Konsens. Therapiereduktion und Therapieverzicht
Zielgruppen
1. Patienten auf Normalstationen (d. h. außerhalb der Intensivstation, ICU), die aufgrund einer chronischen, nicht besserungsfähigen Erkrankung aufgenommen wurden und/oder nicht entlassbar erscheinen, sodass als Behandlungsziel weder Restitution, noch Lebensverlängerung und auch keine nachhaltige Stabilisierung des Zustandes, sondern ausschließlich eine Palliation gelten kann.
2. Die Patienten sind aufgrund ihrer weit fortgeschrittenen Erkrankung nicht selbst entscheidungsfähig, sodass über invasive und aufwändige Behandlungen nur unter Einbeziehung der Angehörigen, Vertrauten und/oder Sachwalter entschieden werden kann.
3. Hilfreich, mitunter entscheidend sind frühere Willenskundgebungen des Patienten, welche in einer letztwilligen Verfügung (Patientenverfügungsgesetz, PatVG, vom 8. Mai 2006, BGBl I 55/2006), einer dezidierten Absichtserklärung oder in dem geäußerten Wunsch bestehen können, „so nicht weiterleben zu wollen“.
4. Die Patienten sind nicht zur oralen Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme fähig und müssen künstlich ernährt werden, sei es durch konventionelle Magensonde, perkutane endogastrale (PEG-)Sonde oder über Cava-Katheter.
5. Wachkomapatienten sind von dieser Evaluation ausgeschlossen, weil bei ihnen eine spezielle, noch komplexere Problematik besteht.
Methoden und Definitionen
Experten auf dem Gebiet der Neurologie, Intensivmedizin, Hämatologie, Onkologie, Infektiologie und Palliativmedizin überdenken die ihnen geläufigen Therapiemöglichkeiten unter folgenden Gesichtspunkten:
1. Die Reduktion und/oder Absetzung einer Therapie gilt gleichwertig dem primären Therapieverzicht.
2. Es wird ausschließlich auf solcheTherapien Bezug genommen, die an eine ärztliche Indikation und Durchführung gebunden sind.
3. Unter die ärztlichen Handlungen fallen auch künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr (Artificial Nutrition-Hydration, ANH) beim schluckunfähigen Patienten.
4. Körperhygiene, Temperaturkontrolle, Schmerzlinderung, allgemeine Palliation und menschliche Zuwendung sind für Ärzte und Pflegepersonen gleich wichtige Interessen und Verpflichtungen und haben bis zum Tode des Patienten ungeschmälerte Bedeutung.
5. Entscheidungen über Therapieverzicht/-reduktion werden regelhaft gemeinsam im Team in Absprache mit den Angehörigen getroffen, doch liegt die Letztverantwortlichkeit beim jeweiligen leitenden Arzt.
Konkrete Entscheidungsgebiete:
Es wurden speziell Gebiete der Medizin und deren Diagnose- und Therapiemöglichkeiten von den jeweiligen Experten auf die Verhältnismäßigkeit ihres Einsatzes bei Patienten mit einer sehr eingeschränkten Lebenserwartung geprüft:
- Verzicht auf invasive Beatmung, Dialyse und ANH (nasogastrische, Cavakatheter,, PEG-Sonde)
- Einsatz von Blutprodukten
- Einsatz von Antiinfektiva
- Aspekte in der Onkologie respektive Palliativmedizin
- Neurologie: Verzicht auf Durchführung aufwändiger apparativ-technischer Diagnostik und deren Konsequenzen bei und nach ausgedehnter zerebraler Ischämie und intrazerebraler Blutung sowie bei schweren dementiellen Zustandsbildern
Voraussetzung bei der klinischen Beurteilung der Patienten ist, dass selbst unter Einsatz der üblichen Methoden die Lebenserwartung massiv eingeschränkt ist (Wochen), durch den Einsatz aber weder der Verlauf der Krankheit beeinflusst noch die subjektive Befindlichkeit der Patienten verbessert wird. Es wird speziell darauf Bedacht genommen, dass durch solcherart nutzlose Handlungen für den Patienten mehr Belastungen als Benefit resultieren können. Der Verzicht bzw. die Reduktion von Therapie (inkl. ANH) darf nicht aus einer Intention zu töten oder den Eintritt des Todes zu beschleunigen erwachsen, sondern aus dem alleinigen Streben, den Sterbeprozess nicht weiter zu behindern.
Klinische Empfehlungen, gestützt auf Evidence-based Medicine (EBM)
Die Beiträge der Autoren in der Projektgruppe1 stützen sich auf einschlägige Literatur, die einer Graduierung nach den Grundsätzen der EBM angelehnt ist. Letztere liefert seit den 1990er-Jahren eine Hierarchie der Sicherheit, mit welcher eine klinische Handlung empfohlen werden kann (in verkürzter Darstellung: A – basierend auf Metaanalysen randomisierter Studien, B – Metaanalysen nichtrandomisierter Studien, C – klinische Beobachtung und retrospektive Studien, D – Expertenmeinung).
Die Neurologie kann heute zwar mit Hilfe von aufwändigen bildgebenden Verfahren und funktionellen Untersuchungen zur Analyse der morphologischen Veränderungen und regionalen Funktion des zentralen Nervensystems beitragen, die hilft jedoch für die prognostische Beurteilung nur bedingt weiter. Vielmehr ist es die umfassende (Außen-)Anamnese und insbesondere die wiederholte Erhebung des neurologischen Befundes zur klinischen Verlaufsbeobachtung, die bei der Entscheidungsfindung zur Therapiereduktion weiterhelfen kann: Bei ausgedehnter zerebraler Ischämie und intrazerebraler Blutung ist bei erwiesener Chronizität und Irreversibilität eine temporäre künstliche Ernährung indiziert, deren Effizienz aber nach einer definierten Zeit (nach 2 bis 4 Wochen) re-evaluiert wird, auch im Hinblick auf den Behandlungsabbruch (inkl. ANH). In der Endphase von schweren Demenzen fehlt der Nachweis auf einen objektivierbaren Nutzen einer ANH (Kriterien: Reversibilität einer Mangelernährung, Verbesserung des funktionellen Status, Lebensverlängerung, Versuch der Linderung von Hunger- u./o. Durstgefühl, wenn dieses nicht mehr existiert), sodass auch hier der Therapieabbruch in Frage kommt (Empfehlung B).
Die Vertreter der Intensivmedizin unterziehen die Methoden der extrakorporalen, organstützenden Therapie (invasive Beatmung, Hämodialyse), aber auch die Methoden der künstlichen Ernährung (ANH mittels Magensonde, PEG-Sonde, Cava-Katheter) einer kritischen Prüfung. Sie kommen zu dem Schluss, dass der Verzicht/Abbruch dieser Therapien (inkl. ANH) bei speziell gelagerten Fällen zur reinen Lebensverlängerung diene, subjektive Beschwerden und Belastungen hervorrufe, die den möglichen objektiven Benefit (Stabilisierung von Atmung, Kreislauf und Ernährungszustand) relativieren und den bereits eingeleiteten natürlichen Sterbeprozess lediglich behindern (Empfehlung A/B).
Der Einsatz von Blutprodukten ist differenziert zu betrachten: Erythrocytenkonserven können – falls eine subjektive Wahrnehmung erhalten ist – bei anämischen Patienten zu einer Besserung des Befindens führen, während alle anderen Methoden der Zellsubstitution (Thrombocyten, Granulocyten) und des Plasmas (fresh frozen plasma) keinen Platz in der Therapie am Lebensende haben (Empfehlung A).
Onkologische Patienten werden oft modellhaft zur Situation eines Menschen am Lebensende zitiert, doch unterscheidet sich die Strategie nicht von jener bei anderen Zuständen mit sehr begrenzter Lebenserwartung. Bei Patienten in der Endphase einer malignen Erkrankung steht auch die Palliativmedizin der ANH sehr kritisch gegenüber (Empfehlung B/C). Zwar hat die frühzeitige parenterale ANH einen Effekt auf die Überlebenszeit und auch Lebensqualität bei Patienten, bei denen durch die Lage des Tumors oder durch die Anorexie eine enterale Ernährung nicht möglich ist. Über die terminale Lebensphase existiert hingegen nur wenig Literatur, wenngleich hier Richtlinien (European Association of Palliative Care) existieren, die eine Übertherapie und zusätzliche Befindensstörung bei todgeweihten Patienten vermeiden helfen (Empfehlung C/D).
Antiinfektiva werden differenziert beurteilt, wenn bei schweren bakteriellen Infekten ihr Einsatz fiebersenkend, damit kreislaufstützend und allgemein lindernd auf das Befinden des Patienten einwirkt (Empfehlung B/C). Deshalb sollten Antiinfektiva/Antibiotika Bestandteil der Behandlung in der Endphase bleiben, sogar wenn die bilanzierte ANH reduziert worden ist.
Der Rückzug aus der ärztlichen Behandlung muss schrittweise erfolgen, wobei jeder Schritt (Reduktion, Abbruch oder primärer Verzicht) unter Einbeziehung aller Beobachtungen und Messungen, unter Wahrung der unverwechselbaren Würde und Person des Patienten getroffen wird. Dieser Rückzug der Therapie macht auch bei ANH nicht halt. Die Entscheidungsfindung muss mit dem Prinzip der Klugheit übereinstimmen, welche die sachkompetente Benevolenz und das nil nocere zu verbinden weiß.
Die Projektgruppe empfiehlt folgende obligate Handlungen, wenn sich das Problem Therapieverzicht/-reduktion am Lebensende stellt:
1. Subjektive Beurteilung:
- Beobachtungen und Hinweise (mit eingeschränkter Objektivierbarkeit) hinsichtlich Durst, Hunger, Schmerz, Übelkeit
- Hinweise und Zeichen auf abhanden gekommene Grundbedürfnisse („Nicht-mehr-Wollen“)
2. Objektive Beurteilung:
Neurologische Untersuchung, Kreislaufversagen, progredientes Atmungsversagen, irreversibles Nierenversagen bzw. Multiorganversagen. Erschwerend: maligne Erkrankung oder multiple,schwere Comorbidität, Endstadium von Demenzen oder irreversible ausgedehnte zerebrale Ischämie und intrazerebrale Blutung.
3. Zusätzliche Faktoren (fallbezogen):
Marasmus, Decubitus (hochgradig), Kontrakturen, ferner: eigene schriftliche oder bezeugte mündliche Verfügung, Einschätzung des mutmaßlichen Willens des Patienten (frühere Äußerungen, Lebenseinstellung, Religiosität, Temperament etc.) und die Zeugnisse von vertrauten Personen und Verwandten.
Individuelle Evaluierung der Intentionalität und Verhältnismäßigkeit von zu setzenden oder zu unterlassenden Maßnahmen in Bezug auf:
- neurologische Untersuchung, Intensivmedizin und Hämodialyse, Blutderivate, Antibiotika, schließlich ANH (Magensonde, PEG-Sonde, Cava-Katheter, subkutane Flüssigkeit)
- Aussetzung von Reanimation („Do not resuscitate“ DNR), Beatmung („No-ICU“), invasiver Diagnostik (interventionelle Endoskopie oder Radiologie), chirurgischer Therapie (mit oder ohne Eröffnung von Körperhöhlen)
- Evaluierung all dieser Punkte durch Experten, basierend auf relevanter wissenschaftlicher Literatur.
Referenzen
- Watzke H., Therapiereduktion und Therapieverzicht der Artificial Nutricion Hydration bei onkologischen Patienten, Imago Hominis (2006); 13: 277-281
Janata O., Stellenwert der Antiinfektiva in der palliativen Pflege, Imago Hominis (2006); 13: 283-287
Voller B., Auff E., Therapierückzug, Therapieverzicht bei schweren zerebrovaskulären Erkrankungen (Ischämie, Blutung), Imago Hominis (2006); 13: 289-293
Kristoferitsch W., Künstliche Ernährung/Hydratation: Reduktion/Verzicht in der Endphase schwerer Demenzen, Imago Hominis (2006); 13: 295-299
Wagner T., Projekt Therapiereduktion bei Schwerstkranken. Verwendung von Blutprodukten, Imago Hominis (2006); 13: 301-304
Lenz K., Locker G. J., Clodi M., Therapievorenthalt und Therapiereduktion bei invasiven Maßnahmen und künstliche Ernährung bei schwerstkranken Patienten, Imago Hominis (2006); 13: 305-309
Prat E. H., Therapiereduktion aus ethischer Sicht. Der besondere Fall der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, Imago Hominis (2006); 13: 311-317