Editorial

Imago Hominis (2011); 18(4): 259-261

In dieser Ausgabe von Imago Hominis findet sich der zweite Teil zum Thema „Hippokrates heute“, das sich mit der Aktualität des ärztlichen Berufsethos im Licht der Tradition beschäftigt. Dabei kommen auch zum Teil unkonventionelle Fragestellungen zur Sprache, die auf den ersten Blick vielleicht nicht unbedingt als „hippokratisch“ rezipiert werden. Der Beitrag von Giovanni Maio ist ein „Plädoyer für die Kunst des Maßes in der Medizin“. Die moderne Medizin sei eine philosophiearme Medizin. Im Gegensatz zur antiken Auffassung von Krankheit als Dyskrasie, bei der der Mensch aus dem mikrokosmischen Gleichgewicht geraten ist, herrscht heute eine rein mechanistische Vorstellung vor, bei der Krankheiten durch eine gestörte Mechanik des Körpers hervorgerufen werden, der mit Hilfe der modernen Medizin wieder „funktionstüchtig“ gemacht werden soll. Auf der Strecke bleiben dabei die Ausrichtung des ärztlichen Handelns nach dem Gebot der Verhältnismäßigkeit und damit der Kardinaltugenden der Klugheit und des Maßes, des Sich-Bescheidens. Durch den problematischen Umgang der modernen Medizin mit den Grenzen der Machbarkeit nimmt sich der Mensch, nach Maio, freilich die Chance, dem Gegebensein der Welt und dem Schicksal seiner eigenen Existenz etwas Positives – ja vielleicht Sinnstiftendes abzugewinnen.

W. Waldhäusl beschäftigt sich mit dem Dilemma einer ganzheitlichen Sicht des Menschen auf der einen Seite und der unausweichlichen Notwendigkeit der Spezialisierung der modernen Medizin. In seiner sehr interessanten Analyse setzt sich W. Waldhäusl mit dem Begriff der Ganzheit an sich, mit der modernen Entwicklung der Medizin und ihrer Spezialisierung sowie den sich heute daraus abzuleitenden organisatorischen Strukturen auseinander und bietet konstruktive Lösungsvorschläge an.

Im Artikel von J. Bonelli geht es um „Lebensschutz heute, im Spiegel der hippokratischen Ethik“. Es wird darauf verwiesen, dass der Schutz des menschlichen Lebens wohl das herausragende Leitmotiv und die unbestrittene Konstante des ärztlichen Berufsethos hippokratischer Prägung ist. Das Prinzip der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens sei jedoch in den vergangenen Jahrzehnten in den Gesetzgebungen zahlreicher Länder gefallen. Darüber hinaus haben der Fortschritt in den biologischen Wissenschaften und deren Anwendung auf das Gebiet der Medizin eine Reihe von neuen ethischen Fragen im Bezug auf den Schutz des menschlichen Lebens gebracht. Es werden die Themen Euthanasie, Schwangerschaftsabbruch, Antikonzeption und In-Vitro-Fertilisation auf dem Hintergrund traditioneller und zeitgenössischer Strömungen ärztlicher Ethik diskutiert.

Marion Stoll bearbeitet in ihrem Artikel „Zum Tugendprofil des Arztes nach Hippokrates“ die Frage: Welches sind die herausragenden Eigenschaften, die einen Arzt im hippokratischen Sinne kennzeichnen und die das Selbstverständnis des Arztes auch heute noch kennzeichnen sollte? Es werden die Themen Beruf und Berufung, Dankbarkeit und Wertschätzung gegenüber den Lehrern, aber auch die Verantwortlichkeit der älteren Ärztegeneration angesprochen, ihre Erfahrung und ihr Wissen an die Jugend weiterzugeben, sowie deren Verpflichtung zu ständiger Weiterbildung auf hohem wissenschaftlichen Niveau. Weitere Themen sind die Kollegialität unter den Ärzten, der Umgang mit den Patienten sowie über die Haltung von Demut und Bescheidenheit angesichts der Tatsache, dass das Geheimnis des Menschen in seiner Krankheit bei weitem noch nicht umfassend durchschaut ist.

Erwähnt sei, dass über die „Echtheit“ des hippokratischen Eides und über die sogenannten hippokratischen Schriften unter den Historikern bzw. Altphilologen seit Jahrzehnten Uneinigkeit herrscht. Auf der einen Seite sind diejenigen, die aufgrund zahlreicher Konkordanzen zwischen dem Eid und den Traktaten der hippokratischen Sammlungen kaum Zweifel aufkommen lassen, dass der Eid als authentisch koisch zu betrachten ist. Die meisten unserer Autoren sehen sich wohl dieser Richtung verpflichtet. Auf der anderen Seite stehen die hippokratischen Skeptiker und Minimalisten, die die Gestalt des Hippokrates und seinen Eid bestenfalls ins Reich der Mythen versetzen und seinen Ursprung aus der griechischen Antike verbannen würden. Um auch diese Stimmen zu Wort kommen zu lassen, hat Karl-Heinz Leven seinem Artikel „Der Hippokratische Eid: Tradition, Mythos, Fiktion“ die Sichtweise der hippokratischen Skeptiker dargelegt.

Unabhängig von der historischen Streitfrage über die Authentizität, steht wohl außer Streit, dass der hippokratische Eid als Inbegriff der ethischen Verpflichtung des abendländischen Arztes, von einem Arzt verfasst wurde. Er ist ein antik-griechisches Dokument, das über Jahrhunderte hinweg die sittliche Haltung der Ärzteschaft entscheidend mitbestimmt hat. Dass er im Laufe der Geschichte unterschiedlich interpretiert worden ist, liegt in der Natur der Dinge. Die Beiträge sowohl im ersten Teil als auch diejenigen in der vorliegenden Ausgabe von Imago Hominis haben jedenfalls gezeigt, dass der Eid auch gegenwärtig hohe Aktualität besitzt. Er ist ein echter Fixstern in der heutigen Zeit weitgehender ethischer Orientierungslosigkeit und birgt überzeitliche unveränderliche Werte, ohne die die Medizin in Zukunft nicht zum Wohl der Patienten bestehen kann.

Abschließend wird eine Studie von M. W. Schnell et al. vorgestellt, in der anhand eines Fallbeispiels aus der Pädiatrie untersucht wurde, wie sich das studentische Urteil bei klinisch-ethischen Entscheidungen im Laufe des Medizinstudiums entwickelt. Es zeigte sich, dass innerhalb des Studiums kaum ein Entwicklungstrend im ethischen Urteilsvermögen der Studierenden zu finden ist, sodass die Schlussfolgerung gezogen wird, dass im Vergleich mit den großen naturwissenschaftlichen Fächern der Medizin der Ausbildung auf dem Gebiet Ethik nur eine eher geringe Bedeutung zugemessen wird.

Die Pharmazeutin und Bioethikerin Margit Spatzenegger liefert einen profunden Einblick in die ethische Debatte und die politisch widersprüchlichen EU-Regelungen, bei denen der Schutz der Tiere in der vorklinischen Forschung höher bewertet wird als der Schutz des menschlichen Embryos.

Allen Autoren sei an dieser Stelle herzlich für ihre große Mühe bei der Abfassung ihrer Beiträge gedankt.

J. Bonelli

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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