Bioethik aktuell

Künstliche Befruchtung und Public Health: Gesundheitsrisiken für Frauen werden zu wenig beleuchtet

Bald sollen auch gesunde Singles als "unfruchtbar" gelten und Anspruch auf IVF haben

Lesezeit: 04:41 Minuten

Die WHO übt verstärkten Druck auf Staaten aus, die Kosten für künstliche Befruchtungen zu übernehmen. Was zunächst positiv klingt, entpuppt sich bei näherer Analyse als Teil einer Politik des Rechtes auf ein Kind für jeden. Keinen Bezug nimmt die WHO auf die Risiken des wachsenden IVF-Marktes, die weltweit niedrigen Baby-Take-Home-Raten und die möglichen Gesundheitsprobleme für Frauen und Kinder nach künstlicher Befruchtung.

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Jeder sechste Mensch ist nach Schätzung der WHO (April 2023) von „Unfruchtbarkeit“ betroffen. Unter „Unfruchtbarkeit“ versteht die WHO einen Zustand, bei dem nach 12 Monaten des „regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs“ keine Schwangerschaft eingetreten ist. Dieser Wert wurde allerdings mehrfach kritisiert, unter anderem von der Europäischen Gesellschaft für menschliche Reproduktion und Embryologie (ESHRE). 12 Monate seien viel zu knapp bemessen, man sollte erst nach 24 Monaten von Sterilität sprechen, so die Kritik.

Künstliche Befruchtung wird zu leichtfertig angewendet

IMABE-Direktorin Susanne Kummer beobachtet die WHO-Politik mit Sorge. „Paare werden durch willkürlich niedrig gesetzte Schwellwerten unter Druck gesetzt, auf eine künstliche Befruchtung zurückzugreifen, obwohl sie de facto nicht unfruchtbar sind.“ Inzwischen würden Reproduktionsmediziner selbst beklagen, dass die künstliche Befruchtung häufig ohne Not und medizinische Indikation als inadäquate, potenziell gesundheitsschädigende und kostenintensive Methode angewendet wird.

Spontane Empfängnis bei Paaren häufig, die als „unerklärt unfruchtbar“ galten

Erst kürzlich haben niederländische Reproduktionsmediziner in einer Studie, die im Fachjournal Human Reproduction Open veröffentliche wurde (2022 Oct 13;2022(4):hoac046. doi: 10.1093/hropen/hoac046) die Diagnose „unerklärliche Unfruchtbarkeit“ kritisch hinterfragt. Die „ungeklärte Unfruchtbarkeit“ ist mit 25-30 Prozent eine der häufigsten Gründe für den Wunsch, eine IVF vorzunehmen. Statt vorschnell eine künstliche Befruchtung anzubieten, plädieren die Forscher dafür, ein Prognosemodell als medizinischen Standard einzusetzen, denn: „Wenn kein erkennbares Hindernis für die Empfängnis besteht, bleib auch die natürliche Empfängnis als Möglichkeit bestehen“, so die Autoren.

Bereits früher haben Studien gezeigt, dass 60 bis 87 Prozent der Paare, die zwei Jahre nach der Diagnose „ungeklärte Unfruchtbarkeit“ und einer IVF auch auf natürlichem Wege ein Kind zeugen konnten (Bioethik aktuell, 11.2.2014).

Neudefinition: Unfruchtbar gilt, wer keinen geeigneten Sexualpartner gefunden hat

Die WHO scheint jedoch eine andere Politik zu vertreten: Eine assistierte Kinderwunschbehandlung mit Reproduktionstechnik sei, so die Stellungnahme der WHO, sehr teuer und müsse in vielen Ländern aus eigener Tasche finanziert werden, was oft zu verheerenden finanziellen Kosten führe. Die WHO spricht sich deshalb uneingeschränkt dafür aus, dass von den Staaten mehr Gelder für ungewollt unfruchtbare Menschen zur Verfügung gestellt werden. Dabei vertritt die WHO die Politik eines universellen Rechtes auf ein Kind, das staatlich finanziert werden soll.

So erarbeitete eine Arbeitsgruppe in Kooperation mit der WHO eine neue Definition des Terminus "unfruchtbar". Ziel ist, dass in Zukunft auch Singles oder homosexuelle Paare als „unfruchtbar“ gelten, ohne dass eine krankheitsbedingte physische Unfruchtbarkeit vorliegt (Human Reproduction, Volume 32, Issue 9, September 2017, Pages 1786–1801, https://doi.org/10.1093/humrep/dex234). Unfruchtbar gilt demnach auch, wer keinen geeigneten Sexualpartner gefunden hat oder alleine ein Kind für sich haben möchte.

Single zu sein ist keine Krankheit

Das müsse man zu Ende denken, mahnt Kummer. Es sei „höchst fragwürdig, wenn die WHO nun offenbar international Druck auf die Nationalstaaten ausüben will, Eizellspende und Leihmutterschaft zu legalisieren und sie dazu anhält, staatliches Geld in lukrative Märkte zu investieren“, kritisiert die Ethikerin. „Ungewollte Kinderlosigkeit ist für Paare ein schweres Leid. Doch Single zu sein ist keine Krankheit. Es ist nicht Aufgabe der Medizin, jedwede Lebenswünsche zu verwirklichen. Kinderlosigkeit an sich ist keine Krankheit. Das Kind wird hier immer mehr zu einer Art Therapeutikum für unerfüllte Selbstverwirklichung, auch bei Gesunden“, so die Ethikerin.

Baby-Take-Home-Rate beträgt bei 44-Jährigen nur 3,2 Prozent.

Wenig Beachtung schenkt die WHO-Stellungnahme der immer noch bescheidenen Erfolgsrate der künstlichen Befruchtung, die auch als „Baby-take-Home-Rate“ bezeichnet wird. Die Geburtenrate pro Embryotransfer ist niedrig und stark vom Lebensalter der Frau abhängig. Bei einer 35-jährigen Frau liegt diese laut den Zahlen des IVF-Registers in Deutschland bei 26 Prozent, bei einer 40-Jährigen nur noch bei 15 Prozent und bei einer 44-Jährigen bei 3,2 Prozent. Der österreichischen Statistik zufolge waren von den im Jahr 2021 gemeldeten 7.609 Frauen, die sich einer IVF unterzogen hatten, 35,9 Prozent älter als 35 Jahre und führten dabei bis zu acht (!) IVF-Versuche durch (IVF-Jahresbericht 2021) Offenbar würden hier „falsche Hoffnungen geschürt“, kritisiert IMABE-Direktorin Kummer diese Zahlen. Auch die neue WHO-Stellungnahme muss sich diese Kritik gefallen lassen.

Forscher warnen vor Komplikationen der künstlichen Befruchtung und quantifizieren die Risiken

Eine Veröffentlichung zu den Komplikationen bei hospitalisierten Schwangeren nach assistierter Reproduktionstechnik lässt indes aufhorchen, zumal das Marketing für IVF durch die WHO auch die Häufigkeit ungenannter Risiken für die Gesundheit der Frau und das Kind ausblendet. Wie Pensée Wu von der Universität Staffordshire in Großbritannien und Kollegen im Journal der American Heart Association (2022 März;11(5):e022658. doi:10.1161/JAHA.121.022658) berichten, haben weltweit bisher 48 Millionen Paare eine künstliche Befruchtung erhalten. Schwangerschaftskomplikationen nach künstlicher Befruchtung treten dabei im Vergleich zur natürlichen Empfängnis gehäuft auf.

Systematische Nachverfolgung des Gesundheitszustandes von Müttern und Kindern dringend notwendig

Zwischen 2008 und 2018 gab es den in den Vereinigten Staaten 105.248 Geburten nach künstlicher Befruchtung (im Vergleich zu 34.167.246 Geburten ohne Reproduktionstechnik im gleichen Zeitraum). Für alle in dieser Studie abgefragten Komplikationen während der Schwangerschaft wie Nierenerkrankungen, Arrhythmien, Riss der Fruchtblase, Mehrlingsschwangerschaften, Frühgeburten und Kaiserschnitt bestand ein erhöhtes Risiko nach künstlicher Befruchtung. Die Krankenhauskosten in den USA lagen im Schnitt bei 11.983 US-Dollar für natürliche Geburten und bei 18.705 US-Dollar für Geburten von IVF-Kindern (ohne die Kosten der Reproduktionstechnik) – ein Indikator für vermehrte medizinische Aufwendungen bei Geburt nach künstlicher Befruchtung.

Die Forscher weisen darauf hin, dass die fehlende Nachverfolgung außerhalb des Krankenhauses immer noch keine gesicherten Aussagen über das langfristige Gesundheitsrisiko nach künstlicher Befruchtung im Bereich der kardiovaskulären Erkrankungen ermöglicht. Dort besteht dringender Forschungsbedarf.

Institut für Medizinische
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