Menschsein in der Demenz

Imago Hominis (2015); 22(4): 249-258
Giovanni Maio

Zusammenfassung

Um den Menschen mit Demenz gerecht zu werden, ist es wichtig, nicht nur zu fragen, was die Demenz dem Menschen wegnimmt, sondern auch und vor allem, was das Kranksein für die Betroffenen bedeutet und wie eine wertschätzende Sorge entfaltet werden kann. In dem Beitrag wird eine Ethik der Zuwendung entwickelt, mit der das Anliegen verfolgt wird, auch in den demenziell erkrankten Menschen das Unverwechselbare und Besondere zu erkennen. Selbst wenn die geistigen Prozesse abgebaut werden, so bleibt ein Mensch mit Demenz ein unverwechselbares Wesen mit eigenem Charakter, mit dem man sich beschäftigen muss. Je mehr man sich beschäftigt, desto mehr erkennt man, wie viel uns der dementiell erkrankte Mensch zu sagen hat.

Schlüsselwörter: Phänomenologie der Demenz, Anthropologie, Hermeneutische Ethik, Ethik der Sorge

Abstract

Care for patients with dementia usually includes inquiring about losses due to the illness. But of even greater importance is the individual impact on the person afflicted, since a more specific plan for care can be developed on this basis. This article deals with the ethics of human attention, which may help to recognize the individuality and distinctiveness of a dementia patient. Even as mental processes are deteriorating, a person suffering from dementia remains an individual person with his or her own specific character that is longing to communicate. The more engaged we are with the person with dementia, the more we realize how much the patient has to say.

Keywords: phenomenology of dementia, anthropology, hermeneutic ethics, ethics of caring and concern


Der weit verbreitete Deutungshof, in den die Demenz gestellt, wird ist ihre Konnotation mit Abschied vom Ich, mit Abschied von dem, was ein Mensch für uns bislang ausgemacht hat. Eine solche Vorstellung von Demenz erschreckt viele Menschen, und so wird die Demenz zum Horrorszenario unserer Gesellschaft, worauf man nur mit Todeswunsch, assistiertem Suizid und radikaler Abwehr reagieren zu können meint. Der Grund für diese Perhorreszierung der Demenz ist ihre Gleichsetzung mit dem Verlust des Selbst. Darüber muss man näher nachdenken, will man dem Phänomen Demenz gerecht werden. Nachdenken nicht etwa, um sie zu beschönigen oder zu bagatellisieren: Die Diagnose Demenz ist ein traumatisierender Schicksalsschlag, der sich nicht positivieren lässt. Aber das Leben mit Demenz, das Leben mit einem an ihr erkrankten Menschen, das Leben im Bewusstsein des unaufhaltsamen Fortschreitens dieser Krankheit ist nicht einfach ein Unleben, ein Leben, das man sich am besten erspart. Es ist nach wie vor ein Leben und im besten Fall ein Leben in fortbestehender Gemeinschaft, ein Leben, das eben nicht ein Nichtseinsollendes werden muss, sondern das als eigene Lebendigkeit, als Teil der eigenen Biografie und in gewisser Hinsicht auch als Teil meiner selbst betrachtet werden kann.

1. Demenz bleibt immer eine Tragik

Grundlage allen weiteren Nachdenkens über die Demenz ist zunächst einmal die Vergegenwärtigung dessen, was die Diagnose Demenz für einen Menschen bedeutet. Demenz ist nicht nur ein Konglomerat von Symptomen, es ist eine Diagnose, die den ganzen Menschen erschüttert, weil sie wie keine andere den ganzen Menschen erfasst. Alle Versuche, dieser Krankheit etwas Positives abzugewinnen, sind zweifellos verfehlt. Demenz ist eine Tragödie. Das darf nicht beschönigt, nicht romantisiert, nicht von außen mit falschem Trostpathos weggeschoben werden. Die Diagnose ist und bleibt ein herber Schlag, für den Betroffenen selbst und womöglich in einem noch größeren Maße für die Angehörigen, ganz gleich, in welcher Lage sich der Patient, seine Familie und seine Angehörigen befinden. Die einzige Hoffnung, die bleibt, ist die, das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen – aufhalten wird man sie nicht können, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Dies anzuerkennen, fällt unendlich schwer, denn das Gefühl des Ausgeliefertseins ist eines, dem sich keiner gerne stellt. Und doch ist das Leben mit Demenz kein Leben, das keinerlei Raum für Hoffnung ließe. Dies aufzuzeigen, ist der Sinn dieser Arbeit.

Lange hat man in der Medizin versucht, Demenz als eine Krankheit zu betrachten, die es objektiv zu bestimmen und sachlich zu behandeln gelte. Das ist der durchaus übliche Zugang der Medizin auf die Phänomene der Welt, aber dieser Zugang ist – nicht nur bei Demenz – allzu einseitig, so notwendig er andererseits auch sein mag. Denn Demenz ist nicht nur eine objektive Krankheit, sie ist zugleich eine subjektiv erlittene Existenzform des Menschen. Menschen mit Demenz leben als Menschen und nicht als Alzheimererkrankte. Zwar ist ihr Leben durch die Demenz bestimmt, aber es geht nicht in ihr auf, weil der an Demenz erkrankte Mensch primär Mensch ist und somit trotz der Erkrankung ein unverwechselbares und einzigartiges Individuum bleibt. Daher ist es wichtig, nicht nur zu fragen, was die Demenz dem Menschen wegnimmt, sondern auch und vor allem, was das Kranksein für die Betroffenen bedeutet, was es auf sich hat mit dem Leben mit Demenz.

2. Der erstellte Zugang zur eigenen Geschichte

Demenzpatienten werden oft selbst von ihren Angehörigen so behandelt, als ob sie keine Persönlichkeit, kein eigenes Selbst mehr hätten, als wäre ihnen also mit dem Gedächtnis und der Hirnleistung zugleich auch ihr Wesen verloren gegangen. Das lässt ja bereits der Begriff der Demenz anklingen, der nicht weniger sagt, als dass der so erkrankte Mensch sein Denkvermögen, ja seinen Charakter verloren hätte. Doch diese sprachliche Konnotation ist irreführend. Der demenziell Erkrankte verliert etwas, das ist unbestritten. Aber zunächst einmal ist es nicht seine Erinnerung, die er verliert. Er verliert vielmehr den geistigen Zugang zu seiner Erinnerung. Wie ist das zu verstehen? Wer mit Alzheimerpatienten zu tun hat, wird bald bemerken, dass diese Menschen genauso unverwechselbar sind wie nicht kranke Menschen: Jeder erfreut sich an etwas anderem, jeder leidet an etwas anderem. Sicher, sie zeigen ähnliche Symptome; alle verlieren sie zuerst die Fähigkeit, auf die Erfahrungen ihres früheren Lebens kognitiv zurückzugreifen und alle haben sehr bald Schwierigkeiten damit, vertraute Menschen wiederzuerkennen. Aber wir ziehen aus dieser verloren gegangenen Fähigkeit allzu schnell den Schluss, die Demenzpatienten hätten ihre Erinnerung verloren. Wer sich näher mit ihnen beschäftigt, wird erkennen, dass sie voller Erfahrungen stecken. So kann ein Musikstück aus früheren Zeiten spontan Gefühle wecken und den Menschen emotional in die damalige Zeit zurückversetzen; ein Duft aus ihrer Kindheit ruft unwillkürlich Erinnerungen wach. Die Erfahrung dieses „Aufwachens“ machen alle Angehörigen von Demenzpatienten nahezu jeden Tag. Aus ihr wird deutlich, dass Demenzpatienten eigentlich keine Demenz-Patienten sind, sie sind eher Kryptomenz-Patienten: Ihre Erinnerungen sind nicht einfach getilgt, sie sind lediglich zugeschüttet und damit verdeckt, verborgen und schwerer zugänglich. Das Leben eines an Alzheimer erkrankten Menschen ist daher vor allem von Diskontinuität geprägt. Es ist die fehlende Verbindungslinie zwischen früheren und jetzigen Erlebnissen, die ihr Erleben charakterisiert. Der Demenzpatient erlebt immer wieder neu und verliert so das Gefühl einer historischen Kontinuität seiner Biografie. Das erscheint uns Außenstehenden als narrativer Bruch seiner Lebensgeschichte; dabei verkennen wir jedoch, dass das Erlebenkönnen bleibt wie auch die grundsätzliche Fähigkeit, Altes trotz fehlender Kohärenz wieder hervorzuholen. Es wird nur nicht mit dem aktuell Erlebten zu einer neuen geschichtlichen Ganzheit zusammengeführt, sondern bleibt fragmentarisch. Man kann das Erleben eines derart erkrankten Menschen somit als ein Erleben in Bruchstücken beschreiben, in intensiven Bruchstücken, die sich nicht mehr zu einer kohärenten Lebensgeschichte zusammenschnüren lassen.

Im Grunde ist diese Diskontinuität nichts anderes als die verloren gegangene Fähigkeit, sich reflexiv zu sich selbst zu verhalten. Der Demenzpatient verliert also die Möglichkeit eines kognitiven Selbstbezugs. Das bedeutet aber nicht, dass er über keine Identität mehr verfügen würde. Zwar kann er nicht rational auf frühere Identitäten zugreifen und sie mit seiner heutigen verbinden, aber er hat doch noch immer eine Identität: Er empfindet, er fühlt, er denkt – aber er denkt und fühlt stets im Hier und Jetzt. Das ist das Besondere an der Demenz, dieses immer Im-Hier-Sein, ohne Abgleich mit der Vergangenheit und ohne Antizipation einer Zukunft. Es bleibt demnach durchaus ein Selbstbezug erhalten, aber es ist kein kognitiver, sondern ein leiblicher Selbstbezug, ein Bewusstsein vom eigenen Selbst als leibliche Gewissheit des Hierseins. Umso wertvoller werden daher die aufflackernden Bruchstücke echter Empfindungen. Auch wenn sie nicht zu einem Ganzen verbunden werden können, bleiben sie doch expressive Ausdrücke eines momentanen Empfindens, und durch die Echtheit dieser Empfindungen in der gegebenen Situation werden sie zu etwas Wertvollem, zu etwas, was es zu fördern und zu entwickeln gilt.

3. Demenz – Kryptomenz – Remenz

Das, was die Patienten jetzt empfinden, steht trotz seines fragmentarischen Charakters in einem Zusammenhang zu früheren Erfahrungen. Die früheren Erfahrungen sind ja nicht ausgelöscht, sie werden nur nicht mehr in rationaler Weise mit den heutigen zu einer Geschichte zusammengeführt. Aber sie sind noch immer präsent. Jede an Demenz erkrankte Frau, jeder an Demenz erkrankte Mann reagiert auf dem Boden früherer Erfahrungen, weil sich diese Erfahrungen in ihr oder ihm als leibliche Erfahrung eingraviert haben, auch dann, wenn kein bewusster Zugriff auf sie mehr möglich ist. Die früheren Erfahrungen sind sozusagen der Stimmungsboden, auf dem die heutigen Reaktionen aufbauen. Das früher Erlebte bleibt somit Kern der Persönlichkeit, die dadurch über alle Brüche hinweg doch auch etwas Kontinuierliches hat.

Der angemessene Umgang mit demenzkranken Menschen kann daher nur ein Umgang sein, der den Spielraum situativer Erfahrungen neu zu entdecken vermag, ohne das punktuell Erfahrene sogleich zu einer Ganzheit zusammenführen zu wollen. Es geht darum, sich auf die Reise zu machen, um die zugeschütteten Erfahrungen und Erinnerungen aus der Tiefe der erkrankten Person freizulegen und sie punktuell neu aufleben zu lassen. Nur so kann aus einem Kryptomenz-Patienten immer wieder aufs Neue ein Remenz-Patient werden, ein Mensch, der seine Erinnerung immer wieder neu entdeckt und damit immer wieder neue Erfahrungen machen kann. Es erscheint mir wichtig, hier nicht in die Falle der restitutio zu tappen: Im Umgang mit Demenzpatienten kann es nicht darum gehen, etwas ‚wiederherzustellen‘, etwas an seinen ursprünglichen Ort zurückzubringen, den Menschen wieder in seine einstige Verfassung zu versetzen. Alzheimer ist eine Reise, die nicht dort enden kann, wo man sie als noch Gesunder antrat, aber es ist auch keine Reise, die einfach in die Dunkelheit führt. Es wird dunkler, ja. Davor darf man die Augen nicht verschließen, und jeder Versuch, die Unzugänglichkeit der Vergangenheit zu bagatellisieren, erscheint zynisch im Angesicht der Verzweiflung, die nicht nur das Umfeld, sondern auch den Kranken gerade am Anfang oft befällt. Aber es muss nicht sein, dass man bei dieser Verzweiflung stehenbleibt, wenn man sich klarmacht, dass auch der an Alzheimer erkrankte Mensch Ressourcen hat, die es ihm erlauben, immer wieder aufs Neue ein Stück seiner früheren Erfahrungen aufflackern zu lassen und sich damit immer wieder neu lebendig zu fühlen.

Der Demenzpatient muss vor allem davon entlastet werden, irgendeiner früheren Form genügen, irgendetwas leisten zu müssen. Man muss ihm zubilligen können, dass er eine neue Welt um sich herum aufbaut, eine Welt, die er eben mit anderen Gefühlen, mit anderen Bewusstseinsformen in sich aufnimmt und auf die er in neuer, bislang ungekannter Weise reagiert. Er ist nicht mehr in seinen früheren Verhaltensmustern verankert, und doch verhält er sich noch immer als ein einzigartiges, unverwechselbares Individuum. Der Umgang mit ihm wird zuweilen sogar freier, unbekümmerter, weil die Rollenerwartungen ausbleiben und seine Reaktionen unvermittelter sind. Tilman Jens hat das wunderbar auf den Punkt gebracht, als er über die Beziehung zu seinem an Demenz erkrankten Vater Walter Jens schrieb: „Ich habe einen ganz anderen Vater entdeckt, einen kreatürlichen Vater – einen Vater, der einfach nur lacht, wenn er mich sieht, der sehr viel weint und sich Minuten später über ein Stück Kuchen, ein Glas Kirschsaft freuen kann.“1 Die Demenz hat Tilman Jens eine neue Unbefangenheit im Umgang mit seinem Vater ermöglicht.

Dieses neue Verhältnis der Unbefangenheit ist aber nur denkbar, wenn wir uns klarmachen, dass der Kranke eben streng genommen kein Demenz-Patient ist, sondern ein Mensch, der seine Erinnerungen sehr wohl bewahrt hat, aber nun Unterstützung braucht, um neu zu ihnen vorzudringen, um einen neuen Zugang zu ihnen zu erlernen. Dieses Freilegen der Erinnerungen kann nun kein rationales Freilegen mehr sein; es kann nicht darum gehen, Chronizität herzustellen oder korrekte Verbindungslinien zu knüpfen – das Freilegen wäre hier vielmehr ein assoziatives, ein gefühlsbezogenes. Erinnerungen können wachgerufen werden durch den Zugang zu den Emotionen des Patienten. Der Demenzpatient hat seine früheren Erfahrungen tief in seine nach wie vor bestehende Persönlichkeit eingraviert, und es ist nun nicht mehr die Vernunft, die ihn zu diesen tiefen Erinnerungsschichten führt, es ist die leibliche Erfahrung. Es ist der Duft seiner Lieblingsblume, das Hören eines Musikstücks, das Gestreicheltwerden, das Fühlen der Sonne oder das Schmecken von Schokolade. Es sind diese leibhaftigen sensorischen Eindrücke, die dem Alzheimerkranken einen neuen Zugang zu seinen verschütteten Erinnerungen bahnen können. Man muss ihm aber die Möglichkeit dazu geben, solche sinnlichen Erfahrungen zu machen.

4. Der Schleier der Unvertrautheit

Vergegenwärtigt man sich die Situation, dass es zwar tief in einem drinnen eine Erinnerung gibt, dass man diese aber nicht bewusst wachrufen kann und dass sich alle Eindrücke, die man jetzt realisiert, kognitiv nicht in Verbindung zu dieser verborgenen Erinnerung bringen lassen, dann wird eines deutlich: Sie müssen sich unendlich fremd fühlen, in einer fremden Welt, abgeschnitten von allem, was ihnen einst vertraut war. Sie mögen zwar weiter in ihrer vertrauten Umgebung leben, aber sie erkennen dieses Vertraute nicht mehr, ihre visuellen Eindrücke werden nicht mehr mit ihren Tiefenschichten verbunden. Alles ist fremd geworden. Was hier auf eine existenzielle Weise fehlt, ist das Gefühl der Geborgenheit. Die Unruhe, das rastlose Umherlaufen, manchmal auch die Aggression vieler Alzheimerkranker können als Ausdruck dieser verloren gegangenen Geborgenheit verstanden werden und als Suche nach einem verlässlichen Halt. Die Geborgenheit geht dadurch verloren, dass der Kranke seine bisher gewohnte Umgebung eben nicht mehr als vertraute Umgebung wahrnehmen kann. Dadurch, dass er die Fähigkeit verlernt hat, eine Verbindung zwischen seinen aktuellen Eindrücken und dem früher Erfahrenen herzustellen, erfährt er sein Zuhause plötzlich als fremd, weil die Brücke zwischen dem Jetzt und dem Früher immer brüchiger wird. Das Früher ist zwar noch da, aber es wird nicht automatisch abgerufen durch den Anblick des ehedem Vertrauten, sondern erst über Umwege.

Demenzkranke leben in einer als fremd empfundenen Wirklichkeit, weil diese, obgleich sie Teil ihrer eigenen Biografie war, heute als losgelöst von ihren früheren Erfahrungen wahrgenommen wird. Das ehedem Selbstverständliche wird immer mehr zum Unvertrauten; der demenziell erkrankte Mensch erfährt die ihn umgebende Wirklichkeit durch einen Schleier der Unvertrautheit. Aber es ist nur ein Schleier – darunter existiert sie noch, die vertraute Welt; man muss jedoch erst einen Zugang zu ihr finden, einen neuen Zugang, und das geht nur gemeinsam mit anderen Menschen. Hilfe für Demenzpatienten ist daher in erster Linie Hilfe bei der Neuentdeckung des ehedem Vertrauten, Hilfe bei der Durchbrechung des Schleiers des Unvertrauten.

5. Die Scham, andere zu enttäuschen

Mit der Diagnose Alzheimer ist unvermeidlich eine Erschütterung verbunden, nicht nur für die Angehörigen, sondern für den Betroffenen selbst. Diese Erschütterung stellt alles in Frage, nagt am Selbstwertgefühl, löst Ängste aus, manchmal unerträgliche. Das Schlimmste an dieser Angst ist zu Beginn der Erkrankung die Furcht davor, seine Angehörigen zu enttäuschen. Aus dieser Furcht heraus erwächst ein Gefühl, welches das Leben der an Demenz erkrankten Menschen in den ersten Jahren so konstant begleitet wie kein anderes, und das ist das Gefühl der Scham. Sie leben im Modus der Scham, weil sie sich für das schämen, was sie nicht mehr können, für die Enttäuschungen, die sie meinen, ihren Lieben zuzufügen. Sie werden über diese Scham immer einsamer, immer verzweifelter, weil sie glauben, den Erwartungen der anderen, die sich eben an die alte Person richten, gerecht werden zu müssen, den Erwartungen, sein und handeln zu müssen wie früher.

Um Alzheimerpatienten wirklich zu helfen, scheint mir daher der eigentliche Ansatz der zu sein, dass man sie nicht immer wieder mit dem konfrontiert, was sie nicht mehr können, dass man sie nicht korrigiert und zurechtweist, sondern ihnen vielmehr zeigt, was sie noch alles können. Auf diese Weise verleiht man ihnen einen neuen Selbstwert und nimmt ihnen allein durch die verstehende Zuwendung das beklemmende Gefühl der Scham. Denn Scham entsteht nicht durch ein Nichtkönnen – Scham entsteht durch die Internalisierung einer sozialen Erwartung.

An dieser unterstellten Erwartung kann gearbeitet werden, indem jeden Tag neu Wertschätzung geübt wird an dem, was der oder die an Demenz Erkrankte noch immer sind: liebenswürdige Menschen, die uns etwas zu „sagen“ haben, gerade durch ihr Sosein, durch den Umgang mit ihrer Gebrechlichkeit. Das Gefühl der Scham muss durch eine Kultur der Wertschätzung aufgefangen werden, denn Scham ist auf Dauer zerstörerisch. Sie führt sukzessive zur inneren Emigration und damit zu radikaler Einsamkeit. Scham evoziert Rückzugstendenzen und ist somit ein entsozialisierendes Gefühl, das gerade für Demenzerkrankte eine extreme Bedrohung darstellt. Aber sie ist behandelbar: Es bedarf „nur“ eines Gegenübers, das durch liebevolle Ansprache Geborgenheit schenkt. Geborgenheit stiftende Beziehungen sind das Antidot, das wirksamste Gegenmittel gegen die zerstörerische Scham. Es gilt darüber nachzudenken, wie man dem kranken Menschen widerspiegeln kann, was er noch alles kann, wie viel er noch selbst entscheiden kann, wie viel von seinen früheren Fähigkeiten noch immer in ihm schlummert. Das Wichtigste ist die Vermittlung von Anerkennung, und dazu bedarf es kleiner Gesten, die eine positive Resonanz vermitteln.

6. Die Fähigkeit zur Resonanz

Ein Grundproblem des Umgangs mit an Alzheimer erkrankten Menschen liegt darin, dass zu leicht übersehen wird, wie viel sie noch können. Das Basalste und Wichtigste ihrer verbliebenen Fähigkeiten ist zweifellos die Kommunikation mit anderen. Demenziell erkrankte Menschen kommunizieren mit ihrer Umgebung, aber sie kommunizieren eben auf eine neue Art und Weise. Es ist nicht mehr die Kommunikation über den diskursiven Austausch von Informationen, sondern eine viel ursprünglichere Verständigung über das präreflexive Aufspüren von Atmosphären. Demenzpatienten können ab einem bestimmten Punkt nicht mehr erläutern und begründen, aber sie können spüren und sich spürend ausdrücken, indem sie die Atmosphäre aufsaugen und sich von ihr tragen lassen. Alzheimerkranke sind stimulierbar, sie sind mitnahmefähig, auch begeisterungsfähig, vorausgesetzt, man schafft es, nicht nur das Richtige zu tun, sondern auch die richtige Aura zu verbreiten. Demenzpatienten spüren mehr als man glaubt, gerade das macht sie so besonders: Ihre Sensibilität bleibt intakt, ja nimmt womöglich zu und lässt sie sensibler sein als die Gesunden. Sie nehmen wahr, was die nicht kranken Menschen gar nicht mehr zu spüren fähig sind. Demenzpatienten spüren das in der Luft Schwebende, sie spüren die Ungeduld des Gegenübers, sie spüren Desinteresse, sie spüren Mitmenschlichkeit, sie spüren die Zartheit eines Blicks genauso wie die Langeweile des Gegenübers. All das spüren Demenzpatienten. Es ist das Sinnliche des Sprechens, das nun die Botschaft vermittelt, nicht der Sachgehalt. Wenn man sie nun nicht besucht, weil man sich nicht mit ihnen unterhalten kann, dann setzt man sich über dieses tiefe Gespür hinweg und versäumt, mit ihnen in Kommunikation zu treten, in einen Austausch, der eben nicht mehr über Worte, sondern über das Schauen, Berühren, Singen, geduldiges Verweilen verläuft. Der demenzkranke Mensch spricht ständig mit uns, weil er die Fähigkeit besitzt, mitzuschwingen. Eine Fähigkeit, die wir vielleicht selbst wieder neu erlernen sollten – nicht nur, um den Demenzpatienten zu verstehen, sondern, um uns selbst als Menschen neu auszuloten.

7. Leben im Bezogensein auf andere

Je mehr man sich mit an Alzheimer erkrankten Menschen beschäftigt, desto deutlicher wird: Auch wenn sie ihre Fähigkeit einbüßen mögen, Kontinuitäten herzustellen und die Welt diskursiv zu erschließen, so bleiben sie doch der Welt gegenüber aufgeschlossen. Es ist ja nicht nur die beschriebene Resonanzfähigkeit, die sie auszeichnet, es ist mehr als das: Es ist die Beständigkeit der Bezogenheit auf andere, die wir tagtäglich mit ihnen erfahren können. Denn auch der derart kranke Mensch richtet sich noch immer auf den anderen Menschen aus, aber er tut dies nicht verbal kommunizierend, sondern über seinen Leib. Es ist sein Leib, der erfährt, sein Leib, der Zuneigung oder Ablehnung verspürt. Der demenzkranke Mensch kommuniziert leiblich, indem er mit Unruhe reagiert, wenn er sich alleingelassen fühlt, und mit geradezu kindlicher Freude, wenn er Zuneigung verspürt, sich an schöne Erlebnisse erinnert, wenn er Wertschätzung erfährt. Er ruft uns allein über seine leibliche Existenz zur Kommunikation mit ihm auf; dabei ist es nicht sein Wort, sondern sein Leib, der nach einer zwischenmenschlichen Antwort verlangt. Die Leibsprache ist eine Sprache, die wir nahezu verlernt haben und an die uns der an Alzheimer erkrankte Mensch neu erinnert.

Der Demenzkranke ist über seine leiblichen Äußerungen präsent und bleibt auf eine Umwelt angewiesen, die sich mit ihm auseinandersetzt und Atmosphären schafft, die er als wohlig empfinden kann. Er bleibt auf ein Gegenüber bezogen.2 Ohne Ansprechpartner, ohne ein Angebot des Mitschwingens, ohne die Zuwendung einer anderen Person würde er auch leiblich verstummen. Diese Krankheit ist eben nicht wirklich verstanden, wenn man sie auf das reduziert, was verlorengeht. So schwer die Verluste auch wiegen und so leicht man an ihnen verzweifeln kann – sie sagen nicht alles über diese Krankheit aus. Denn der Mensch in der Demenz lebt nicht nur als ihr „Träger“, sondern zuallererst als Mensch, als Mensch mit Gefühlen, die er spürt und zum Ausdruck bringt, als Mensch, der nach wie vor auf Beziehungen zu anderen Menschen angewiesen ist, auch wenn ihre Ausgestaltung anders aussehen mag, als dies früher der Fall war. Es sind eben grundlegend neue Beziehungen, die gestiftet werden müssen.

Auch bleibt er ein Mensch, der nicht ohne Zuwendung und Wertschätzung weiterleben kann. Die Bezogenheit auf andere und die Beziehungshaftigkeit seines Seins durchziehen auch sein von der Demenz geprägtes Leben. Daher mag es zwar einen Bruch in den Verhaltensmodi der Demenzpatienten geben – in den elementarsten Bedürfnissen nach menschlicher Nähe bleiben sie Menschen wie alle anderen. Die Kontinuität des Bezogenseins auf andere ist wohl die beeindruckendste Erfahrung, die man mit diesen kranken Menschen machen kann, weil sie den Gesunden zeigen, was wirklich wichtig ist im Leben: das Gefühl der Geborgenheit. Sie sehnen sich nach einem Ort, nach einer Geste, nach einem Menschen, der ihnen das Gefühl der Geborgenheit vermitteln kann, und diese Geborgenheit ist ohne Zuwendung nicht denkbar, nicht fühlbar.

8. Die leibliche Identität

Wenn dieses Gefühl der Geborgenheit durch einen Blick, eine Umarmung, eine Geste geschenkt werden kann, dann ist es möglich, ganz neue und wertvolle Seiten in diesen Menschen zu entdecken und mit diesen Seiten zahlreiche Ressourcen, die sie noch immer haben. Man entdeckt, wie aufmerksam Demenzerkrankte sein können, wie genau sie beobachten können, wie sie Dinge sehen, die den Gesunden gar nicht auffallen. Sie zeigen uns einen neuen Blick auf die Welt, weil sie die Welt unverstellt sehen können und ein Sensorium entwickeln für die feinen Nuancen im Klang der Stimme, in der Körperhaltung, im Gesichtsausdruck, im Händedruck, die Nuancen in all dem sinnlich Erfassbaren. Und zugleich damit zeigt sich ihre Fähigkeit zur emotionalen Wärme. Demenzpatienten können so herzlich sein, sie können sich so unverstellt freuen, so verzaubert sein ob einer Kleinigkeit. Kurz, sie sind unglaublich lebendige Menschen. Es ist ein Leben, das durch Impulse wachgerüttelt werden muss, aber es bleibt ein intensiv erlebtes Leben. Am Anfang der Krankheit ist die Verzweiflung groß, die Angst, die beschriebene Scham. Im weiteren Verlauf aber schwindet diese Scham und auch das Bangen um die Zukunft, und es bleibt ein Leben, das unmittelbar, im Moment gelebt wird. Demenzpatienten sind so auf Hilfe angewiesen und doch von innen heraus lebendig; jeder von ihnen lebt in seiner Demenz noch immer sein Leben, jeder erfreut sich an seinen Sachen, hat seine Vorlieben, seine Erinnerungen, seine individuelle Ausdrucksform, noch immer.

Über seinen Leib kann sich der Demenzkranke auch weiter als lebendiger Mensch erfahren. Die leibliche Erfahrung vermittelt ihm eine Art Bewusstsein des Hierseins. Wir müssen uns nur freimachen von der Vorstellung, alles laufe über das Großhirn ab. Auch ohne ein reflexives Verhältnis zu meinem Handeln zu haben, kann ich mir allein über die leiblichen Ausdrücke meiner Gefühle dessen gewahr werden, dass ich existiere, da über sie eine basale Stufe meines Selbst präsent bleibt. Der Leibphilosoph Hermann Schmitz spricht in diesem Zusammenhang vom „leiblichen Ich“, das durch leibliche Empfindungen eine affektive Beziehung zu sich selbst ermöglicht. Wenn Alzheimerkranke Wut verspüren, weil das Gegenüber ihr Anliegen nicht versteht, oder wenn sie anfangen zu weinen, weil sie sich hilflos fühlen, können diese leiblichen Äußerungen nicht anders denn als Ausdrücke des eigenen Selbst und somit als eine präreflexive Form der Selbsterfahrung gedeutet werden.

9. Identität durch Beziehung

Der an Alzheimer erkrankte Mensch verliert zwar die Kontinuität seiner Lebensgeschichte, den Faden seiner früheren Biografie – aber seine Biografie bleibt doch erhalten. Seine Erinnerungen bleiben fragmentarisch und können nicht mehr in eine Gesamtgeschichte eingebettet werden. Und doch bleibt er ein Mensch mit einer ihm eigenen gewachsenen Identität, mit einem ihm eigenen Charakter. Diese Identität muss aber durch eine Beziehung zu ihm hervorgekehrt werden. Zur Tragik des Demenzkranken gehört nicht zuletzt, dass ihm, je mehr die Angehörigen resignieren und das Umfeld sein Verhalten stereotypisiert, zunehmend seine Identität verunmöglicht wird. Er braucht Menschen, die ihn eben nicht reduzieren auf das, was er nicht mehr kann, sondern die ihm durch eine lebendige Beziehung die Möglichkeit geben, seiner Identität zum Ausdruck zu verhelfen. Identität ist ja nicht einfach eine Tatsache, die man feststellen kann – Identität ist ein dynamischer Prozess. Um zu seiner Identität zu gelangen, braucht der kranke Mensch die Begegnung mit einem anderen Menschen, er braucht ein Gegenüber, das in ihm die Ermöglichung von Identität wachruft und durch seinen Zuspruch auch tatsächlich Identität schafft, die Identität im Hier und Jetzt.

Hier und jetzt erfährt der Patient diese seine imaginierte Wirklichkeit als seine, und in diesem Erleben der Immanenz kann er seiner selbst gewahr werden. Er empfindet sich in dem Moment, in dem jemand seine Wirklichkeit ernst nimmt, mit ihm teilt, bei ihm ist, als lebendig. Die Begegnung hat hier geradezu einen schöpferischen Auftrag, denn über sie wird ein neues Empfinden geschaffen, das Empfinden, jemand zu sein. Ob der Demenzpatient sich als ein solcher Jemand empfinden kann oder nicht, hängt nicht von seinen Krankheitssymptomen ab, sondern einzig und allein davon, wie intensiv und aufrichtig man ihm aufmerksame Zuwendung schenkt und Neugierde zeigt im Entdeckenwollen des Anderen, der sich zwar verändert hat, aber doch in seinem innersten Kern ein dem Gesunden zutiefst Verwandter bleibt und immer bleiben wird. Es ist also die Ansprache des Gesunden, die dem Kranken seine Identität zurückerstattet, indem sie ihn nicht als einen Dementen, sondern als ein Du anspricht.

10. Der Demenzpatient hat uns viel zu sagen

Das Ansprechenkönnen des kranken Menschen ist ein großes Geschenk, nicht nur für den Kranken, sondern auch und vielleicht noch mehr für den Gesunden, denn er ist der Schöpferische, der durch seine Neugierde im Kranken Saiten zum Schwingen bringt, an die keiner mehr geglaubt hat. Solange es dieses Leben gibt, hält es Überraschungen bereit, sofern man empfänglich bleibt für die Signale, die Demenzerkrankte auf ihre je eigene Weise aussenden, sofern man lernt, diese Signale zu deuten, sofern man gewillt bleibt, sich mit dem Kranken auf einen gemeinsamen Weg zu machen, der am Ende beide verändern wird.

Zwar ist es nicht möglich, die tragischen Seiten einfach zu überspringen; die Tragik der Demenz kann und darf nicht beschwichtigt werden. Aber das Leben mit Menschen mit Alzheimer muss nicht zwingend in ein monotones Pflegen münden – es kann ein lebendiges sein, immer wieder aufs Neue. Es wird darin keine verlässliche Kontinuität geben: Das Lebendige wird immer wieder aufflackern und immer wieder versiegen, aber es flackert neu auf. Man muss nur die Zeichen des Lebens entdecken wollen. Dann bleibt das Leben mit dem an Demenz erkrankten Menschen ein lebendiges Leben, ein beschwerliches, schmerzliches, aber doch zugleich auch lebendiges, manchmal gar heiteres, unbefangenes, unverstelltes – ein volles Leben in diesen kleinen Augenblicken, die der besonderen Fähigkeit dieser Menschen entspringen, Beziehung zu spüren, zwischenmenschlichen Kontakt zu erleben. So muss das Volle des Lebens erst über Beziehungsarbeit hervorgeholt werden, es stellt sich nicht automatisch ein.3 Eine schöne und zugleich sehr dankbare Aufgabe, da auch der Gesunde plötzlich lernt, sich wie der Kranke über Kleinigkeiten zu freuen und diese Kleinigkeiten in vollen Zügen mitzuleben, sie aufzusaugen als ein Lebenselixier. Der Demenzpatient braucht unsere Hilfe, aber in diesem Empfangen gibt er uns viel zurück. Er verhilft uns zu dem Bewusstsein, dass Menschsein mehr bedeutet als das, was wir in unseren starken Jahren davon halten.

Wer sich ganz auf den Demenzkranken einlässt, kann von ihm lernen, dass unser Leben als Gesunde häufig einseitig fixiert ist – auf Rationalität, Leistungsfähigkeit, Funktionalität und Produktivität. Er durchkreuzt dieses Menschenbild und zeigt uns, dass wir uns mitunter verirren in dieser Vorstellung vom Menschen als Leistungswesen, dass Menschsein reicher ist, als wir bisher glaubten. Er zeigt uns, dass in jedem Menschen Gefühle verborgen sind, die vielleicht ein Leben lang nicht zur Geltung kommen, weil sie – ähnlich wie die Erinnerung beim Demenzpatienten – beim Gesunden zugeschüttet sind durch ein einseitig verstandenes Konzept vom guten Leben und das Sichanpassen an das, was vermeintlich von einem Menschen erwartet wird, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Demenzkranke setzen sich über all diese Tendenzen der Sozialkonformität hinweg und entfalten vor unseren Augen einen gesellschaftlich unverstellten Blick auf die Welt. Sie zeigen uns damit nichts, was uns wirklich fremd wäre, sondern entführen uns in emotionale Schichten des Lebens, die alle Menschen in sich tragen, die wir aber als rationalistisch ausgerichtete Gesunde allzu oft verkümmern lassen.

Der an Demenz erkrankte Mensch ist ein lebendiger Mensch, der uns viel zu geben hat. Er vermag unsere Sicht auf das Menschsein zu relativieren und uns daran zu erinnern, dass wir nicht erst über unseren Intellekt und die kognitive Zusammenschau unserer Lebensgeschichte zu Menschen werden. Auch unser Leib kann eine solche Geschichte erzählen, denn wir greifen auch über unseren leiblichen Zugang zur Welt auf frühere Erfahrungen zurück. Der Demenzkranke korrigiert auf diese Weise unser einseitig kognitivistisches Menschenbild und erinnert uns daran, dass Gespür, Gefühl und Intuition ebenso wichtig sind wie Rationalität.

Und noch etwas haben wir den Demenzpatienten zu verdanken: Ihre Existenz macht auf eine eindrückliche Weise deutlich, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Sorge um den Anderen wieder neu erlernt werden muss. Die Tragik der Demenz liegt nicht nur in der traurigen Tatsache beschlossen, dass es diese Krankheit gibt, sie liegt auch darin, dass unsere Gesellschaft es verlernt hat, den schwachen und angewiesenen Menschen in ihrer Mitte zu behalten. Der Demenzkranke hat für viele Menschen etwas Verstörendes, weil er uns alle auf das verweist, was wir bislang an Anstrengungen zur vollen Integrierung des schwachen Menschen in die soziale Gemeinschaft versäumt haben. Vielleicht ist diese verloren gegangene Fähigkeit, den angewiesenen Menschen in die Mitte unserer Gesellschaft zu rücken, tragischer als die Krankheit selbst, denn ihre Tragik könnte durch die Gemeinschaft aufgefangen werden. So kann die Herausforderung Demenz auch eine Chance sein für einen neuen Weg, die Sorge um den schwachen Menschen als zentrale Kulturleistung des Menschen neu zu entdecken.

Referenzen

  1. Jens T., Demenz. Abschied von meinem Vater, Goldmann, München (2010), S. 133
  2. Kruse A., Lebensqualität bei Demenz? Zur Bewältigung einer Grenzsituation menschlichen Lebens, Akademische Verlagsgesellschaft, Heidelberg (2010)
  3. Maio G., Den kranken Menschen verstehen. Für eine Medizin der Zuwendung, Herder, Freiburg (2015)

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M.A. phil.
Lehrstuhl für Medizinethik
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Stefan-Meier-Straße 26, D-79104 Freiburg
maio(at)ethik.uni-freiburg.de

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: