Editorial

Susanne Kummer

Die Sprache des Schmerzes verstehen heißt, den leidenden Menschen als Mensch zu verstehen, in seiner Not, in seinen Lebensbezügen, in seinen Ängsten und auch in seinen Möglichkeiten. Viele Schmerzpatienten haben oft eine jahrelange Odyssee hinter sich. Sie haben den Hausarzt aufgesucht, waren bei diversen Fachärzten, haben ihren Schmerz mit Tabletten oder Spritzen bekämpft, sich zum Teil mehrfach operieren lassen. Und immer haben sie gehofft, dass der nächste Arzt eine Art Wundermittel findet, um ihre Schmerzen wegzunehmen – doch dieses Wunder ist nie eingetreten. Damit beginnt häufig auch ein fataler Kreislauf: Die Erwartung, dass der Schmerz immer wieder kommt, erzeugt Angst, die den Schmerz verstärkt - bis hin zu Depression und sozialer Isolation. Die Patienten fürchten sich davor, in eine Psychoecke geschoben zu werden, zumal gerade beim chronischen Schmerz keine klare körperliche Ursache dingfest gemacht werden kann.

Es scheint, dass die Illusion der medizinischen Machbarkeit, wonach jeder Schmerz grundsätzlich immer behebbar und kontrollierbar sei, immer noch wirkmächtig ist. Chronische Schmerzpatienten verstoßen gegen dieses Diktat der Machbarkeit. Hinter einer wachsenden Medikalisierung hat das Leiden am Schmerz lautlos zugenommen.

Häufig sind Schmerzen auch Chiffre für viele andere Leidenssituationen, Symptom für Stress, Überforderung oder eine Sinnkrise. Wird dies im ärztlichen Gespräch nicht deutlich herausgearbeitet und das vordergründige dargebotene Schmerzsymptom bloß pharmakologisch zu beherrschen versucht, führt dies auch zur Medikalisierung sozialer Problemlagen.

Dieser Gefahr muss man sich umso bewusster werden, als der chronische Schmerz ein weit verbreitetes Problem in der Bevölkerung ist. Insgesamt sind rund 1,7 Millionen Österreichern davon betroffen. Zu den häufigsten Arten von chronischen Schmerzen zählen Rückenschmerzen, gefolgt von Kopfschmerzen und neuropathischen Schmerzen. Auch Schmerzen, deren Ursache im Seelischen liegt (psychogene Schmerzen), können zu dauerhaft chronischen Schmerzen führen. Starke chronische Schmerzen beeinträchtigen nicht nur das private Leben, sondern können im schlimmsten Fall auch zum kompletten Rückzug aus dem Erwerbsleben zwingen. 33 Prozent der chronischen Schmerzpatienten sind berufsunfähig, 21 Prozent werden in die Frühpension entlassen. Insgesamt werden die in Österreich jährlich durch chronische Schmerzen verursachten gesamtwirtschaftlichen Kosten auf 1,4 bis 1,8 Milliarden Euro geschätzt.

Diese Zahlen stimmen nachdenklich. Die Sprache des Schmerzes verstehen, heißt zunächst genau hinzuschauen und hinzuhören, was Schmerz mit uns macht. Der Schmerz wirft zurück, er engt ein. Im Schmerz erfährt man immer eine Art von Kontrollverlust über sich. Man funktioniert plötzlich nicht mehr – und das in einer Welt, wo erwartet wird, dass jeder grundsätzlich zu funktionieren hat. Diese Erfahrung von Grenze trifft den Patienten, sie trifft aber auch den Arzt oder Therapeuten. Denn die Erwartungshaltung vonseiten der Patienten ist hoch: Man will durch die Therapie den Schmerz „loszuwerden“, und zwar möglichst rasch und effizient, durch Tabletten, Spritzen oder eine Operation.

Ärzte wollen helfen, sind aber auch unsicher, was nun wirklich helfen könnte, also greift man unter Zeitdruck eher zum Altbekannten und erfüllt dabei auch die Erwartungen des Patienten: Studien zeigen, dass Patienten zufriedener sind und sich besser aufgehoben fühlen, wenn sie zu einem Röntgen geschickt werden. Begünstigt wird diese Haltung durch die Anreize im Gesundheitssystem: Ein Rezept schreiben geht schnell, diagnostische Verfahren oder Operationen werden finanziell abgegolten, Zeit und Gespräch, die der Arzt dem Patienten widmet, sind ein blinder Fleck in der Abrechnung. Zeit als Qualitätsfaktor ist im beschleunigten Gesundheitssystem nicht vorgesehen.

Die Sprache des Schmerzes verstehen, heißt zu lernen, mit Grenzen zu leben. Die Errungenschaften der Schmerzmedizin sind beachtlich, das Spektrum der therapeutischen Möglichkeiten breitgefächert, die Erfolge lassen sich zeigen, beispielsweise in der Behandlung des Akutschmerzes. Unübersehbar sind aber auch die Stagnation in der Therapie chronischer Schmerzen, der teilweise unkritische Einsatz invasiver Maßnahmen und häufig das Fehlen der geforderten Interdisziplinarität.

Das birgt eine Chance: für den Patienten, für seine Umgebung und die Zukunft des Gesundheitswesens.

Das Leiden chronischer Schmerzpatienten wird stark von der Psyche mitbestimmt, von der Art und Weise, wie sie mit dem Schmerz umgehen und sich mit ihm arrangiert haben. Eine Therapie im Sinne des biopsychosozialen Ansatzes hilft Patienten, ihre Haltung und Gewohnheiten zum Schmerz zu verändern, indem sie versuchen, von der Fixierung auf das Nicht-Können wegzukommen, hin zu einem Erkennen und aktiven Einsetzen der eigenen Ressourcen.

In der Schmerzbewältigung spielen Familie und soziales Umfeld eine große Rolle: Patienten sind weniger depressiv, wenn sie in ihrem Leiden ausreichende soziale Unterstützung erfahren – was wiederum zu einer Reduktion von Schmerzwahrnehmung führt.

Die Sprache des Schmerzes verstehen heißt, dass wir die Entwicklung der modernen Medizin neu denken müssen. Der Schmerzpatient ist der Ruf nach einer Neuorientierung. Die Behandlung von Schmerz muss zu einer Querschnittsmaterie für alle medizinischen Fächer werden, sie verlangt ein multiprofessionelles und multimodales Vorgehen. „Das Gespräch ist ein Heilfaktor, weil es die Existenz des Menschen miteinbezieht“, schreibt der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Gion Condrau: „Der Arzt kann wohl Organe behandeln; niemals kann er sich mit einem Organ besprechen. Die Sprache richtet sich immer an den Menschen in seiner Ganzheit.“ Die Sprache des Schmerzes verstehen heißt, bereit sein, eine grundsätzliche Diskussion über die Prioritäten in der Medizin zu führen. In einer rein handlungsorientieren und leistungsorientierten Medizin haben Schmerzpatienten keinen Raum, sie fordern eine zuwendungsorientierte Medizin ein.

Der ganze Mensch muss in den Blick genommen werden. Und das gilt wohl überhaupt für eine Medizin, die sich menschlich nennen will.

Als interdisziplinäres Wissenschaftsinstitut hat IMABE deshalb sein Jahressymposium am 5. Dezember 2014 in Wien dem Thema „Die Sprache des Schmerzes verstehen“ gewidmet. Wir danken an dieser Stelle unseren Kooperationspartnern, der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt, der Österreichischen Ärztekammer und dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger. In der vorliegenden Ausgabe von Imago Hominis findet sich nun ein Teil der Vorträge sowie ergänzende Beiträge aus der klinischen Praxis und zu ethischen Fragestellungen. Der zweite Band zur Tagung wird im Frühjahr 2015 erscheinen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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