Leben und Sterben. Zur Problematik der ärztlichen Sterbens- und Leidensverlängerung durch künstliche Ernährung
Einleitung
Die Medizin hat in den letzten Jahrzehnten ungeheure Fortschritte gemacht. Dieser Fortschritt basiert in erster Linie auf der logischen Nutzbarmachung von modernen Technologien, die zur Heilung von bis dahin unheilbaren Krankheiten und zur Bewältigung von früher absolut tödlichen Krisen geführt hat. Allerdings sind die medizinischen Möglichkeiten so enorm groß geworden, dass die bisher übliche Regel, immer alles zu tun, um das Leben zu erhalten, zunehmend in Frage gestellt werden muss. Die Trennlinien zwischen einer prinzipiell überwindbaren Lebensbedrohung und dem irreversiblen Sterbeprozess werden zunehmend verwischt. Exemplarisch dafür ist die weltweit so kontroversiell geführte Diskussion über den Behandlungsabbruch bei irreversibel bewusstlosen Patienten z. B. im Wachkoma oder persistent vegetative state (PVS).1
Das heutige Problem im klinischen Alltag ist gar nicht so sehr die oft beschworene Frage, ob der Mensch wirklich alles tun darf, was er tun kann, sondern vielmehr, ob er alles, was er kann, sinnvollerweise überhaupt tun soll. Die immer lauter werdenden Rufe nach einer „menschlichen Medizin“, nach einem „würdigen Sterben“, nach einem gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Behandlungsverzicht bzw. über die aktive und passive Euthanasie, die Angst vor der Apparatemedizin usw. sind Zeichen für dieses Dilemma. In Amerika wird schon seit einigen Jahren die sog. „futility“- Diskussion geführt, bei der die Frage erörtert wird, wie sinnvoll bzw. unsinnig eine Therapie ist, wenn sie zwar einen messbaren Effekt hat, den Tod vielleicht hinausschiebt, aber dem Pat. als Ganzes gesehen wenig nützt.2
Allgemeiner Konsens herrscht freilich darüber, dass man den Prozess des Leidens und des Sterbens nicht künstlich verlängern sollte. Die Schwierigkeit dabei ist freilich, dass die Grenzen zwischen Leben und Sterben fließend sind und es daher keine absoluten Unterscheidungskriterien zwischen Noch-Leben und Schon-Sterben geben kann. Hier werden letztlich die Erfahrung des Arztes und sein Verantwortungsbewusstsein gefordert sein.
Das Ziel der vorliegenden Arbeiten ist es, dazu einen Beitrag zu leisten.
Um Missverständnissen vorzubeugen, sollen vorweg folgende Punkte klargestellt werden:
1) Unsere Überlegungen gehen von dem Gedanken aus, dass jedes menschliche Leben ein fundamentales Gut ist, unabhängig von den konkreten Qualitäten, die es aufweist. Dies bedeutet unter anderem, dass es ein Leben, das nicht lebenswert ist, nicht gibt. Auch das Sterben gehört zum Leben und darf nicht willkürlich verkürzt werden.
2) Die Medizin hat bei Menschen, die irreversibel im Sterben liegen, nur mehr eine rein palliative Aufgabe, und es ist prinzipiell nicht zu rechtfertigen, dass die Sterbephase unnötig verlängert wird.
3) Aufgabe des Arztes ist es, Leiden zu lindern, nicht aber Leiden zu verlängern.
4) Eine direkte Tötung, d. h. eine Handlung, die direkt und kausal den Tod verursacht, ist niemals Aufgabe des Arztes. Sie kommt für unsere Diskussion daher nicht in Betracht.
5) Es soll auch klargestellt sein, dass lebensbedrohliche Krankheitsprozesse, die durch medizinische Eingriffe prinzipiell reversibel sind, hier nicht angesprochen sind.
Leben und Sterben
Allen Begriffen des Lebens gemeinsam ist wohl die Vorstellung von einer Integration der Teile zu einer dynamisch koordinierten Einheit, der das Prinzip seiner Einheit und Ordnung selbst innewohnt.
Das Leben besteht aus koordinierten Prozessen und ist kein Zustand. Typische Lebensprozesse sind Stoffwechsel, Regeneration, Wachstum, Vermehrung, aber auch Pulsschlag, Atmung, Fortbewegung usw. (Lebenszeichen). Die Lebensprozesse sind dabei so aufeinander abgestimmt, dass das Zusammenspiel der Teile in einer bestimmten Ordnung im Gleichgewicht gehalten wird. Die innere Wirkkraft dieses Prozesses entspringt dem Leben selbst und wird nicht von außen gesteuert.3
Das Lebewesen ist allerdings kein Perpetuum mobile. Seine Dynamik ist in sich nicht von unbegrenzter Dauer, sondern auf Energiezufuhr von außen angewiesen. Andernfalls erschöpft sich seine Kraft im Welken und Absterben.
Deshalb ist das Lebewesen mit einer inneren Triebkraft ausgestattet, die der biologischen Tendenz zur Selbstlimitation entgegenwirkt. Wir nennen diese Tendenz Selbsterhaltungsstreben. Es gibt also zwei prinzipiell unterschiedliche Neigungen, die in einem Lebewesen miteinander konkurrieren: 1. die Tendenz, einen an sich fi nalen Prozess zu Ende zu führen (Alterung) und 2. die Tendenz, Lebensprozesse auf Dauer zu erhalten (Selbsterhaltungsstreben).
Das Selbsterhaltungsstreben ist ein innerer Antrieb, der einem Individuum wesenhaft eingepfl anzt ist. Er manifestiert sich nach außen im Verlangen nach Nahrung und Flüssigkeit im Sinne von Hunger und Durst (Nahrungstrieb). Beim Menschen finden wir darüber hinaus auch eine innere Neigung des Willens, am Leben zu bleiben (Lebenswillen). Dabei handelt es sich weniger um einen rationalen Willensakt, sondern eher um einen affektiven Antrieb des Willens, sich selbst am Leben zu erhalten. Er ist gleichsam die bewusste Kehrseite einer instinktiven Todesangst. Das Lebenserhaltungsstreben kann von außen niemals ersetzt, sondern höchstens angeregt oder wiedergewonnen werden. Geht dieser Antrieb jedoch endgültig verloren, so ist das Lebewesen gleichsam unwiderrufl ich auf sein Ende hin programmiert. Es ist ein Prozess mit absehbarer Finalität eingeleitet.
Ab- oder Anwesenheit des Selbsterhaltungsstrebens entscheiden daher letztlich darüber, auf welches Ziel das Lebewesen in seiner Gesamtheit hinsteuert; ob also der Mensch prinzipiell noch auf Lebenserhaltung oder bereits prinzipiell auf ein Ende hin tendiert, d. h. im Sterben liegt.
Fehlen alle drei Kriterien des Selbsterhaltungsstrebens (Hunger, Durst und Lebenswille) unwiederbringlich, so kann angenommen werden, dass der Patient seine Lebenskraft verloren hat und der Sterbeprozess eingeleitet ist. (Selbstverständlich gibt es viele krankhafte Zustände, bei denen das Selbsterhaltungsstreben zwar vorübergehend verloren geht, aber prinzipiell wieder erlangbar ist. Diese Zustände sind hier nicht angesprochen.)
Sterben ist also ein finaler Prozess des Lebens, der unwiderrufl ich zum Tode führt. Im Gegensatz zu einem ungebrochenen Leben fehlt dem Sterbenden unwiederbringlich der innere Antrieb, seine Lebensfunktionen dauerhaft aufrecht zu erhalten. (Natürlich kann man auch sterben – z. B. an einem Unfall – ohne dass dabei auch das prinzipielle Lebenserhaltungsstreben verloren geht. Das ist aber hier nicht unser Thema.)
Ärztliches Handeln
Ärztliches Handeln kann das Prinzip des Lebens nicht ersetzen. Noch keiner konnte das Geheimnis des Lebendigen entziffern. Die Naturwissenschaft reicht nicht aus, um die für das Leben charakteristische innere Eigendynamik zu erklären, die das Lebewesen zu einer Ganzheit konstituiert. Der Arzt ist also nicht Herr über Leben und Tod, wie die Volksmeinung heute mehr denn je annimmt, sondern nur Diener des Lebens. Ärztliches Handeln ist immer nur Hilfestellung für den Patienten. Krankheit ist ein Störfaktor, der den Lebensvorgang beeinträchtigt. Der Arzt greift immer nur in diese Störung ein, nicht aber in das Leben selbst. Er kann also Leben höchstens unterstützen, bestenfalls überbrücken, niemals aber ersetzen, wie es dem alten Prinzip entspricht: „Medicus curat, natura sanat“. Ärztliche Tätigkeit ist daher auf eine prinzipielle Lebensfähigkeit des Menschen angewiesen, soll sie nicht zweckentfremdend ausgeübt werden.
Auf das Sterben angewendet, bedeutet dies, dass das prinzipielle Eingreifen bei Sterbenden zur Lebensverlängerung sinnwidrig ist, weil ein Prozess, der aus innerer Notwendigkeit (fehlendes Selbsterhaltungsstreben) irreversibel auf ein Ende zusteuert, gewaltsam verlängert wird, indem das Leben von außen in eine Zielrichtung gedrängt wird, die ihm von sich aus nicht mehr gegeben ist. Wie gesagt, der Arzt kann den fehlenden inneren Antrieb zur Selbsterhaltung nicht ersetzen. Er kann höchstens einen auf Finalität endgültig eingestellten Prozess von außen künstlich verlängern. In diesem Sinne muss Sterbensverlängerung als sinnwidriges medizinisches Handeln bezeichnet werden.
Weiters muss festgehalten werden, dass sich ärztliches Handeln als Hilfestellung für den Patienten immer an dessen Bedürfnissen und Wünschen zu orientieren hat. Die primäre Aufgabe des Arztes ist es, wie gesagt, Leiden zu lindern, keinesfalls aber Leiden zu verlängern, wenn dies nicht im Interesse des Patienten steht. Dies bedeutet, dass die Möglichkeit der Lebensverlängerung bei schwerkranken Patienten als solche, ohne Leidenslinderung, kein hinreichender Grund ist, diese zu betreiben.
Praktische Konsequenzen
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass ärztliche Handlungen zur Lebensverlängerung in dem Augenblick nicht mehr angebracht sind, in dem die Tendenz weiterzuleben endgültig in eine Tendenz umschlägt, das Leben zu beenden bzw. wenn Lebensverlängerung nur mehr Leidensverlängerung bewirkt.
Wichtige Unterscheidungskriterien dieser beiden diametral unterschiedlichen Zielrichtungen des Lebens sind entsprechend den obigen Ausführungen u. a. die Neigungen zu essen und zu trinken sowie der affektiv bekundete Wille, am Leben zu bleiben. Das unwiederbringliche Fehlen dieser drei typischen Merkmale des Selbsterhaltungstriebes zeigt an, dass von Natur aus eine prinzipielle Kursänderung des Lebens zu dessen Finalisierung stattgefunden hat, die respektiert werden sollte, wenn keine Aussicht auf Besserung besteht. Diese Kriterien können jedoch nicht als normativ, sondern nur als Hilfsmittel angesehen werden und bedürfen der Integration in die Gesamtsituation des jeweils einzelnen Patienten. In diesem Zusammenhang sei eingeräumt, dass ärztliche Urteilsbildung niemals mit einer absoluten Sicherheit getroffen werden kann, sondern immer mit einem letzten systemimmanenten Unsicherheitsfaktor behaftet ist (siehe oben). Die Forderung nach 100%iger Sicherheit ist unrealistisch und würde außerdem bedeuten, dass jeder moribunde Patient bis zum bitteren Ende mit dem gesamten Arsenal medizinischer Machbarkeit (über Intensivstation bis zur Herztransplantation) versorgt werden müsste, was abgesehen vom ökonomischen Irrsinn eine inhumane Flucht vor der ärztlichen Verantwortung wäre.
Fall A: Ein typisches Beispiel wäre ein unheilbar schwer krebskranker Patient, der wegen Appetitlosigkeit, Übelkeit, Brechreiz und Schmerzen weder essen noch trinken kann und will. Niemand wird einen solchen Patienten als Selbstmörder bezeichnen, auch wenn er eine künstliche Ernährung ablehnen würde. Man wird anerkennen, dass hier ein Patient ein unwiderrufliches Schicksal angenommen hat. Eine aufgezwungene Ernährung wäre (abgesehen von der Rechtsfrage) menschenunwürdig. Sollte ein solcher Patient freilich eine künstliche Ernährung erbitten, weil – aus welchen Gründen auch immer – noch ein gewisser Lebenswille vorhanden ist, wäre selbstverständlich auch diese zu respektieren.
Fall B: Bei einer depressiven Verstimmung sind der Lebenswille sowie das Bedürfnis zu essen und zu trinken nur vorübergehend geschwächt. Es besteht die berechtigte Aussicht, diese wiederzuerlangen. In diesem Falle kann daher nicht von einem Sterbeprozess im oben defi nierten Sinne gesprochen werden. Dasselbe gilt natürlich auch für alle anderen reversiblen Beeinträchtigungen der Lebensqualität (Nausea, Schmerzen) und für Krankheitsbilder, bei denen der Zustand durch eine entsprechende Therapie wieder behoben werden kann.
Fall C: Bei irreversibel, d. h. unwiederbringlich bewusstlosen Patienten (z. B. nach schwerem haemorrhagischen Schlaganfall) besteht keine Tendenz mehr zu essen oder zu trinken. Sie haben auch keinen affektiven Lebenswillen mehr. Das baldige Ende ist absehbar. Im Allgemeinen besteht Konsens darüber, dass bei solchen Patienten eine lebenserhaltende Behandlung eingestellt werden kann, wenn keine Aussicht auf Besserung mehr besteht.
Aus der Perspektive unserer Analyse ist der Behandlungsabbruch alleine schon deshalb berechtigt, weil ein solcher Patient bereits in seiner Gesamtheit auf die Beendigung seiner Lebensprozesse eingestellt ist. Deshalb muss bei ihm jede therapeutische Maßnahme als Sterbeverlängerung im obigen Sinne angesehen werden und kann zumindest nicht als verpflichtend gelten.
Fall D: Ein weiteres Beispiel sind immobile, oft schon kachektische hochbetagte Menschen, die aufhören zu essen und zu trinken und infolge des zunehmenden Flüssigkeitsdefi zits langsam in Agonie fallen. Es ist heute vielfach üblich, diesen natürlichen Sterbeprozess in die Länge zu ziehen, indem man künstlich Flüssigkeit und Nahrung (per Sonde) verabreicht, auch wenn keine Aussicht auf Besserung (d. h. Nahrungsaufnahme durch Schlucken) besteht. Der Grund für ein derartiges Verhalten dürfte weniger auf logische Überlegungen als viel eher auf eine alte medizinische Tradition zurückzuführen sein: Nämlich dem Bemühen, jedem Patienten bis zuletzt die nötige Pflege angedeihen zu lassen, auch wenn sonst nicht mehr geholfen werden kann. Die Verabreichung von Nahrung und Flüssigkeit war dabei immer ein fundamentaler Bestandteil dieser Obsorge.4 Allerdings hat sich diese Gepfl ogenheit aus der Betreuung von Patienten entwickelt, die selbst noch das Grundbedürfnis hatten zu essen und zu trinken, bei denen also noch ein Minimum an Lebenserhaltungstendenz vorhanden war. Die im Zuge der modernen Medizintechnik automatische Übertragung dieser Gepfl ogenheit auf Sterbende, bei denen dieses Grundbedürfnis bereits fehlt, mit der Konsequenz, sie künstlich zu ernähren, übersieht den fundamentalen Unterschied: nämlich, dass bei letzteren der letzte Rest an Lebenserhaltungstendenz verloren gegangen ist und solche Patienten daher bereits endgültig im Sterben liegen.
Es ist im Übrigen bekannt, dass im hohen Alter Hunger- und Durstgefühl zunehmend verloren gehen und der Lebenswille abnimmt.5 Es muss als therapeutischer Übereifer bewertet werden, wenn solchen Menschen am Ende ihres Lebens Flüssigkeit und Nahrung noch künstlich aufgezwungen werden, anstatt sie auf natürliche Weise in Würde sterben zu lassen.6
Fall E: Ein Grenzfall wäre ein tief bewusstloser Patient (z. B. nach mehreren Schlaganfällen oder nach einem Unfall), der sich in einem Wachkoma oder persistent vegetative state (PVS) befindet, und bei dem nach gründlichen Erwägungen keine Hoffnung auf Besserung mehr besteht. Streng gedacht, besteht bei solchen Patienten kein substantieller Unterschied zu Fall C. Auch bei ihnen fehlt jede Tendenz, sich selbst auf Dauer am Leben zu erhalten. Sie haben kein Grundbedürfnis zu essen und zu trinken und keinen Lebenswillen. Trotzdem sträubt sich der gesunde Menschenverstand, solche Patienten als Sterbende zu bezeichnen. Und in der Tat kann schwerlich von einem Sterbenden gesprochen werden, wenn man erlebt, wie PVS-Patienten unter einer gewissenhaften Pfl ege und einer ausreichenden Ernährung körperlich aufblühen und gedeihen. Kann man hier wirklich von Sterbensverlängerung sozusagen ad infinitum sprechen? Hier scheint ein Widerspruch vorzuliegen.
Wenn unter „Sterben“ das endgültige Erlöschen der Lebensfunktionen verstanden wird, so kann Sterbensverlängerung nur ein Hinauszögern dieses Prozesses bedeuten, nicht aber gleichsam eine Prozess-Umkehr (z. B. Gewichtszunahme), wie dies bei PVS-Patienten oft der Fall ist. Das gute Ansprechen auf die künstliche Ernährung bei einem PVS-Patienten könnte sozusagen ex iuvantibus ein Zeichen dafür sein, dass ein prinzipielles Bedürfnis nach Nahrung vorhanden ist, aber infolge der Bewusstlosigkeit weder vom Patienten noch vom Arzt im Sinne von Hunger und Durst registriert werden kann. Aus dieser Perspektive wären dann beim PVS-Patienten die oben angeführten Kriterien eines Sterbenden nicht erfüllt, sondern es liegt ein Grenzfall vor. Man kann jedenfalls bei einem PVS-Patienten nicht zweifelsfrei von einem Sterbenden sprechen.
Die Frage, inwieweit in solchen Fällen die künstliche Ernährung ärztlich verpfl ichtend ist, kann hier nicht erörtert werden. Für eine Behandlung würde der Grundsatz sprechen „in dubio pro vita“, d. h. im Falle des Zweifels sollte man sich für das Leben entscheiden. Hier kann eine Patientenverfügung sehr hilfreich sein, um den mutmaßlichen Willen des Patienten zu ergründen.
Grundsätzlich kann gesagt werden, dass eine Gehirnschädigung mit permanenter Bewusstlosigkeit wohl als die schwerste körperliche Schädigung angesehen werden muss, die ein Mensch erleiden kann. Sie führt ohne Eingriff von außen von sich aus unweigerlich zum Tod. Wenn der Mensch für den Fall einer solchen Situation, in dem der Mensch (nach menschlichem Ermessen) zu keiner sittlichen Tat mehr fähig ist, den Tod annimmt, verletzt er die Selbsterhaltungspfl icht nicht, weil sich der Mensch durch den Tod keiner ihm übertragenen Aufgabe mehr entzieht. Ein Gebot, diesen Zustand durch künstliche Ernährung im Sinne einer Selbsterhaltungspfl icht aufrechtzuerhalten, ist daher auch aus ethischer Perspektive schwer nachvollziehbar.
Zusammenfassung
Zusammenfassend kann gesagt werden:
1. Sterben ist ein Prozess, der aus dem Leben hervorgeht und mit innerer Notwendigkeit auf ein Ende zusteuert.
2. Wichtige äußere Kriterien des Sterbeprozesses sind die fehlende biologische Triebkraft des Patienten, Nahrung und Flüssigkeit aufzunehmen (Fehlen von Hunger und Durst) sowie fehlender Lebenswille.
3. Die Aufgabe des Arztes besteht darin, die biologischen Lebensvorgänge zu unterstützen. Er kann aber einen fehlenden immanenten Lebensantrieb von außen nicht ersetzen. Die medizinische Behandlung eines offensichtlich Sterbenden ist daher eine Zweckentfremdung im Sinne einer Sterbensverlängerung.
4. Es ist auch nicht Aufgabe des Arztes, ohne den ausdrücklichen Wunsch des Patienten Leben zu verlängern, wenn damit keine Linderung des Leidens verbunden ist. Ausschließliche Lebensverlängerung eines Schwerkranken als Selbstzweck ist Leidensverlängerung ohne Auftrag und daher kaum zu rechtfertigen.
5. Patienten, die keine Tendenz mehr zeigen, das Leben dauerhaft zu erhalten und sukzessive ihre Lebensprozesse einstellen, weil ihnen der innere Antrieb zur Lebenserhaltung (Selbsterhaltungsstreben) fehlt, müssen als Sterbende angesehen werden. Hilfreiche Anzeichen dafür sind der Verlust von Hunger oder Durst sowie ein fehlender Lebenswillen. Die künstliche Ernährung solcher Patienten ist daher, ebenso wie jede andere Art von Therapie, gleichbedeutend mit Sterbensverlängerung und kann daher nicht als ärztliche Verpfl ichtung gefordert werden.
6. PVS-Patienten stellen einen Sonderfall dar und können nicht mit Sicherheit als Sterbende bezeichnet werden. Künstliche Ernährung bei PVS-Patienten ist aber auch keine Heilbehandlung, weil die Krankheit als solche nicht beeinfl usst wird. Lebensverlängerung durch künstliche Ernährung bei PVS-Patienten sollte sich daher verstärkt am mutmaßlichen Willen der Patienten orientieren. Hier wäre eine Patientenverfügung besonders hilfreich.
7. Ärztliche Urteilsbildung ist immer mit einem letzten Unsicherheitsfaktor behaftet. Dieses Risiko kann nur durch Erfahrung und ein geschärftes Verantwortungsbewusstsein des Arztes minimiert werden. Hunger, Durst und Lebenswillen sind hilfreiche, aber nicht absolute Kriterien in diesem Entscheidungsprozess. Eine hundertprozentige Absicherung wäre freilich eine inhumane Flucht vor der ärztlichen Verantwortung. Sie kann auch durch Gesetze und Gerichtsentscheide nicht gewährleistet werden.
Referenzen
- Institute of Medical Ethics Working Party, Withdrawal of life – support from patients in a persistent vegetative state, Lancet (1991); 337: 96-98
- Schneiderman L. J., Jecker N. S., Jonsen A. R., Medical Futility: Its Meaning and Ethical Implications, Ann Intern Med (1990); 112: 949-954
- vgl. Schwarz M., Biologische Grundphänomene der Lebewesen, in: Bonelli J. (Hrsg.), Der Status des Hirntoten, Eine interdisziplinäre Analyse der Grenzen des Lebens, Springer Verlag, Wien, New York (1995), S. 3-14
- Callahan D., Setting limits: Medical Goals in an Aging Society, Georgetown University Press, New York (1995), Touchstone Books, New York (1988)
- Bonelli J., Jancuska M., Exsikkose im Alter, Wien Med Woschr (1984); 22: 487-493
- Waldhäusl W., Natürliches Sterben, künstliche Lebensverlägerung und Euthanasie, in: Bonelli J., Prat E. H. (Hrsg.), Leben – Sterben – Euthanasie?, Springer Verlag, Wien (2000), S. 113-123
Prim. Univ.-Prof. Dr. Johannes Bonelli, Imabe-Institut
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