Editorial

Imago Hominis (2006); 13(3): 177-178

„Placebo“ hat eine interessante Tradition: „Ich werde Gefallen finden“ kommt zunächst im Psalm 116 vor („placebo Domino in regione vivorum“), der schon im Mittelalter gerne bei Begräbnissen gesungen wurde. Die dafür angeheuerten Sänger wurden im Laufe der Zeit (12. bis 14. Jahrhundert) als „Placebo-Sänger“ bezeichnet: Sie standen damit für eine (vage) Verheißung, die sozusagen für Geld zu haben war. Im medizinischen Sprachgebrauch taucht das Wort Anfang des 19. Jahrhunderts auf (Verschreibung mehr aus Gefälligkeit als zum therapeutischen Nutzen).

Placebo steht heute für „Scheinmedikament“, welches zwecks Negativkontrolle bei der Testung eines neuen Wirkprinzips diesem entgegengestellt wird (meist in pharmakologischen Prüfungen). Das Placebo sollte also nicht nur wirkungslos, sondern auch nebenwirkungsfrei sein. Siehe da: beides konnte nicht aufrechterhalten werden, es musste sogar ein „Nocebo" („Ich werde schaden“) definiert werden: Ein Scheinmedikament, bei dem der subjektive Schaden überwiegt.

Einerseits sollte das Placebo in der Doppelblindstudie als die wirkungslose „Negativkontrolle“ fungieren. Doch stellte sich bald heraus, dass es eine – gelegentlich sensationelle – Wirkung hat und das angeblich so tolle neue Verum-Präparat matt aussehen lässt. Dieser Problematik widmen sich in dieser Ausgabe von Imago Hominis der klinische Hämato-Onkologe Klaus Lechner und der klinische Pharmakologe Markus Müller.

Andrerseits kommt es vor, dass so manches zugelassene und traditionsreiche Medikament der Unwirksamkeit verdächtigt wird. Konsequenz: Es wird von der Liste der vom Kostenträger bewilligten Präparate gestrichen (siehe „Rote Liste“ in der deutschen Pharmakopoe), sehr zum Missfallen jener Patienten und Ärzte, die einen guten (subjektiven) Eindruck von der Wirksamkeit haben und die von der mangelnden Nachweisbarkeit derselben (Objektivierung) nicht beeindruckt sind. Oder war es dann doch der „gute Arzt“, der mit großer Überzeugung das Medikament (und gerade dieses) verordnet hat (Effekt der „Droge Arzt“)? Mit dieser Thematik setzt sich Notburga Auner in ihrem Beitrag auseinander.

Und noch etwas: In der klinischen Praxis geschieht es nämlich hin und wieder, dass sich das Schicksal eines angeblich unwirksamen Medikamentes wendet, weil ihm eine andere als die ursprünglich postulierte Wirkung nachgewiesen werden kann. So geschehen bei einem „schlechten“ schleimlösenden Präparat, das in einen „guten“ Entzündungshemmer umfunktioniert werden konnte (N-Acetyl-L-Zystein). Dies soll uns bewusst machen, dass der Nachweis der Wirksamkeit (und auch der Nebenwirkungen) von der gewählten Untersuchungsmethode abhängig sein kann. Soll man also Unwirksames weiterempfehlen, wenn es nur subjektiven Nutzen bringt? Soll der Arzt dem Drängen der Patienten nachgeben und ein – nach des Arztes Überzeugung – unwirksames Medikament verschreiben? Was kann man dem Arzt in der klinischen Praxis dabei raten?

An diesen Punkten angelangt muss auch die Problematik der alternativen Heilmethoden in den Blick genommen werden. An ihnen, nämlich der Homöopathie, wie auch den Bachblüten, der Anthroposophie, den Edelsteinen, den Erdstrahlen etc. fällt auf, dass das postulierte Wirkprinzip eher den Geisteswissenschaften (Mythologie, Semiotik etc.) als dem naturwissenschaftlichen Ansatz zugeordnet werden muss. Dies wird von den Anwendern durch problematische Erklärungen zu kompensieren versucht, die sich ihrerseits aber aus dem Fundus z. B. der Physik bedienen. Gegen solche Übergriffe argumentiert der theoretische Physiker W. Kummer in seinem Beitrag.

Die Homöopathie als die wohl zur Zeit traditionsreichste und populärste Methode der Alternativmedizin nimmt in dieser Ausgabe einen größeren Platz ein, weil sie sich seit eh und je die Frage nach der Placebowirkung gefallen lassen muss. Dagegen spricht sich der Intensivmediziner und Vertreter dieser Methode Michael Frass aus, für die Placebowirkung plädiert der Doyen der klinischen Pharmakologie Gerhart Hitzenberger.

Auch scheinen sich Proponenten diverser alternativer Methoden auf eine metaphysische Argumentation einzulassen, um mit Glaubenssatz und Wahrheitsanspruch den hypothetischen Ursprung und die Effizienz ihrer Methode zu stützen. Diesem Phänomen geht Clemens Pilar in seinem Beitrag nach, wobei er auch auf die (gerade 200 Jahre alt gewordene) Homöopathie eingeht. Diese seine Wahl erfolgte im Hinblick auf ausgedehnte Schriften neuester Zeit, in denen der religiöse Aspekt in den Lehren Hahnemanns angesprochen und sogar weitergeführt worden ist. Die Formulierungen Pilars lassen zwar seine eigene kritische Haltung in diesem Punkt durchblicken, doch gelingt es ihm, eine einseitige Abwertung zu vermeiden und dem Leser die Beurteilung zu überlassen.

Was rät hier die Bioethik? Wie soll es weitergehen mit den „echten“, vermeintlichen und geleugneten Placebos?

1. Im Zeitalter der Patientenautonomie darf der Patient zusätzlich zur Schulmedizin eine ergänzende (komplementäre) Methode in Anspruch nehmen, solange kein „Nocebo“ daraus wird.

2. Die Ärztin/der Arzt jedweder Ausrichtung muss sich elementare anthropophile Erziehungsgüter bewahren wie Takt, Achtung vor der Würde der Person sowie jene Tugenden, die zur Praxis des „bene facere" und „nil nocere" befähigen, auch wenn es um ein vom Patienten eingefordertes Placebo geht.

3. Die Schulmedizin darf von der Alternativmedizin lernen, wie die Asymmetrie zwischen körperlichen und seelischen Bedürfnissen zu mildern wäre, anstatt die immateriellen Sehnsüchte der Ratsuchenden einem neuen medizinischen Materialismus (Mystizismus mit fraglicher Wirksamkeit) in die Hände zu spielen, gegen den gerade die Alternativmedizin nicht immun zu sein scheint.

4. Alle praktizierenden Ärztinnen und Ärzte müssen sich der kontinuierlichen medizinischen Fortbildung (CME) verpflichtet fühlen, damit die „Droge Arzt" nicht zum Nocebo wird. 

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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