäftigt.