Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2014); 21(3): 195-198
Enrique H. Prat

Situationen, wie im vorliegenden Fall beschrieben, stellen eine große Herausforderung für Eltern, Ärzte und das Pflegepersonal dar. Diese Herausforderung kann nur gemeistert werden, wenn die Kommunikation zwischen diesen drei Personenkreisen während des ganzen Prozesses sehr gut funktioniert.

Für die Eltern ist es verständlicherweise sehr schwer, dieses völlig unerwartete Schicksal anzunehmen. In der Regel haben sie sich lange auf ein gesundes Kind gefreut und die Entwicklung des Kindes im Mutterleib liebevoll und opferbereit begleitet. Damit haben sie bereits eine Beziehung zum Ungeborenen aufgebaut. Plötzlich bekommen sie eine Hiobsbotschaft – und alles wird mit einem Schlag anders. Die Eltern müssen auf der Grundlage der übermittelten Nachricht des behandelnden Teams vor eine schwierige Entscheidung gestellt: Wie soll weiter vorgegangen werden?

In diesem Fall gibt es zwei Patienten: die Mutter und das Kind. Die Entscheidung treffen aber nur die Mutter bzw. die Eltern. Dabei sollen sie das Wohl der Mutter und des Kindes im Blick haben, wobei Interessenskonflikte in solchen Fällen nicht auszuschließen sind. Der weitere Verlauf des Prozesses wird stark von der Qualität der Kommunikation mit dem behandelnden Arzt abhängen. Während die Eltern emotional angespannt sind, Erwartungen und Fragen haben, wird der Arzt naturgemäß den Fall vor allem von der sachlichen Seite wahrnehmen. Ihm obliegt es, eine Brücke zwischen der emotionalen und der Sachebene zu schlagen, damit die Eltern trotz seelischer Schmerzen die ethisch richtige Entscheidung treffen können.

Aus ärztlicher Sicht wird ein Kind nach einer Diagnose von Trisomie 18 mit Herzfehler und zahlreichen Missbildungen im Schädel, Gehirn, Gesicht und in den Extremitäten statistisch gesehen zu über 90% entweder im Mutterleib oder wenige Tage oder Wochen nach der Geburt sterben. Die restlichen 10% können etwas länger leben, aber nicht viel. Wunder sind nie ausgeschlossen.

Wie in der Fallbeschreibung erläutert wird, stehen in der medizinischen Versorgung grundsätzlich drei Alternativen zur Verfügung: die „Comfort Care“, die „Comfort+“-Variante und die invasive Behandlung inklusive einer oder mehrerer Herzoperationen. Die letztere wird in der Literatur eher nicht empfohlen, weil sie im Normalfall als therapeutischer Übereifer bewertet wird. Der Abbruch der Schwangerschaft darf medizinisch nicht als Alternative genannt werden, weil es an sich keine Handlung ist, die mit der Zielsetzung der Medizin – heilen, lindern und trösten – vereinbar wäre. Darauf kommen wir später zurück.

Die ethische Frage ist nun, welches das Kriterium ist, um sich für eine Comfort-Care-Variante zu entscheiden und damit auf Maßnahmen zur Lebensverlängerung zu verzichten. Genügt es zu wissen, dass nur 10% der Betroffenen einer Trisomie 18 das erste Jahr überleben? Wie klein müssen Überlebenschancen sein, um auf eine lebensverlängernde Therapie zu verzichten? Für das Urteil des Arztes ist die statistische Häufigkeit ein Richtwert, aber nicht das Entscheidungskriterium. Der Arzt steht nicht vor einem namens- und gesichtslosen statistischen Durchschnittsmenschen, sondern vor einer Person, d. h. einem Individuum, das in seiner Einmaligkeit auch vom Durchschnitt stark abweichen kann. Dem Patienten wird vor allem geholfen werden, wenn der behandelnde Arzt die individuellen Ausprägungen der Krankheit in ihm erkennt und allen Besonderheiten in seine Entscheidung miteinbeziehen kann.

Dazu muss der Arzt das Kriterium der Verhältnismäßigkeit1 anwenden. Zuerst erfolgt die Einschätzung, inwieweit eine Therapie hilfreich oder eventuell schädlich sein kann. Hier müssen der voraussichtliche Nutzen und Schaden gegeneinander abgewogen werden, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob der Nutzen – eine zu erwartende Lebensverlängerung – in einem sinnvollen Verhältnis zur Belastung – zu schädlichen Nebenwirkungen – steht. In der Terminalphase kann oft eine kurze mögliche Lebensverlängerung nur mit einer starken Verschlechterung der Lebensqualität erkauft werden. Moralisch gesehen ist eine nutzlose und belastende Maßnahme nicht vertretbar. Allerdings kann der Arzt nur auf Grund seiner therapeutischen Erfahrung diese Abwägung vornehmen. Eine sehr belastende und die Lebensqualität stark vermindernde medizinische Maßnahme, die bestenfalls nur eine kurze Lebensverlängerung bringt, wird in der Regel als eine rein leidensverlängernde Handlung bewertet werden. Sie wird für den Arzt nicht nur nicht geboten, sondern rechtfertigungsbedürftig sein.

Nur der Arzt kann dies kompetent abwägen. Seine Aufgabe ist es, diese Abwägung den Eltern, die die letzte Entscheidung treffen müssen, einfühlsam zu kommunizieren. Er wird dabei berücksichtigen müssen, dass Eltern, die mehr oder weniger von der ersten überraschenden Botschaft traumatisiert sind, ganz verschieden reagieren können. Manche werden die Situation bewältigen wollen, in dem sie so rasch wie möglich die Schwangerschaft abbrechen, in der Hoffnung, das Ganze bald vergessen zu können, ja sogar dieses Kapitel komplett aus ihrer Biographie auszulöschen. Das wirft viele Fragen auf: Darf man so handeln? Ist das wirklich gerecht? Wird hier das Wohl des Kindes angestrebt? Wie steht es mit der Achtung der Würde des Ungeborenen? Darf der Arzt da mittun?

Diese Option steht im vorliegenden Fall nicht zur Debatte.

In der Praxis wird man auch stark emotional befangene Eltern finden, die alles daran setzen wollen, um das Leben des Kindes zu retten. Sie wollen ganz genau wissen: Gibt es noch Chancen? Wie viele Tage? Sie werden vielleicht eine zweite Meinung einholen. Diese Eltern geben nicht auf, ihre Hoffnung lebt: Gibt es eine, wenn auch nur ganz kleine Chance für das Kind zu überleben oder halbwegs gesund zu werden? Wenn es sie gibt, sind sie bereit, alles für ihr Kind zu versuchen, auch wenn die Chance nur sehr, sehr gering ist. Der Wunsch, nicht aufzugeben, ist vor allem emotional begründet, ja kann auch ein Akt der Verzweiflung angesichts des Unabwendbaren sein. Die Eltern wollen so ihre Liebe zum Kind zeigen, indem sie nichts unversucht lassen, um es am Leben zu erhalten. Kein Opfer ist zu groß, selbst wenn es auch nur eine minimale Lebenschance gibt. Oft sind sie überzeugt, dass das Kind zu der ganz kleinen Gruppe gehören wird, die statistisch überleben wird. Sie geben nicht auf. Einiges in der Beschreibung dieses Falles spricht dafür, dass die Eltern von M. zu dieser Kategorie gehören, und keine Anstrengung scheuen würden, um das Kind zu retten, wenn es möglich wäre.

Eine gute Kommunikation als Schlüsselfaktor

Offensichtlich ist im vorliegenden Fall die Kommunikation sowohl innerhalb des Behandlungsteams als auch zwischen Personal und Eltern trotz der angespannten Situation gut gelungen. Zunächst die interdisziplinäre Kommunikation zwischen Gynäkologie und Neonatologe: „Unmittelbar nach der Diagnose in der 23. SSW wurde auch Kontakt mit dem Kinderarzt aufgenommen und …“. Aus der Fallbeschreibung erfährt man eigentlich nicht viel über den Kommunikationsprozess zwischen Eltern und dem behandelnden Team. Einzig das Ergebnis wird mitgeteilt: Die Eltern haben sich für die Geburt des Kindes, im Wesentlichen für die Comfort-Care-Variante, nach Empfehlung der Ärzte entschieden. Sie haben sogar eine spontane Geburt und keinen Kaiserschnitt vereinbart, was wegen der geringeren Risiken auch in der Literatur als Option erster Wahl betrachtet wird.2 Schließlich musste aber aus medizinischer Indikation (Beckenlage) die Geburt per sectionem durchgeführt werden. Die Kommunikation hat somit zu den optimalen Ergebnissen geführt.

Den bekannten vier Prinzipien der Bioethik3 – Autonomie, Fürsorge, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit – wurde Genüge getan. Die Eltern haben nach entsprechender Aufklärung ihre Entscheidung getroffen. Die richtige Balance zwischen Fürsorge und Nicht-Schaden wurde durch die Anwendung des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit erreicht. Das Prinzip Gerechtigkeit fordert in diesem Fall besonders die Achtung der Würde von M. Die Würde des Embryos und des Neugeborenen wurde beachtet. Die Einbindung der Mutter bei der Pflege des Neugeborenen scheint hier auch sehr wichtig.

Die Tötung des Kindes ist ethisch unzulässig

Es soll nun die angekündigte Frage über die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs als medizinische Alternative kurz angerissen werden. Abtreibung ist an sich in Österreich laut Strafgesetzbuch nach wie vor ein Delikt, allerdings unter gewissen Bedingungen straffrei. Die Juristen debattieren seit Jahrzehnten darüber, was ein straffreies Delikt überhaupt sei. Aus juristischer Sicht wird häufig die Ansicht vertreten, dass einem Arzt verwehrt sein sollte, ein Delikt als Behandlungsalternative für seinen Patienten anzubieten. Dies scheint auch ganz logisch und moralisch geboten. Auf der anderen Seite gibt es bereits Judikatur darüber, dass beim ärztlichen Aufklärungsgespräch diese Option (Delikt) als „Angebot“ zur Sprache kommen sollte. Dies zu unterlassen, wäre strafbar.

Aus moralischer Perspektive hingegen ist jedoch klar, dass ein Schwangerschaftsabbruch, also die direkt beabsichtigte Tötung des Kindes, niemals ein medizinisches Angebot sein kann. Wenn die Frage danach dennoch zur Sprache kommt, sollte die Information umfassend sein, also Alternativen aufzeigen – und damit über das Ansinnen einer Abtreibung als „Problemlösung“ hinweghelfen. Es gibt inzwischen eindrucksvolle Beispiele aus Selbsthilfe-Gruppen von Eltern und Internet-Foren, in denen sich Betroffene austauschen (als Beispiel sei hier https://www.weitertragen-forum.net/ genannt) und Mut machen, das Baby auszutragen. Die kurzen Momente, Stunden, Tage, die Mutter und Vater mit ihrem dem Tod geweihten Kind verbringen durften, werden als großer Trost empfunden: das Kind kennenlernen zu dürfen, zu sehen, in den Armen zu halten, … all das seien Momente, so der Tenor der Tausenden Berichte in diesem Blog, für die Eltern sehr dankbar sind. Sie haben die Chance, noch für ihr Kind dagewesen zu sein und sich auch persönlich verabschieden zu dürfen. Das bietet eine wichtige psychologische Stütze in der Verarbeitung dieses schweren Schicksals. Interessant ist an diesen Berichten, dass hier offenbar sehr bewusste Entscheidungen getroffen werden mussten, das Kind zu behalten trotz Diagnose und auch gegen den Rat eines Arztes. Das stimmt sehr nachdenklich.

In der Medizinethik gilt ein wichtiges Prinzip, das in der Bioethik kaum erwähnt wird, nämlich die Achtung der Menschenwürde. Im vorliegenden Fall muss hervorgehoben werden, dass die Eltern dieses Prinzip hochgehalten haben. M. war von Anfang an „ihr Kind“. Sie haben für das Wohl des Kindes in jeder Beziehung gesorgt: Sie haben die beste Art der Geburt gewählt, sie haben der schonendsten Therapie inklusive Schmerzbehandlung zugestimmt, das Kind wurde getauft, die Mutter wurde voll in die Pflege eingebunden, sodass „sich eine sehr emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind“ entwickelte. Eine weitere unparteiische Beobachtung spricht Bände: „Auch wenn die gesamte Situation alles andere als einfach gewesen ist, waren für die Mutter die knappen zwei Lebenswochen von M., in denen sie ihr Kind kennenlernen konnte, von großer Bedeutung“. Das Kind wurde als echtes Familienmitglied behandelt und geliebt. Es ist auch als Mitglied der Familie gestorben, wurde bis zu seinem Tode von den Eltern begleitet. Dies bedeutet zunächst selbstverständlich einen großen seelischen Schmerz und eine tiefe Trauer, wie immer, wenn ein naher Angehöriger, noch dazu ein Kind stirbt. Aber in solchen Fällen gibt es kein echtes dauerhaftes Trauma. Die Eltern haben sich nichts zu Schulden kommen lassen, im Gegenteil, sie haben alles getan, was nur möglich war.

Die Nachricht, dass ein behindertes oder nicht lebensfähiges Kind zur Welt kommen wird, löst bei Eltern Tage, Wochen voller Emotionen aus: Angst, Trauer, Wut, Hoffnung und immer wieder stellt sich die Frage einer Abtreibung.

In so einer Situation die Tötung des Kindes als „Lösung“ anzubieten, ist aus ethischer Sicht ein schwerer Verstoß gegen die Gerechtigkeit, die man dem Kind schuldet. Eltern und vor allem Mütter sind in einer hochvulnerablen Phase, diese Option setzt sie unter extremen Druck. Dabei wird ausgeblendet, dass hier vermeintlich davon ausgegangen wird, dass durch die Tötung des Kindes das Leid vermindert und das Schicksal quasi gebändigt werden könnte („Es war nicht Schicksal, sondern wir haben entschieden“). In der Folge setzen starke Verdrängungsmechanismen ein. Das kann für einige Zeit funktionieren, dann aber – wie die wissenschaftliche Literatur zeigt4 – holen die Betroffenen Schuldgefühle ein, manchmal sogar noch im hohen Alter. Dieses Trauma ist dann nur mehr schwer zu bewältigen.

Die Tötung des kranken Kindes ist kein Weg der Menschlichkeit, d. h. es ist kein vernünftiger Weg, weil ein schwerwiegender Verstoß gegen die Gerechtigkeit schuldhaft vorliegt, der nicht mehr zurückgenommen, d. h. nicht wieder gut gemacht werden kann. Da bietet die von Platon (Gorgias) Sokrates in den Mund gelegte Maxime „es ist besser Unrecht erleiden als Unrecht tun“ eine ethische Orientierung. Natürlich ist ein schweres Schicksal nichts Unrechtes, trotzdem wird es meistens als solches empfunden, indem sich das Opfer ungerecht behandelt fühlt und in seiner Verzweiflung fragt: „Warum passiert das gerade mir?“

Ein schweres Schicksal anzunehmen und das Beste daraus zu machen, ist nicht leicht, aber möglich. Dazu ist ethische Charakterexzellenz notwendig, zu der jeder Mensch prinzipiell fähig ist. Aber auch das behandelnde Team muss dazu seinen Beitrag leisten, indem es die dritte Dimension des ärztlichen Handelns besonders pflegt: zu trösten. Jedes menschliche Leben ist ein Geschenk, egal wie kurz, egal wie zerbrechlich. Dies erfahren betroffene Eltern besonders intensiv. Dass diese Erfahrung Reifungsschritte in der eigenen Persönlichkeit ermöglicht, zeigen nicht zuletzt auch die inzwischen zahlreichen Zeugnisse.

Referenzen

  1. Prat E. H., Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium für die Entscheidung über einen Behandlungsabbruch, Imago Hominis (1999); 6(1): 11-31
  2. Boss R. D. et al., Trisomy 18 and Complex Congenital Heart Disease: Seeking the Threshold Benefit, Pediatrics (2013); 132: 161
  3. Beauchamp T. L., Childress J. F., Principles of Biomedical Ethics, Oxford University Press (2008)
  4. Fergusson D. M., Horwood L. J., Ridder E. M., Abortion in young women and subsequent mental health, Journal of Child Psychology and Psychiatry (2006); 47(1): 16-24; vgl. Studie: Abtreibung begünstigt Entstehung von Depressionen, IMABE-Newsletter 2006, http://www.imabe.org/index.php?id=159; vgl. Abortion Causes Mental Disorders: New Zealand Study May Require Doctors to Do Fewer Abortions, 9. Februar 2006, afterabortion.org/2006/90-of-abortions-may-no-longer-be-legal-in-britian-and-new-zealand/; vgl. Studies Showing Emotional Problems Not Relevant to American Psychological Association’s Pro-Choice Advocacy, 15. Februar 2006, afterabortion.org/2006/evidence-doesnt-matter-apa-spokesperson-says-of-abortion-complications/; vgl. Müller M. M., Das Post Abortion Syndrom, www.kath-info.de/pas.html

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Enrique H. Prat, IMABE
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