Editorial
Medizinische Forscher, die Tierversuche anwenden, haben es derzeit schwer. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zum Gemeinwohl, gleichzeitig werden sie zur Zielscheibe teils fanatischer Tierschutz-Lobbyisten. Sicherlich: Ein sorgloser Umgang mit Tieren und auch Missbräuche bei Tierversuchen sind und waren leider Realität. Doch die Überwindung solcher Zustände kann nicht in Frontalattacken gegen die betroffenen Forscher bestehen. Das Gegenteil von Missbrauch ist nicht Nicht-Gebrauch, sondern sinn- und maßvoller, gerechter Gebrauch.
Der Fall Nikos Logothetis vom Max-Planck-Institut in Tübingen zeigt, dass Forscher, die Tierversuche durchführen, mitunter derzeit auf blanken Hass stoßen. Der international renommierte Hirnforscher hatte Ende April 2015 angesichts unzähliger Droh-Emails, Anrufe und monatelanger Beschimpfungen kapituliert. Logothetis sah sich dem Druck psychisch nicht mehr gewachsen und erklärte, seine weltbekannten wissenschaftlichen Versuche an Rhesusaffen aufzugeben.
Logothetis’ Affenversuche waren bahnbrechend für das Verständnis der Hirnfunktion: „Sie haben die deutsche Forschung an die Spitze der Kognitionsforschung weltweit gebracht“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ, 11.5.2015). Seine Forschung sei alternativlos, nur Primaten hätten vergleichbare Verknüpfungen der Hirnareale und dieselbe Organisation der Hirnrinde wie jene des Menschen, unterstrich Logothetis in seiner Mitteilung am 5. Mai 2015.
Der Fall Logothetis erregte in akademischen Kreisen großes Aufsehen. In einem offenen Brief warnen 16 Nobelpreisträger das EU-Parlament und die Kommission davor, Versuche an Tieren zu verbieten, wie dies in einer Bürger-Petition gefordert wird. „Das Verständnis der komplexen Prozesse im Gehirn, die Entschlüsselung der Krebsgenetik und die Entwicklung der neuen Impfstoffe, Medikamente und Behandlungsmethoden, die Leben retten und die Lebensqualität verbessern, wären ohne Tierversuche unmöglich“, betonen die Top-Wissenschaftler. Die großen Fortschritte der modernen Medizin verdanken sich auch der Möglichkeit, an Versuchstieren forschen zu können. Die Unterzeichnenden plädieren für eine intensive Suche nach Alternativen zu den Tierversuchen, sagen aber auch ganz offen: „Noch sind wir nicht so weit“. Das zu sagen ist mittlerweile nicht nur unsympathisch oder unpopulär, sondern auch gefährlich.
Der Fall Logothetis ist lediglich einer von vielen, der auf die Lobbyarbeit eines weltweiten Netzwerks von Tierversuchsgegner zurückzuführen ist. Die Forschungsgemeinschaft ist seit Jahren stark verunsichert von den teils rüde agierenden Aktivisten und fordert von der Politik, gebührend geschützt werden. „Kein Stall in diesem Land, schon gar nicht die Käfige von Kaninchen- oder Geflügelzüchtern, wird so penibel überwacht und mit unangemeldeten Kontrollen geprüft wie die der Labors“, schreibt Joachim Müller-Jung in der FAZ. Tatsächlich herrscht hier einer von vielen offenen Widersprüche der öffentlichen Meinung unserer Gesellschaft: Keiner protestiert, im eigenen Keller oder selbst Kellern von Universitätskliniken Rattenfallen aufzustellen; doch wenn ein paar Stockwerke höher im Forschungslabor mit Ratten zugunsten der Gesundheit von Millionen Menschen künftiger Generationen experimentiert wird, müssen Forscher mit Droh-Emails rechnen.
Es besteht kein Zweifel: Der rasante Fortschritt in der medizinischen Grundlagen-, Medikamenten- und Therapieforschung der letzten Jahrzehnte war unter anderem deswegen möglich, weil Grundlagenforschung und angewandte Forschung viele Tierversuche durchführen konnten. Nach Angaben der Europäischen Kommission wurden in den Mitgliedsstaaten der EU im Jahre 2011 etwas 11,5 Mio. Tiere für wissenschaftliche Versuche verwendet. Verglichen mit den Angaben von 2008 (12 Mio.) ergibt sich ein Rückgang um 4,2 Prozent. Mäuse und Ratten stellen gemeinsam mit 75 Prozent die größte Versuchstiergruppe in der EU dar. Nicht-menschliche Primaten machen in den EU-Mitgliedsstaaten nur 0,05 Prozent der Versuchstiere aus. In der EU wurden im Zeitraum 2002 bis 2011 keine Versuche an Menschenaffen durchgeführt; für die Jahre danach liegen noch keine Daten vor.
Die Tierversuche nehmen in den letzten Jahren nicht mehr zu, weil sich im Forschungsbetrieb das Bewusstsein stark entwickelt hat, alles zu tun, um überall, wo möglich, Tierversuche zu ersetzen. Der erwähnte Brief der Nobelpreisträger hatte dies ebenfalls betont. Die Suche nach Alternativmethoden zu Tierversuchen wird von der Europäischen Union durch Art. 47 der Richtlinie 2010/63/EU vom 22.9.2010 gefordert und gefördert. Sie wurde bereits 1986 im Art. 23 der Richtlinie 86/609/EWG gefordert und seither intensiv betrieben. Ein vollständiger Ersatz der Sicherheitsprüfungen am Tier ist vorerst für den Bereich der Kosmetikforschung möglich.
Im Bereich der Medikamentenprüfungen ist laut Experten ein vollständiger Ersatz derzeit nicht in Sicht. Im Bereich der neurobiologischen Grundlagenforschung und der Infektionsforschung ist die einhellige Meinung der Fachkundigen, dass zu den Versuchen an nicht-menschlichen Primaten keine gleichwertige und brauchbare Alternative existiert.
Müssen Tierversuche sein? Sind solche Versuche ethisch zu rechtfertigen? Bis Ende des 20. Jahrhunderts galt es als unumstritten, dass das Lebensschutzrecht des Menschen über der Pflicht zum Tierschutz steht. Die Begründung lag in dem wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier, der seit Aristoteles durchgehend bis Kant und später z. B. auch von Jürgen Habermas vertreten wurde.
Nur ganz vereinzelt wurde dies von Denkern wie z. B. Jeremy Bentham, der 1789 den Speziesismus-Vorwurf erhob, in Frage gestellt. Dieser anthropozentrische Ansatz wird allerdings in verschiedenen Varianten vertreten: von der Aberkennung jeglichen moralischen Status‘ für die Tiere – etwa im reduktionistischen Ansatz Descartes, für den Tiere quasi Maschinen bzw. Automaten waren – bis zum moderaten Anthropozentrimus, der den Tieren einen dem moralischen Status des Menschen nachgeordneten genuin moralischen Status zuerkennt. Unter den letzteren kann die christliche Position eingeordnet werden. Ausgehend von der Aussage der Bibel, der Mensch sei als Abbild Gottes geschaffen und die Schöpfung behüten solle, trägt er nach katholischer Lehre Verantwortung für alles Geschaffene. Der heilige Franz von Assisi gilt als Vorbild für das Bewusstsein der Schöpfungsverantwortung und des Lobpreises. Durch seine Verbrüderung mit der Natur hat er diese christliche Haltung nachhaltig für die zukünftigen Generationen geprägt.
Mit Peter Singers Buch „Animal Liberation“ (1975) wurde der Grundstein zu einer neuen Disziplin gelegt: der sog. Tierethik. In ihr ist der pathozentrische Ansatz vorherrschend: Der moralische Status der Tieres hängt laut Singer mit seiner Leidensfähigkeit zusammen. Darauf stützen sich bis heute radikale Tierversuchsgegner.
In der vorliegenden Ausgabe von Imago Hominis wird dieses heute sehr kontroversielle Thema behandelt. Rainer Nobiling, selbst Forscher und Tierschutzbeauftragter der Universität Heidelberg, argumentiert in seinem Beitrag, warum Tierversuche weiterhin eine Notwendigkeit für die angewandte wie für die Grundlagenforschung darstellen. Die Tierversuche von heute seien so weit entfernt von vorwissenschaftlicher Tierquälerei, dass eine Neubewertung notwendig sei.
Der Salzburger Philosoph Johannes Rosado geht in seinem Beitrag auf das ontologische Fundament der Tierversuche ein. Der Unterschied zwischen Tier und Mensch sei nicht graduell, sondern wesentlich. Dem Menschen kommt – aufgrund seiner geistigen Vermögen, des Verstandes und des freien Willens – die Aufgabe zu, die Dinge der Natur in ihrem Sein zu achten. Insbesondere hat er mit Rücksicht auf die Hierarchie der Bedeutungen und Sinngehalte das Leben der Menschen zu achten und zu schützen, unter bestimmten Umständen auch durch den Rückgriff auf den Einsatz von Tierversuchen.
Die Wiener Pharmazeutin und Bioethikerin Margit Spatzenegger widmet ihren Beitrag dem Spannungsfeld zwischen Menschenschutz und Tierschutz, in dem sich die Pharmaindustrie befindet. Sie skizziert die zahlreichen Ansätze, die sich in der Praxis herausgebildet haben und rechtlich verankert wurden, um dieses schwierige Dilemma zu lösen.
Zwei Beiträge behandeln die Problematik aus der Perspektive der Tierethik.
Martin Huth und Herwig Grimm (Messerli Forschungsinstitut, Veterinärmedizinische Universität Wien) stellen summarisch die verschiedenen Ansätze dieser neuen Disziplin vor und hinterfragen sie hinsichtlich ihrer Eignung zur Beurteilung der Tierversuche für medizinische Zwecke.
Frank Brosow (Philosophisches Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und Elsa Romfeld (Fachgebiet Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg) gehen den Kriterien zur Rechtfertigung von Tierversuchen aus der Perspektive der Ansätze der Tierethik nach. Sie kommen zu dem Schluss, dass es schwer ist, allgemeingültige Kriterien für den Einzelfall aufzustellen, und plädieren für kontextsensible Entscheidungen.