Erziehung zum "spät-modernen" Lebensstil
Zusammenfassung
Es gibt, trotz aller Vielfalt einer spätmodernen Gesellschaft, Elemente eines hegemonialen Lebensstils: Diese Gesellschaft ist individualistisch, sie ist dynamisch und geltungsfeindlich, sie baut auf Wünsche und Sensationen, sie ist materialistisch und konsumistisch. Die Gesellschaft ist reich, doch die Menschen tun sich schwer, ihr Leben befriedigend zu gestalten. Wie müssten die Elemente dieses spätmodernen Lebensstils interpretiert werden, um ein gelingendes Leben zu gestalten?
Schlüsselwörter: Spätmoderne, Lebensstil, Individualisierung, Identität, Glück
Abstract
In spite of their plurality and diversity advanced societies demonstrate elements of a hegemonial lifestyle: These societies are individualistic and dynamic, they challenge everything that maintains validity, they build upon desires and sensations, they are materialistic and consumeristic. The well-developed societies are luxurious environments, but nevertheless people have difficulties to arrange their lives in a decent way. How can the elements of the hegemonial lifestyle be re-interpreted in order to make people capable of designing a better life?
Keywords: Late modernity, lifestyle, individualization, identity, happiness
Einleitung
Natürlich kann man gar nicht anders, als zu irgendeinem Lebensstil zu erziehen. Wenn man Erziehung und Lebensstil in Beziehung setzen will, zumal im Kontext gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen, dann sind es wohl bestimmte Ideen, die hinter einer solchen Frage stehen.
Erstens wird die Frage nach der aktuellen Situation, in der man Lebensstile lebt und erlebt, aufgeworfen: Was sind präferierte Lebensstile der späten oder zweiten Moderne? Welche „Bilder“ und „Botschaften“ vermittelt die Gegenwartsgesellschaft, vertreten durch Eltern, Peers, Lehrer, Medien, insbesondere den jüngeren Mitgliedern der Gemeinschaft? Zweitens wird damit die „ewige“ und „große“ Frage suggeriert: Gibt es „gute“ oder „richtige“ Lebensstile – im Sinne eines „gelingenden“ oder „gesunden“ Lebens? Und drittens: Gibt es eine Differenz zwischen dem ersten und dem zweiten Fragenkomplex? Schärfer formuliert: Macht die zweite Moderne „krank“? Oder bleibt sie jedenfalls hinter möglichen „Gesundheitspotentialen“ zurück?
Ich werde in einem ersten Abschnitt einige wesentliche Tendenzen in der zweiten Moderne darstellen (Individualisierung, Vergemeinschaftung, Multioptionalisierung, Sensationalismus und Konsumismus), in einem zweiten Abschnitt dieselben Elemente unter dem Gesichtspunkt des „guten Lebens“ noch einmal diskutieren.
1. Der hegemoniale Lebensstil der zweiten Moderne
Wenn man über vorherrschende Lebensstile in der Gegenwartsgesellschaft spricht, ist man natürlich mit dem Heterogenitätsproblem konfrontiert. „Die“ Jugend gibt es in Wahrheit nur in der Mehrzahl. In der jüngeren Generation gibt es die Koma-Trinker und Wettcafé-Besucher, es gibt verwöhnte Wehleider und durchsetzungsbereite Karrieristen, es gibt die Wachen und die Dumpfen, die Freizeit- und die Joborientierten, jene, die am Burnout, und jene, die an der Langeweile sterben – und viele andere. Dennoch lassen sich einige allgemeine Trends der zweiten Moderne feststellen, Charakteristika eines Zeitgeistes, denen die Sozialwissenschaftler weitgehend Relevanz zubilligen.
1.1. Individualisierung I: Stilisierung der Identitäten
Die Gesellschaft der zweiten Moderne ist eine individualistische. Das heißt: Den Menschen wird angesonnen, eine eigene und originelle Identität auszubilden. Die Kids sollen nicht einfach nachahmen, Erwartungen erfüllen, Rollen lernen. Sie dürfen und müssen ihr eigenes Selbst basteln.1 Sie müssen authentisch werden, ihr Ich finden, sich auf die Ich-Jagd begeben.2 Es gehört zu einer angemessenen Sozialisation, intensiv in das eigene Innenleben zu schauen. Da werden selbst die Eltern nachdenklich, überlegen sich, ob sie sich nicht selbst in die späte Midlife-Crisis flüchten sollen, weil es mit der Selbstentfaltung doch nicht so gut gegangen ist, wie sie es sich seinerzeit vorgestellt haben. War das alles? Was hätte ich gewollt? Habe ich das Horchen in die eigene Seele allzu rasch abgebrochen? Es ist die Epoche des individualistischen Bewusstseins.
I | II | |
---|---|---|
Individualisierung | Stilisierung der Identitäten | Lebensstil der Kultivierung |
Vergemeinschaftung | Verschleierter Konformismus | Lebensstil der Kommunität |
Multioptionalisierung | Drang zur Unendlichkeit | Lebensstil der Begrenztheit |
Sensationalismus | Gambling-Gesellschaft | Lebensstil der Normalität |
Konsumismus | Euphorie des Materiellen | Lebensstil der Lebensbewältigung |
Verlust der Erzählungen
Das klingt recht fein, befreiend, unabhängig, aber es ist eine ziemlich vertrackte Angelegenheit. Wie kommt man zum eigenen Selbst? Die großen Erzählungen und Institutionen in der Außenwelt sind dahingeschwunden oder haben an Kraft verloren: Wer glaubt noch an das Christentum, den Sozialismus oder die Aufklärung? Allenthalben wird der Verlust von Visionen jeder Art beklagt. Da draußen ist nicht mehr viel, an dem man sich festhalten kann, also muss man inside schauen. Aber was findet man da, was man nicht vorher „hineingesteckt“ hat in die eigene Seele?
Generation Me
Für die Me-Generation ist das Credo des euphorischen Individualismus schon beinahe selbstverständlich geworden.3 Diese Generation ist von klein auf gefragt worden, was sie will: Spaghetti, Eis, Torte? Sie haben gelernt: Entscheidend ist, was ICH will, was für mich gut ist. Dazu muss ich wissen, wie ich „ticke“, was für ein Typ ich bin: cool, distanziert? Freundlich, zugänglich? Aufgemotzt oder abgetakelt? Vegetarisch oder hedonistisch? Kosmopolitisch, politisiert? Fussballfan, Aufreißertyp, Wörthersee-Playboy? Wissenschaftlicher Jungstar? Sensibles Mädchen oder kühle Emanze? Verführerisch oder kumpelhaft? Wenn man das nur richtig hören könnte, wenn man in sich hineinlauscht, in den eigenen Bauch oder in das eigene Herz; aber so klar artikuliert sich das Innenleben nicht. Es ist ein permanentes Spiel, Versuch und Irrtum, Pfusch. Jeder einzigartig. Jeder ein Einzelfall. Jeder allein.4
Bastelidentität
Bücher, die sich mit der Identitätsfindung beschäftigen, stellen die Frage: Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? Denn das Individuum wird zu einer Bastelaufgabe, und die Bastelei hört nicht mehr auf.5 Das Individuum, so sagen es die Personalberater und die Lebens-Coaches, muss sich selbst als ein Projekt betrachten, ein niemals abgeschlossenes – und es ist mit dem Lauschangriff auf die eigene Seele nicht getan. Vielmehr muss man ein Selbst konstruieren, welches auf dem Markt reüssieren muss: auf dem Markt der Reputation, auf dem Markt der Partner, auf dem Markt der Jobs.
Bloße Anpassung an die Erfordernisse wäre verfehlt, es wäre eine Minderleistung. Man muss Aufmerksamkeit erregen, wahrnehmbar sein; und deshalb eine „interessante Patchwork-Identität“ konstruieren. Man verlangt nach Innovatoren, Kreativen, Originalen, Genies. Also nach mehr, als der Einzelne üblicherweise bieten kann. Man bleibt hinter dem erwarteten Selbstbild unausweichlich zurück – und ist doch zur Selbsterschaffung verpflichtet. Alain Ehrenberg betont die damit einhergehende Belastung: „Die Karriere der Depression beginnt in dem Augenblick, in dem das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rolle zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden zu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet, ihr Selbst zu werden. […] Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.“6
1.2. Vergemeinschaftung I: Verschleierter Konformismus
Die Realität ist offensichtlich weit weniger kreativ und originell, als es eine „starke“ Individualisierungsthese behauptet. Wenn man durch die Straßen spaziert oder die Publikums-Zeitschriften durchblättert, kann man nicht den Eindruck gewinnen, überall einzigartigen, authentischen Personen zu begegnen. Schon die äußeren Erscheinungsformen sind ähnlich, die Moden, die Baseball-Kapperl, die Jeans; die Mädchen mit den bauchfreien T-Shirts, das Ringerl im Nabel, alle das gleiche Tattoo. Die Meinungen sind meist auch nicht sonderlich originell. Den Bildern der Schönheit aus der Cosmopolitan wollen sie nacheifern, und doch bleibt es oft bei schwabbeliger Unbeholfenheit.
Erster Grund für die Konformität: Sie wollen dazugehören. Sie wollen sein wie die anderen, damit sie dazugehören. Sie wollen Einbettung, Verschmelzung, Vergemeinschaftung. Das geht immer stärker über Accessoires, den wesentlichen Signalen der Konformität.
Zweiter Grund: Die Originalität ist eingebremst, weil jeder Einzelne anschlussfähig, anpassungsfähig, eingliederungsfähig, verlässlich und brauchbar sein muss, und er muss vermitteln können, dass er diese Eigenschaften besitzt. Anderssein macht unberechenbar, uneinschätzbar, dubios, unbrauchbar; aber die große, komplexe Gesellschaftsmaschine ist in allen ihren Teilen so verflochten, dass Abweichungen sie blockieren, zum Stillstand bringen, funktionsunfähig machen. Je komplexer und verkoppelter dieses Gefüge ist, desto eher müssen die Individuen auf Kurs gehalten werden.7 Es darf höchstens eine wohlgezähmte Originalität geben.
Angepasste Identität
Es handelt sich also um ein Spiel, in dem man das Design des eigenen Lebens sorgfältig überlegen muss. Eigentlich geht es deshalb um eine halbierte Individualität, um einen konformistischen Individualismus. Das erwünschte Ich ist nicht das individuelle Ich, sondern ein Ich, das beides gleichzeitig macht: seine Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit zur Schau stellen, aber in Wahrheit gleichzeitig seine konforme Funktionalität plausibel machen. Das schafft eine permanente Spannungssituation, auch einen Druck zur Situationsdeutung im Verhältnis zur Selbsterkundung: Wie steht das Matching zwischen Selbst und Umwelt? Ist meine spezifische Einzigartigkeit marktangepasst genug?
Individualität ist nur das Signal, welches Konformität beweist; denn Individualität gehört zum erforderlichen Qualifizierungsrepertoire,8 eine auf das Funktionelle gut zugeschnittene Individualität. Wir wollen Genies, und sie sollen für Patente sorgen. Wir wollen kreative Menschen, und sie sollen verkaufbare Produkte herstellen. Wir wollen schöpferische Menschen, für das neue Tourismusprospekt.
Muster der Individualität
Auf der einen Seite Individualität und Einzigartigkeit, auf der anderen Seite Konformität, Typisierung, Mode – Zeitgeistzeitschriften sind lehrreiche Quellen für diesen Widerspruch. Sie liefern häufig eine Typisierung von Persönlichkeiten, die aber genau unter der Vorgabe vorgetragen wird, dass jeder Einzelne dadurch zur jeweils eigenen Persönlichkeit vorstoßen kann. Tests sollen helfen herauszufinden, welcher „Typ“ man eigentlich sei – wohlgemerkt, nicht welches „originelle“ Individuum, sondern welcher Typ: Sextyp, Urlaubstyp, Wohnungstyp, Haustiertyp… Jeder möchte „sich“ finden, indem er seinen „Typ“ feststellt. Dann fühlt er sich einzigartig.
Es gibt also Muster für die Darstellung von Individualität und Einzigartigkeit. Eine paradoxe Sache: Wie muss ich mich verhalten, damit ich den anderen meine Einzigartigkeit beweise? Antwort: So wie alle, die ihre Einzigartigkeit beweisen wollen. Ergebnis: eine erratische Bewegung zwischen den Polen von Annäherung und Abstoßung.
1.3. Multioptionalisierung I: Drang zur Unendlichkeit
Die zweite Moderne ist eine Multioptionsgesellschaft.9 Sie erwartet sich nicht nur mehr Optionen: also mehr Lebensmöglichkeiten, mehr Einkommen, mehr Erlebnisse. Sie sieht den einzigen Inhalt des Lebens darin, Optionen auszuweiten, sie zu intensivieren und auszuschöpfen. Was ist der Sinn des Lebens? Etwas erleben. Mehr erleben. Alles erleben.
Ausschöpfung aller Möglichkeiten
Das Wachstum der Möglichkeiten kann mit der Wahrnehmung möglicher Möglichkeiten nicht Schritt halten. Man kann wählen: Produkte und Dienstleistungen, Identitäten und Wirklichkeiten, Ideologien und Religionen, Biografien und Wohnorte, Automarken und Lebenspartner, Sexualpraktiken und Haustiere. Aber die Erfahrung lehrt: Es könnte immer noch mehr geben, alles könnte anders sein, alles könnte intensiver, komfortabler, spannender sein.
Traditionen sind hinderlich, ebenso wie Werte und Religionen – denn sie schränken die Wahlfreiheit ein. Jede Einengung ist aber zu vermeiden, und deshalb ist jede Festlegung zu hinterfragen. Wenn man die Maximierung der Optionen möchte, darf nichts gelten. Enttraditionalisierung heißt Befreiung, aber auch Sinnabbau. Enttraditionalisierung heißt Spontanisierung, aber auch die Lösung von Bindungen und Verpflichtungen. Optionsmaximierung braucht ein Wertevakuum.
Möglichkeiten-Zwang
Die Optionenvielfalt hat eine weitere belastende Seite. Wenn man sich immer selbst entscheiden kann, kommt man dem Anspruch nicht aus, sich entscheiden zu müssen. Aber das überlastet den Einzelnen, und vor allem gibt es eine Verschiebung der Verantwortlichkeit. Denn wenn der Einzelne in einem großen Optionenraum gewählt hat, dann ist er selbst an den Folgen seiner Entscheidung Schuld. Wenn er nicht alles erreicht, was er erreichen will (und das ist in einem unendlichen Optionenraum grundsätzlich nicht der Fall), dann hat er falsch gewählt. Schicksal ist abgeschafft. Er/sie ist schuld. Das erzeugt Missgeschickserfahrungen, und diese machen depressiv.
1.4. Sensationalismus I: Gambling-Gesellschaft
Die „Leistungsgesellschaft“ beginnt ihre Konturen zu verlieren. Mit dem Begriff verbindet sich keine klare Vorstellung mehr, es sei denn jene, dass irgendwie viel Geld im Spiel sein muss. Am Fließband konnte man Leistung messen, in der „symbolischen Ökonomie“ sind Worte und Gefühle, Bedürfnisse und deren Befriedigung, Deutungen und Wünsche von Belang. In einer virtualisierten Gesellschaft scheinen fiktive Impressionsleistungen die wahren Leistungen darzustellen. Leistung besteht in erfolgreicher Kommunikation, Unterhaltungsproduktion, Einfallsreichtum in Strategien und Umwegen, Argumentationen und Geschichten, sie drückt sich aus, indem man um das richtige Design weiß und um jene Gruppen, zu denen man gehören muss. Sie löst sich auf in der Darstellungs- und Überzeugungsarbeit.
Sensationalismus
Dazu kommt das Star-Prinzip. In der traditionellen Gesellschaft haben die Lebensentwürfe eine gewisse Nähe zu den Lebensmöglichkeiten aufgewiesen: Ich möchte Automechaniker werden. Ich werde den Bauernhof übernehmen. Ich werde Lehrerin. Die spätmoderne Gesellschaft hat andere Optionen: Stars, Prominente, Models, Börsenmakler, Friseur-Weltmeister, IT-Gurus, Stararchitekten. Das sind die role-models. Der Anteil der Jugendlichen steigt, der glaubt, später einmal Model oder Kinostar zu sein, ein berühmter Sportler oder Künstler, jedenfalls aber ziemlich reich. Schließlich haben sie, auf den Bildschirmen, täglich Umgang mit solchen Leuten. Deshalb erscheint die Welt als ein Glücksspiel. Alle bluffen sich selbst, weil sie in Wahrheit natürlich nicht alle Stars und Millionäre werden, nicht einmal ein beachtenswerter Promillesatz von ihnen. Bei den Jugendlichen ist die Botschaft aber vielfach angekommen: Du wirst nicht durch harte Arbeit etwas, sondern durch Glücksfälle, durch Verbindungen zu den richtigen Leuten, durch Gags. Du musst zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Es ist ein Millionenspiel, Österreich sucht den Superstar, Deutschland sucht das Super-Model – und jeder ist fähig, das zu werden: eine Art von Lasvegaisierung der Welt.
Normalitätsphobie
Wenn du so viele Möglichkeiten, Chancen, Optionen hast und aus allen diesen Möglichkeiten nichts machst, dann bist du selbst schuld. Das ist eine neue Verantwortlichkeit. Eigentlich musst du im Alter von 25 Jahren deine erste Million gemacht haben, sonst bist du ein „Verlierer“. Die Anlastung jeder Verantwortung für individuellen Arbeits- und Lebenserfolg drängt zum Bluff. Es ist eine Beweislastumkehr. Wer Erfolg hat, der hat ihn verdient. Die spätmoderne Gesellschaft braucht nur Erfolgstypen, sie lebt in der fiktiven Welt von Idealgestalten, Stars, Superhelden, hinter deren Standards die wirklichen, die „normalen“ Menschen immer weiter zurückbleiben.
1.5. Konsumismus I: Euphorie des Materiellen
Identitätsaufbau und Individualitätsinszenierung sind auf den Konsum verwiesen. Dazu braucht man Geld: Der Postmaterialismus der Zeit fußt auf einer stabilen materialistischen Grundlage. Norbert Bolz verknüpft die beiden Dimensionen: Um „dem Leben einen Sinn zu geben, braucht man ja eigentlich Ideen wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Unser Problem ist aber, dass man diese schönen Ideen des Humanismus unter postmodernen Lebensbedingungen nicht mehr durchhalten kann. Hier springt nun das Geld ein. Das Geld ist heute unser funktionaler Ersatz für die unmöglich gewordenen Ideen des Humanismus.“10
Eine zuverlässige Präsentation des Ich findet mittels des Repertoires jener Signale statt, die durch den Konsum von Gütern und Leistungen übermittelt werden. Denn die Güter sind allesamt symbolisch geworden: Der Sportschuh steht für Fitness. Die Hilfiger-Inschrift auf dem Pullover transportiert Coolness. Eine neue Nespresso-Maschine sagt, dass wir mit der Zeit gehen. Ein paar Swarovski-Glasscherben auf dem Handy machen deutlich, dass wir für den Glamour etwas übrig haben. Der Fairtrade-Kaffee macht uns zu mitfühlenden und kosmopolitischen Menschen. Alles ist unverlässlich, nur eine Garantie gibt es noch für eine glückliche Familie: die Fertigsauce,
Das Wesen des Konsumismus
Die Wirtschaft hat längst begriffen, dass die Konsumentinnen im Immateriellen schweben und das Materielle brauchen. Sie sind nicht gierig nach Geld, sie wollen nicht reich sein – sie brauchen nur eine Unmenge von Gütern, damit sie zu einer „Persönlichkeit“ werden; damit das Leben einen Sinn hat. Glück ist immer noch das Transzendente, aber diese Transzendenz verbleibt im Diesseits. Gott trifft man in der Shopping Mall. Pascal Bruckner sagt: Der Kapitalismus hat alles „entsakralisiert“, außer sich selbst.11 Und Sighard Neckel fügt hinzu: „An die Stelle von Gott tritt die ungeahnte Tiefe und Weite des eigenen Ich.“12
Welt als euphorischer Zustand
Die sich aufdrängende Symbolwelt einer konsumistischen Kultur verändert die Welt, die wir sehen. Denn diese Symbole erzählen Geschichten, die keinen Platz haben für die List des Schicksals, für tragische Helden, für existenzielle Opfer, für komplizierte Konflikte, für vielschichtige Stimmungen, für ererbte Belastungen. Dort gibt es nur strahlende Menschen, Sieger, Erfolge, Happy-end, Sauberkeit, gute Laune, Glück. Die Suggestion ist: Die wirkliche Welt ist ein euphorischer Zustand. Das hat Folgen für die Selbsteinschätzung. Wer nicht andauernd euphorisch gestimmt ist, mit dem stimmt etwas nicht. Er ist therapiebedürftig. Deshalb sind alle irgendwie therapiebedürftig.
2. Stilistische Elemente eines gelingenden Lebens
Es gehört zu den Rätseln, mit denen sich Sozialwissenschaftler herumschlagen: Reichtum macht nicht glücklich. Wohlgefühl weist keine klare Korrelation mit dem Sozialprodukt auf. Gerade in den reichen Ländern werden auch verschiedene anomische Phänomene festgestellt. Der Frage um das Glück kommt man nicht aus – sogar Ökonomen, die üblicherweise solcher philosophischen Flausen nicht verdächtig sind, beschäftigen sich zunehmend mit dieser Frage.13
2.1. Individualisierung II: Lebensstil der Kultivierung
Der Prozess der europäischen Individualisierung hat seine Wurzeln in der Antike, im Christentum, in der Renaissance und Reformation, in der Aufklärung – es ist ein Prozess, hinter den wir weder zurückfallen wollen noch können. Es geht nicht um die Beseitigung von Individualität, sondern um das Verständnis dessen, was mit einer Sozialisierung zu einer gelingenden Individualität gemeint sein kann.
Qualifizierung und Kultivierung
Seit jeher war Erziehung nicht nur auf Qualifizierung gerichtet, sondern auch auf Kultivierung. Qualifizierung als dominante Idee zielt auf Verwertungsorientierung: Erziehung als Grundlage für Technik und Fortschritt, Beschäftigung und Wachstum, als Ressource in der globalen Konkurrenz, im Standortwettbewerb. Humankapital als wettbewerbspolitisches Marketing-Argument, vor dem Hintergrund einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Kultivierung als traditionelle Idee ist in den letzten Jahrhunderten mit der Idee des zweckfreien Wissens verbunden worden. Da gab es einen bestimmten Kanon, was man wissen muss. Es waren natürlich auch Mechanismen der sozialen Abgrenzung, wie das Pierre Bourdieu und andere herausgearbeitet haben.14
Aber natürlich meint Kultivierung letztlich das, was man immer als „reife Persönlichkeit“ betrachtet hat: mit stabilen seelisch-geistigen Merkmalen, frei von stärkeren inneren Widersprüchen, in sich selbst ruhend, mit Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl, im Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten und Beschränkungen, kompetent in zwischenmenschlichen Prozessen. Es gibt viele dieser Beschreibungen; doch sie ähneln kaum jener Persönlichkeitsbeschreibung, die wir bislang für die späte Moderne entworfen haben.
Kultivierung und Befähigung
Gelungene Erziehung befähigt die Menschen, ein Leben zu führen, das Wertschätzung verdient. Die menschlichen Verwirklichungschancen hängen natürlich nicht nur vom Einkommen ab, sondern auch von sozialen und politischen Faktoren – und von ethischen Dimensionen. Aber neuerdings werden, gerade mit dem Blick auf praktische Ziele, auch wieder bestimmte unmoderne Fähigkeiten betont, die über lange Zeit als bürgerliche Tugenden geschmäht worden sind. Fähigkeiten wie: Kooperationsfähigkeit; Pünktlichkeit, Verlässlichkeit; Pflichtbewusstsein, Aufgabenorientierung; Selbstständigkeit. Solche Haltungen gehen durchaus mit einer individuellen Persönlichkeit einher, allerdings einer Persönlichkeit, die keine narzisstische Haltung aufweist, sondern die in der Lage ist, Spontanismus im Interesse des Zusammenlebens zu begrenzen.
2.2. Vergemeinschaftung II: Lebensstil der Kommunität
Ralf Dahrendorf hat 1979 ein Buch über Lebens-chancen geschrieben.15 Lebenschancen werden, so meint er, aus Optionen und Ligaturen komponiert; aber die Moderne hat die Ligaturen, die Bindungen und Verpflichtungen, geschwächt oder beseitigt, um die Optionen zu forcieren, und sie ist sich noch nicht im Klaren, wie mit diesem Zustand fertigzuwerden ist. Denn wie immer man es dreht und wendet: Irgendwie ist es ein trade off-Verhältnis. Wenn man mehr Optionen haben will, muss man Ligaturen abbauen. Dahrendorf hat schon damals die Vermutung geäußert, dass man sich zu stark in die Richtung der Optionen bewegt hat, zum Schaden des gemeinsamen Wohlstandes.
Gemeinschaft und Vergemeinschaftungen
Die Zeitdiagnostiker nehmen wahr, dass Gemeinschaften (Familien, Nachbarschaften, Dörfer, Vereine) flexibler, unverbindlicher, lockerer geworden sind. Es ist ein Prozess der Entbettung: disembedding. Die alten Gemeinschaften waren, in der Beschreibung von Ferdinand Tönnies, dauerhafte soziale Umgebungen: hierarchisch, generationenübergreifend, statusgebunden, face-to-face.16 Die moderne Gesellschaft kennt formale, anonyme, rationalisierte, flexible und flüchtige Interaktionen. Dabei entstehen Defizitgefühle – denn in dieser Unverbindlichkeit kann man nicht leben. Denn Zugehörigkeitswünsche bleiben bestehen, Sehnsucht nach Vertrautheit, nach gemeinsamer Erfahrung, nach interesselosem Wohlfühlen.
Posttraditionale Vergemeinschaftungen sind die Lösung für ein Problem, das Unvereinbare zu vereinbaren: den Wunsch nach Freiheit und Einzigartigkeit einerseits, den Wunsch nach Bindung und Einbettung andererseits. Es sind temporäre Vergemeinschaftungen, die solche Gefühle auslösen: Wahlgemeinschaften, Erlebnismilieus, Lebensstilgruppen, Jugendszenen. Das Gemeinschaftserleben hat man beim Popkonzert oder auf dem Fußballplatz, beim Oldtimer-Meeting oder bei der Papstmesse. Man erlebt wie die anderen, man schreit mit ihnen – und man ist auf kurze Zeit die vermaledeite Individualität los. Aber nach wohlbemessener Zeit ist alles vorbei, und man hat keine weiteren Verpflichtungen. Man kann nach Hause gehen und spontan sein, ganz anders als in herkömmlichen Gemeinschaften.17
Das aber ist auch das Problem. Deshalb liefern diese Arten von Vergemeinschaftungen nicht das, was alte Gemeinschaften geliefert haben: Verlässlichkeit, Sicherheitsgefühl, Rückhalt. Letztlich bleibt man doch allein: fastfood-Gemeinschaftlichkeit. Wenn man jemanden braucht, dann ist er nicht da.
Zeitgeist und Anomie
Es gibt eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen (1) sozialen Faktoren, die in Pub-lic Health-Studien für gesundheitsschädigende Phänomene oder in neueren Kriminalitätstheorien für deviantes Verhalten verantwortlich gemacht werden, und (2) sozialen Faktoren, die in zeitdiagnostischen Skizzen zur Beschreibung der Gegenwartsgesellschaft dargestellt werden. Anders formuliert: Was spezialisierte Krankheits- oder Kriminalitätsstudien als destruktiv für Menschen ansehen, deckt sich auffällig mit allgemeinen Gegenwartsbeschreibungen.
Im Falle der Krankheitsstudien ist auf Aaron Antonovskys „sense of coherence“ hinzuweisen. Für die Gesundheit ist es förderlich, wenn das Leben als verstehbar, bewältigbar und bedeutungsvoll wahrgenommen wird – und genau das steht heute in Frage. Man versteht die Welt nicht mehr, man fühlt sich ausgeliefert, man findet keinen Sinn mehr im Ganzen.18 Ähnliches finden wir in der Kriminalitätsforschung, etwa in der „Bindungstheorie“ von Travis Hirschi. Vor dem Sturz in deviantes Verhalten schützen emotionale Bindungen zu Bezugspersonen, eine konventionellen Zielen verpflichtete Lebensplanung, stabile berufliche Einbindung, Freizeit in klar strukturierten Bezügen, die innere Billigung des konventionellen Wertesystems.19 Alles das sind Tendenzen, die in der Gegenwartsgesellschaft der Erosion unterliegen. Zeitgeistbeschreibungen klingen unversehens wie pathogene oder kriminogene Elemente.
2.3. Multioptionalisierung II: Lebensstil der Begrenztheit
Es ist das Wesen der Multioptionsgesellschaft: Man hat ein Recht darauf, mehr zu bekommen, mehr zu entscheiden, zu optimieren. Doch der Psychologe Barry Schwartz hat ein Buch mit dem schönen Titel Anleitung zur Unzufriedenheit geschrieben, und er bringt eine Fülle von empirischen Daten darüber, dass Wählenkönnen schon etwas Gutes sein mag, dass daraus aber nicht folgt, dass Mehr-wählen-können besser ist. „[D]as hartnäckige Festhalten an allen verfügbaren Wahlmöglichkeiten trägt zu falschen Entscheidungen, Angst, Stress und Unzufriedenheit bei – sogar zu klinischer Depression.“20
Selbsttäuschungen
In reichen Ländern kann man auswählen, und man will es. Die meisten europäischen Länder befinden sich am Beginn des 21. Jahrhunderts in einer luxuriösen Lage; das letzte halbe Jahrhundert war ein „europäisches Fenster“: explodierender Wohlstand und politische Friedlichkeit. Daraus ist die Fortsetzungsvermutung erwachsen: Die Welt werde so weiterlaufen, wie man sie bisher kennen gelernt hat, nur werde sie von Jahr zu Jahr besser – und natürlich habe man ein Recht darauf.
Der strategische Optimismus, dass die Zukunftsgesellschaft alle Chancen in sich birgt, ist ein luftiges Gebilde. Die harten Zeiten kommen erst. Denn es muss ein überfordertes System „zurückgefahren“ werden: Überkonsumtion und Verschuldung sind nicht aufrecht zu erhalten. Auch wenn sich nach der Wirtschaftskrise Wachstum rasch wiederherstellen lässt, so produziert es doch keinen steigenden Lebensstandard mehr.
Damit wird die individuelle Attitüde bestärkt, aus dem System müsste alles, das Beste, herausgeholt werden: Man will maximieren. Barry Schwartz kommentiert diese Neigung so: „Unerreichbare Erwartungen nebst der bereitwilligen Neigung, Misserfolge auf die eigene Kappe zu nehmen, bilden ein verhängnisvolles Gemisch, besonders verhängnisvoll […] für Maximierer“ – die eben nach bestmöglichen Entscheidungen trachten. Studien lassen darauf schließen, „dass Maximierer erste Anwärter auf Depressionen sind.“ Es handelt sich genau um jene Kombination, die in der zweiten Moderne als typisch beschrieben wird: „Die Neigung, hohe Erwartungen zu hegen und sich persönlich verantwortlich zu fühlen, wenn sie sich nicht erfüllen, wirkt sich nicht nur auf die Wahl aus, in welches Restaurant man geht, sondern auch auf Entscheidungen, die Ausbildung, Beruf und Eheschließung betreffen. Und selbst die trivialen Bestimmungen summieren sich. Wenn eine Enttäuschung auf die andere folgt, wenn praktisch jede Wahl, die Sie treffen, hinter Ihren Erwartungen und Ansprüchen zurückbleibt, und wenn Sie ständig die persönliche Verantwortung für die kleinsten Fehler übernehmen, gewinnt das Triviale immer größere Bedeutung, mit dem Erfolg, dass Ihnen die niederdrückende Schlussfolgerung, gar nichts auf die Reihe zu bekommen, unausweichlich erscheint.“21
Uneinholbarkeit des Multioptionalismus
Das Problem des Multioptionalismus geht über aktuelle Krisen hinaus. Es besteht darin, dass die Versprechungen niemals eingeholt werden können. Es kann immer mehr Möglichkeiten geben, bessere Möglichkeiten, Möglichkeiten für alle, buntere Möglichkeiten. Eine Beschränkung der Optionen bedeutet aber nicht nur Absinken, Krise, Härte, Verzicht; sie bedroht den Lebenssinn schlechthin. Deshalb reagieren die Menschen mit Entrüstung, Angst und Panik.
Es gibt ein grundlegendes Paradoxon: Wenn der Sinn des Lebens in der Ausschöpfung aller Möglichkeiten besteht, wird die Sache umso schwieriger, je reicher Gesellschaften sind. Denn in einem begrenzten Leben, mit begrenzter Zeit und Kraft, kann man zwar versuchen, alle Erlebnisse auszuschöpfen, aber reiche Gesellschaften bieten eine derartige Vielfalt von Optionen, dass man einen immer geringeren Anteil von ihnen wahrnehmen kann. Man könnte seinen Abend auf hundert verschiedene Arten verbringen und muss doch ein oder zwei davon auswählen. Es ist ein dauerndes Verzichtserlebnis. Wenn es mehr Optionen gibt, muss man auf mehr verzichten.
Wenn es kein Kriterium des Erlebens gibt, wenn vielmehr Masse, Vielfalt und Vollständigkeit von Erlebnissen das einzige Kriterium eines guten Lebens darstellen, dann sind reiche Gesellschaften Enttäuschungsmaschinerien. Im Grunde hat es schon Emile Durkheim gesagt: Unsere Aufnahmefähigkeit ist unbegrenzt, wenn aber „von draußen keine mäßigenden Wirkungen zu uns durchdringen, dann kann sie nur eine Quelle von Qualen sein. Denn unbegrenzte Wünsche sind ex definitione nicht zu befriedigen; und nicht ohne Grund wird diese Unersättlichkeit als ein Krankheitssymptom angesehen.“22
Heute wird vermutet, dass man irgendwo zwischen Depression, Narzissmus und Borderline landet. Alain Ehrenberg schreibt in seinem Buch über das erschöpfte Selbst: Depression zeigt letztlich die Unfähigkeit zu leben. Es ist die Krankheit des Individuums, „das sich scheinbar von den Verboten emanzipiert hat, das aber durch die Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen zerrissen wird.“23 Der narzisstisch Gestörte kann keine Frustrationen ertragen.
Logik der Begrenzung
Es gab einmal eine alte Ökonomie: eine Güterproduktion zur Beseitigung von Knappheit und Not, zur Deckung der Bedürfnisse, zur Sicherung von Lebensgrundlagen. Sie war so produktiv und erfolgreich, dass sie umgebaut werden musste: Wenn man fünfmal soviel pro Stunde erzeugen kann, muss jeder (ceteris paribus) fünfmal soviel pro Stunde konsumieren. Sonst funktioniert der Wirtschaftskreislauf nicht. Deshalb hat die neue Ökonomie eine andere Logik: Sie ist nicht Produktion zur Beseitigung von Knappheit, sondern muss mit dem Überschuss fertig werden. Sie hat nicht Bedürfnisse zu decken, sondern zu erzeugen. Und fatalerweise sichert sie nicht die Lebensgrundlagen, sondern scheint sie zunehmend zu gefährden.
Es ist ein Lebensstil, der Unendlichkeit erfordert – Unendlichkeit im Diesseits natürlich; räumlich, zeitlich, energetisch. Eine Unendlichkeit, mit der die Menschen auch psychisch und sozial nicht recht fertig werden, wie sich in steigenden Anomie-Indikatoren dokumentiert. Deshalb erregen auch Vorschläge zu einem Lebensstil der Begrenzung verschiedentlich Aufsehen: auf Französisch decroissance, auf Englisch downshifting. Das sind natürlich zum Teil alte Vorschläge, schon in den siebziger Jahren diskutiert: Biogarten und Kompost, Fahrrad statt Auto, Baumwolle statt Plastik; generell die Verbannung der überflüssigen Dinge aus dem Leben; die Besinnung auf das, was wirklich wichtig ist; sich über selbstgebaute Tretmühlen klar werden.
Es ist zumindest klar, dass die errungenen Freiheiten etwas kosten – oder, wie es Boltanski und Chiapello formulieren, dass diese Freiheiten wenigstens eine Freiheit beseitigen: „die Freiheit, sich für Stabilität zu entscheiden, Treue als Wert anzuerkennen und ein Erbe anzutreten, das als solches akzeptiert wird, nicht, weil es eventuell Profite einbringt, sondern aufgrund seiner bloßen Existenz.“24
2.4. Sensationalismus II: Lebensstil der Normalität
Die Bilder des glücklichen Lebens werden in der zweiten Moderne zu Glückszwängen. Jeder hat happy zu sein. Es ist nicht nur so, dass Geld und Spaß akzeptabel sind; vielmehr werden Nicht-Geld und Nicht-Spaß unakzeptabel. Pessimismus ist nicht mehr eine zulässige Lebenshaltung, sondern gilt als behandlungsbedürftige Abweichung. Ältere Menschen müssen bis an die Grenze ihrer Demenz jugendlich (und infantil) bleiben. Und wer nicht schön ist, der hat in seinen Verpflichtungen sich selbst gegenüber – und seien sie chirurgischer Art – versagt. Das normale Leben wird entwürdigt. Wer nicht in den oberen Etagen spielt, ist ein Verlierer.
Das richtige Leben im falschen
Früher hat es einmal geheißen: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Aber das ist falsch. Ein System dieser Art kann nur noch auf individueller Ebene unterlaufen werden. Es ist flexibel und tolerant genug, das sind ja auch sein Vorzug und seine Stärke. Es lässt zu, dass es Spielräume gibt, dass andere Lebensweisen gelebt werden. Man kann auch mit einem 15 Jahre alten Auto fahren. Wenn man daraus ein gutes Argument macht, dann wird das nicht nur akzeptiert, sondern vielfach auch bewundert.
Man braucht dazu aber persönliche Stärke. Man muss für sich und für andere argumentieren können, warum man dies oder jenes anders macht als alle anderen. Das ist nicht immer einfach. Persönliche Reifwerdung hat immer bedeutet, augenblickliche Impulse zurückzudrängen, längerfristige Perspektiven und dauerhafte Routinen zu entwickeln; alles andere wäre als geistlose Existenz betrachtet worden.25 Doch die Idee eines reifen Menschen muss in einer sensationalistisch-konsumistischen Gesellschaft als lächerlich erscheinen. Der reife Mensch ist langsam, bedächtig, reflexiv, umsichtig – d. h. er ist ein zurückhaltender, unanständiger Konsument, ein Wirtschaftsschädling, ein Bremser für die Zukunftsdynamik, ein Sklerotiker und ein Bedenkenträger. Begeisterte Mitmacher, Fahnenträger und Chancenergreifer sind gefragt – auch wenn diese sich auf Dauer selbst krank machen.
Distanz und Gelassenheit
Normalität bedeutet nicht: tun, was alle tun; ganz im Gegenteil. Es gilt unter den gegebenen Umständen vielmehr das Prinzip der Distanzierung. Normal sein heißt: ein wenig auf Distanz gehen zu den Dummheiten dieser Welt – im Sinne innerlicher Freiheit. Das ist nicht im Sinne des üblichen Psycho-Speak gemeint. Es gibt eine Menge an neuen Heilsversprechen, welche die zerbrochene Welt wieder ganz machen wollen. Der Kitsch spielt sich meist in irgendwelchen quasi-religiösen Mischungen von Psycho-Varianten und Esoterik ab.
Normalität bedeutet auch nicht: sich zufrieden geben; Biedermeier; Kleinkariertheit. Sie ist durchaus mit Bestrebungen verbunden: etwas wollen, etwas schaffen, neugierig sein. Neugier aber nicht im Sinne von: bei jeder Sensation dabei sein wollen; sondern: Achtsamkeit. Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber; der Welt gegenüber nicht ignorant sein; als Gegensatz zur Fernsehberieselung.
Sehr wohl aber bedeutet Normalität: sich mit dem Prinzip der Gelassenheit anfreunden. In den Umkreis des Begriffes gehören: Gleichmut, innere Ruhe, Gemütsruhe, Besonnenheit, Abgeklärtheit, Bedachtsamkeit, Gefasstheit, Mäßigung, Seelenruhe, Contenance, Selbstbeherrschung, Umsicht; vielleicht sogar Coolness – das Gegenteil von Unruhe, Stress, Aufgeregtheit, Sensationalismus. Es handelt sich nicht um Stoizismus, Gleichgültigkeit, Wurschtigkeit, Fatalismus – eine lange philosophische Tradition, die die spätmoderne Gesellschaft gar nicht mag.
2.5. Konsumismus II: Lebensstil der Lebensbewältigung
Wenn der glückliche Lebensstil durch ein vollgefülltes, nicht ein erfülltes Leben definiert ist, vollgefüllt mit Erlebnissen, Events, Reizungen, Spaß, dann geht es nicht zuletzt um ein materielles, monetäres, konsumistisches Leben. Geld ist „vorurteilsfrei“. Über gute und schlechte Kunst kann man streiten, aber über Versteigerungsergebnisse nicht. Deshalb beendet Geld jeden Streit, es misst ganz einfach, was Menschen tun. Kaufen ist basisdemokratisch, denn es heißt: Macht für jeden. Zukunftsvision: zwei Prozent Glückssteigerung pro Jahr, in Einklang mit dem Sozialprodukt.26
Irgendwie scheint es aber nicht zu funktionieren, denn die statistischen Daten sind irritierend. Nicht nur, dass jenseits einer bestimmten Wohlfahrtschwelle keine klare Korrelation zwischen Sozialprodukt und Zufriedenheit der Menschen mehr zu finden ist; die verfügbaren Datenreihen scheinen keine glückliche Gesellschaft zu beschreiben. Die Partnerbeziehungen werden kurzfristiger, Selbstmordraten steigen an, Depressionen und Ängste vermehren sich, Psychopharmaka werden geschluckt wie nie zuvor, Kriminalitätsraten steigen an. Offenbar handelt es sich um Anomieindikatoren, ausgerechnet in den reichen, harmonischen und glücklichen Ländern.
Bildung als Ressource für bescheidene Zeiten
Was macht eine Gesellschaft, die keine anderen Orientierungen mehr hat als Geld, Konsum und Nachfrage? Für die der Sinn des Lebens darin besteht, im nächsten Jahr mehr einkaufen zu können? Was macht diese Gesellschaft, wenn die „Schönwetterphase“ vorbei ist? Denn globale Konvergenz heißt möglicherweise nicht nur: alle werden reich. Konvergenz ist möglicherweise Konvergenz: Luxus schrumpft.
In diesem Fall ist in einer nihilistisch-konsumistischen Gesellschaft die einzige Sinnstiftung gefährdet. Bildung könnte helfen. Denn gebildete Menschen beziehen ihre Zufriedenheit nicht aus dem Einkaufszentrum, sie haben eine andere Weltorientierung. Ihnen bleibt auch unter knappen materiellen Verhältnissen etwas erhalten, worüber die „Konsumsüchtigen“ nicht verfügen. Bücher sind nicht nur ein billiges Vergnügen; vor allem geht es um eine andere Lebenseinstellung, um ein komplexeres Weltverständnis. Bildung als Versuch, Barbarentum zu verhindern: eine Entwilderung der Gesellschaft bewirken oder wenigstens ihre Verwilderung bremsen.
Unmoderne Mentalitäten
Die Idee eines genügsamen Menschen muss in der Gegenwart lächerlich anmuten, es klingt unangenehm nach Askese, und diese ist bestenfalls akzeptabel als Fastenkur übersättigter Menschen. Aber wir gehen einer kargeren Gesellschaft entgegen, und sie wird uns Elemente eines Lebensstils der Bescheidenheit wieder beibringen. Globalisierte Konkurrenz, die demographische Situation, explosive Gesundheitskosten, steigende Transaktionskosten in einer überkomplexen Gesellschaft, die Umweltsituation und die Erschöpfung der Ressourcen – alles geht nicht mehr zusammen.
Bescheidenheit heißt nicht: ein karges oder hartes Leben. Es gibt den alten Spruch: Ich habe so wenig Geld, ich kann es mir nicht leisten, billige Sachen zu kaufen. Es geht um freiwillige Zurücknahme, Verweigerung: voluntary simplicity.27 Um einen Lebensstil des satisficing: Genug ist genug. Ferien in der Sommerfrische. Keine Weltreise. Äpfel aus Südafrika sind Unsinn. Den Zirkus mit dem Imponiergehabe muss man nicht mitmachen, freilich muss man die Konsequenzen akzeptieren, wie bei jedem Akt der Zivilcourage: Man rutscht an die Peripherie. Da braucht man Selbstbewusstsein.
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Univ.-Prof. Mag. Dr. Manfred Prisching
Karl-Franzens-Universität Graz
Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
Institut für Soziologie
Universitätsstraße 15/G4, A-8010 Graz
manfred.prisching(at)uni-graz.at