Prävention als moralische Einstellung
Zusammenfassung
Ist Prävention ein Wert? Eine Pflicht? Eine Tugend? Die Wahrnehmungsdefizite von Prävention als einem Wert und von Prävention als einer Pflicht können am besten durch die Tugend (moralische Kompetenz) aufgehoben werden. Keine Gewalt, kein Zwang und kein Druck von oben, werden jemals effizient sein. Prävention muss aber frei gewählt werden. Gerade die Tugend der Weisheit, zu der die Prävention in der Systematik der Tugenden gehört, vermittelt demjenigen, der über sie verfügt, die Kompetenz, die Werte und die Pflichten als solche in ihrem vollen Umfang wahrzunehmen und damit den präventiven Lebensstil autonom zu wählen. Warum wird er gewählt? Weil er das Vernünftigste ist, weil er Sinn macht und weil er zur Exzellenz im Handeln gehört, letztlich weil er zum Ideal des Gelingens des Lebens, dem Ziel der Tugendethik, gehört. Eine unrealistische politische Utopie? Wie wachsen Menschen in der moralischen Kompetenz (Tugenden)? Durch Information, Erziehung und Training. Das ist der Weg für die Präventionspolitik: Viel Information, bei der Erziehung in all ihren möglichen Formen anzusetzen, und Training zu fördern.
Schlüsselwörter: Prävention, Tugend, Wert, Pflicht, Erziehung, Training
Abstract
Is prevention a value? a duty? a virtue? A deficit in the perception of prevention as a value or duty can best be compensated by virtue (moral competence). Neither violence nor pressure from authorities can ever be efficient. Prevention must be freely chosen. In a system of freedom, prevention fits best for the virtue of wisdom. If there is competence to perceive the values and duties as such in full extent, one can choose a life style of prevention in full autonomy. But why should it be chosen? Because it is the most rational choice, which makes sense, encompassing an excellency of acting, and it reflects the ideal of a successful life, which is the aim of ethics based on virtues. An unrealistic, political utopia? How can an individual prosper in terms of moral competence (virtues)?
The answer is: by information, education, and training. A policy of prevention must act along this path in supporting all this extensively and by all means.
Keywords: Prevention, Virtue, Values, Duty, Education, Training
Einleitung
Prävention ist eher negativ besetzt, weil sie vor allem Verzicht suggeriert: Weniger Süßigkeiten, weniger Fett, weniger Alkohol, nicht rauchen, dafür Bewegung und Sport, aber bitte auch mit Maß, Medikamente nehmen usw. Prävention ist also eine „bittere Pille“.
Der zweite Begriff des Titels „moralische Einstellung“ weist auf Werte, Pflichten und Tugenden hin. Auch diese Begriffe sind eher negativ besetzt, weil sie verstanden werden als das, was man „nicht tun darf“. Moral macht die bittere Pille noch bitterer. Die Erwartungshaltung für einen Beitrag mit diesem Titel könnte also formuliert werden: Da kommt jemand, der sich anmaßt, mir zu sagen, dass ich vieles, was ich gerne tue oder tun würde, eigentlich nicht darf.
Die Herausforderung für mich ist, aus der bitteren Zitrone – Verzicht, Verbote – eine süße Limonade zu machen – Lebenssinn und Lebensglück. Es ist ein wichtiges und dringendes Anliegen von Gesundheitspolitikern und Public-Health-Experten, Prävention den Menschen näher zu bringen. Ich möchte hier einen ethisch-theoretischen Ansatz vorlegen.
Ich möchte zeigen, dass auch in Verzichthaltungen ein Sinn gefunden werden kann. Wenn man Moral im Sinne der aristotelischen Ethik nicht als einen Verbotscodex versteht, sondern als eine vernünftige Anleitung, um ein glückliches Leben zu führen, kann es jedem gelingen, Prävention als etwas Positives, ja sogar Beglückendes zu betrachten.
Aber zunächst wenden wir uns der Frage zu: Welchen moralischen Status hat die medizinische Prävention? In der Ethik geht es um Werte, Pflichten und Haltungen (Tugenden). Kann Prävention ein Wert sein? Ist Prävention eine Pflicht? Ist sie eine Tugend?
Moralische Relevanz der kulturellen Dimension von Lebensstilen
Unter medizinischer Prävention kann man verstehen, Gesundheitsrisiken zu reduzieren, d. h. die Bedingungen, die zur Entstehung der Krankheit führen, zu verhindern oder zu vermeiden. Bei der Festlegung des moralischen Status der medizinischen Prävention muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Lebensstile kulturelle Phänomen sind, die, wenn sie einmal etabliert sind, sich durch anthropologische, soziologische, ökonomische und politische Faktoren in der Gesellschaft stark verankern.1 Das ist wichtig festzustellen, da es von hoher moralischer Relevanz ist, zumal die Einsichtsfähigkeit und die Entscheidungsfreiheit des Individuums in Zusammenhang mit seinem Lebensstil durch diese Faktoren eingeschränkt sind. Eine Studie in Deutschland 2010 hat beispielsweise gezeigt, dass Kinder von fettleibigen Eltern selbst statistisch signifikant zu Fettleibigkeit neigen.2 Lebensstile werden nicht unbedingt rational gewählt, man folgt Rollen, Trends und Moden. Für jeden Lebensstil gibt es eine ganze Reihe von Argumenten, die pseudowissenschaftlich nicht zuletzt von der Wirtschaft entwickelt bzw. unterstützt werden und mit denen man sich rechtfertigen kann: So führt man zur Verteidigung des Rauchens rüstige Senioren an, die ein Leben lang geraucht hatten; oder man erwähnt andere gleichwertige Risiken, die in Kauf genommen wurden; oder man argumentiert, dass man lieber jetzt genussvoll leben will, als ein paar Jahre länger und mit „Entbehrungen“.
Aus subjektiver Sicht ist die Einsichtsfähigkeit bezüglich der Risiken eines ungesunden Lebensstils auch dadurch stark geschmälert, dass die Schäden erst einige Jahre später eintreten. Darüber hinaus kann die Gewissheit des Eintretens des Schadens nur in statistischen Wahrscheinlichkeiten gemessen werden. Man kann den gesamten Schaden, den ein bestimmtes Risikoverhalten einem Kollektiv beschert, messen bzw. voraussagen (Epidemiologie), aber man kann nicht prognostizieren, wann und welcher Schaden bei einer bestimmten Person eintreten wird.
Außerdem ist die Schadenswirkung eines Risikoverhaltens multikausal. Diese Multikausalität und die zeitliche Distanz zum ungewissen Eintreten des zukünftigen ungewissen Schadens relativiert die moralische Verantwortung von Betroffenen – schließlich kann man vorzeitig bei einem Unfall sterben oder irgendwann auch den Lebensstil ändern. All diese Faktoren verringern auch die Bereitschaft der Menschen, für mehr oder weniger wahrscheinliche zukünftige Schäden schon jetzt Verantwortung zu übernehmen und Konsequenzen zu ziehen.
Die Einsichtsfähigkeit wird durch weitere Faktoren verringert, die die Einschätzung des wahren Ausmaßes der Schäden verhindern: Werbung, Berichte über die Überschätzung der Risken, schlechtes Beispiel von Vorbildern, die Inkonsequenz der beratenden Ärzte, die politische Toleranz der Gesellschaft, die sonst in Gesundheitsfragen kaum bereit ist, Spielraum für hohe Risken zu tolerieren (vgl. z. B. die Gurtpflicht beim Autofahren) usw.
Diese Einschränkung der Einsichtsfähigkeit hat eine moralische Relevanz. Niemand trägt moralische Verantwortung für Folgen, die er nicht erahnen konnte, und auch nicht für Ursachen, die er nicht vermeiden oder verhindern kann. Dies wird eine Rolle spielen, wenn wir später über Prävention als Pflicht nachdenken werden.
Prävention: ein Wert, eine Pflicht, eine Tugend?
Ist Prävention ein Wert?
Wert wird hier nicht als ökonomischer, sondern als philosophischer Begriff verwendet. Der philosophische Wertbegriff ist im 19. und 20. Jahrhundert Gegenstand vieler Debatten und Theorien, die mit den Namen Lotze, Brentano, Scheler, Hartmann, Heidegger u. a. verbunden sind. Es würde aber den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, auf die Differenzierungen in der Debatte einzugehen. Werte sind Idealqualitäten, die sich in Gütern und Handlungen, Personen und Gegenständen realisieren können. Sittliche Werte im Sinne von Bochenski3 enthalten das Tun-Sollen, d. h. sind mit moralischen Prinzipien gleichzusetzen.
Das Leben ist ein Gut, dessen Wert nicht von der Würde der Person trennbar ist. Ohne Leben gibt es keine Person. Prävention ist daher ein Wert, der an der Würde der Person in dem Sinn partizipiert, dass Würde nicht nur ein Anspruch auf Achtung, sondern auch und vor allem die prinzipielle Forderung enthält, sie zu schützen.4
Die Gesundheit ist ein wichtiges und von jedem Menschen begehrtes Gut. Krankheit ist dagegen ein Übel, das das Gut des Lebens beeinträchtigt und daher prinzipiell für niemanden wünschenswert ist. Sich oder einem anderen Morbidität zu wünschen, wird allgemein und prinzipiell eher als psychopathisch denn als unmoralisch angesehen. Das Leben und daher auch die Gesundheit sind hohe Güter, jedoch nicht die höchsten. Denn es kann vernünftig und legitim sein, in bestimmten Situationen, z. B. zur Verteidigung anderer, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen.
Im Alltag geraten Menschen nicht selten unverschuldet in Situationen, in denen eine die eigene Gesundheit gefährdende Haltung moralisch gefordert sein kann. Man wird z. B. in der Regel nicht aus der Stadt, in der man verwurzelt ist, seine Existenz aufgebaut und seine Familie gegründet hat, einfach nur deswegen auswandern, weil die Luft nachhaltig zu viele Schadstoffe enthält. Niemand ist moralisch verantwortlich für Ursachen, die er nicht verändern kann.
Prävention schützt die zukünftige Gesundheit und daher das zukünftige Leben, sie hat aber einen instrumentellen Wert, d. h. sie ist ein Mittel, das immer nur im Bezug auf ihre Schutzfunktion eines wertvollen Gutes – hier: zukünftige Lebensjahre – steht. Für die subjektive Wertschätzung von präventiven Maßnahmen ist relevant, (a) welchen Wert der einzelne den zukünftigen Lebensjahren beimisst und (b) wie riskant er einen bestimmten Lebensstil einschätzt. Letztere Frage (b) wurde bereits teilweise behandelt. Sie ist nicht objektivierbar: Auch dann, wenn die Normalverteilung eines bestimmten Risikos bekannt ist, wird es immer Individuen geben, die völlig davon überzeugt sind, dass sie zu 100% betroffen sein werden, und andere, die sich sicher sind, dass sie sich am anderen Ende der Normalverteilung befinden, d.h. ungefährdet sind. Bezüglich der Bewertung von Lebensjahren (a) ist es nachvollziehbar, dass Lebensjahre – obwohl objektiv ontologisch gleichwertig – subjektiv verschieden bewertet werden, je nachdem, ob sie zur unmittelbaren Gegenwart oder zur fernen Zukunft gehören. Die Gegenwart ist sicher, während die Zukunft wahrscheinlich ist und erst zur Realität wird.
Das bedeutet also, dass zwischen der subjektiven Wahrnehmung des Wertes einer konkreten präventiven Handlung und dem objektiven Wert dieser Handlung eine Kluft herrscht, die unüberwindbar sein kann. Jemand kann davon überzeugt sein, dass er beim Sprung aus dem dritten Stock unverletzt bleiben wird – die objektive Wahrscheinlichkeit dafür ist aber gleich Null.
Ist Prävention eine Pflicht?
Die medizinische Prävention stellt konkrete, kleinere oder größere prinzipielle Forderungen an den Lebensstil des Einzelnen oder eines Kollektivs: Der Lebenswandel kann präventiv so gestaltet werden, dass die Erkrankungsrisiken sehr niedrig gehalten werden.
Die allgemeine Präventionsmaxime könnte so lauten: „Führe einen gesunden Lebensstil und vermeide gesundheitsschädigende Verhaltensweisen.“
Jeder vernünftige Mensch könnte dieser Maxime prinzipiell zustimmen. Wie bereits erwähnt, betrachtet der gesunde Menschenverstand das Leben als ein Gut, das geschützt werden soll. Daher ist der ungesunde Lebensstil, der die Krankheit entstehen lässt oder ihre Heilung verhindert, ein Übel, das möglichst vermieden werden muss. Man kann also sagen, dass die Maxime eine Allgemeingültigkeit im Sinne des Kant’schen Imperativs besitzt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden kann“.5 Dadurch kann man theoretisch eine Pflicht zur Prävention begründen. Das Problem der Kant’schen Rechtfertigung von Maximen liegt darin, dass der Umfang der Verbindlichkeit der Maxime unscharf bleibt. Aus der Maxime entstehen Pflichten, die mit anderen Pflichten kollidieren können. Die Pflicht zur Prävention, die vor allem geldaufwändig sein kann, könnte z. B. mit der Pflicht kollidieren, eine Familie zu erhalten, wobei wenig Zeit und Geld für Prävention übrig bleibt. Eine Schwäche der Kant’schen Pflichtethik liegt in der Unlösbarkeit von Pflichtenkollisionen.6
Kann die Wahl eines präventiven Lebensstils zu einer Pflicht werden? Welches Ausmaß von Prävention kann in einer bestimmten Situation zur Pflicht werden? Zwei sehr schwierige Fragen. Eine eindeutige Zuschreibung von individueller Eigenverantwortung bei der Kausalität von Krankheiten erweist sich bei vielen Krankheitsfällen als beinahe unlösbar.7 Die Versuche, Modelle für die Verteilung von Ressourcen im Gesundheitswesen unter Berücksichtigung der Eigenverantwortung und daher der Gerechtigkeit und der Solidarität zu finden, ist eine Aufgabe für die relativ junge Disziplin Public Health.8
Aus einer individualethischen Sicht ist Prävention zweifelsohne eine moralische Pflicht, dies ergibt sich aus dem hohen Wert der Gesundheit. Die subjektive, individuelle Wahrnehmung der Verpflichtung zu konkreten präventiven Handlungen oder Lebensstilen kann aber, bedingt durch die erwähnten kulturellen, soziologischen oder psychologischen Faktoren, erschwert bzw. mangelhaft sein. Diesem Thema der Prävention widmet sich der Jahresgesundheitsbericht 2002 der WHO. Aus dem Bericht geht hervor, dass auf Grund des Mangels an Wahrnehmung der Bedeutung der sieben höchsten Risiken (Blutdruck, Tabak, Cholesterin, Untergewicht, Übergewicht, Bewegungsmangel und Alkohol) jährlich 402 Millionen Lebensjahre von 51,5 Millionen Menschen verlorengehen. Letztgenannte sterben auf Grund dieser Risiken durchschnittlich 7,8 Jahre zu früh.
Wie kann man die Defizite an Wahrnehmung korrigieren, die hinsichtlich der Bedeutung des Gutes der zukünftigen Gesundheit und der daraus abgeleiteten moralischen Verpflichtung bestehen?
Ist Prävention eine moralische Tugend?
Tugenden sind Charakterqualitäten, aber nicht Verhaltensregeln,9 sie sind die stabile Disposition und Neigung, bestimmte Handlungen mit Vollkommenheit, Treffsicherheit und Spontaneität zu tun.10 Handlungen gemäß der Tugend vervollkommnen den Handelnden selbst, d. h. die Tugend bewirkt nicht nur, dass das Produkt der Handlung (poiesis) gut wird, sondern auch, dass der Handelnde vervollkommnet wird (praxis).11 In der nordamerikanischen Literatur wird Tugend häufig plakativ als der Weg zur Exzellenz, ja sogar als die Exzellenz im Handeln als solchem bezeichnet. In diesen Handlungen geht es jeweils um das von der Vernunft als wahrhaft Gute Erkannte, denn die Vernunft und nicht das Gesetz oder eine Norm ist Maß und Maßstab des Guten.12
Wenn wir also eine sittliche Norm befolgen, vollziehen wir meistens einen Akt der Tugend. Das Gute (z. B. das Gerechte) der Handlung liegt aber nicht in der Befolgung der Norm, sondern in der Vernünftigkeit der Handlung selbst, die ein Akt der Tugend (zum Beispiel der Gerechtigkeit) ist. Die Handlungen, die die Maxime vorschreibt, sind immer aber auch nur als Handlungen der Tugend zu rechtfertigen.13 Und Tugenden – im Gegensatz zu Pflichten – kollidieren nicht miteinander. Denn zwischen ihnen gibt es eine innere Einheit (conexio virtutum), die in einem von der Tugend der Weisheit gesicherten Zusammenhang aller Tugenden besteht,14 so dass eine Handlung nur Akt einer Tugend, d. h. erst tugendhaft sein kann, wenn sie gegen keine andere Tugend steht. Da gemäß der Tugendethik die Pflichten durch die Tugenden legitimiert werden und diese nicht kollidieren können, hebt das tugendgemäße Handeln die möglichen Pflichtenkollisionen auf.15
Es gibt für jeden Handlungstypus eine Tugend, die den Handelnden vervollkommnet. Aristoteles und nach ihm die Tugendethiker gehen von den vier Handlungszentren im Inneren des Menschen aus: der praktischen Vernunft, dem Willen, dem sinnlichen Begehren (Affekt) und dem Strebevermögen (Mut). Jedem dieser vier Grundvermögen wird eine Haupttugend zugeordnet, die in der klassischen Philosophie Kardinaltugenden genannt werden: So wird die praktische Vernunft von der Klugheit oder auch Weisheit vervollkommnet, der Wille von der Gerechtigkeit, das sinnliche Begehren von der Besonnenheit und der Mut von der Tapferkeit.16
Ist die medizinische Prävention eine Tugend?
Diese vier Kardinaltugenden sind der Schlüssel, um alle weiteren Tugenden zu definieren. Man müsste jeweils zeigen, dass jede neue Tugend – z. B. Prävention – mit einer oder mehrerer dieser vier Tugenden in Verbindung und mit keiner der vier in Konflikt steht, d. h. dass bei jeder Handlung einer bestimmten Tugend alle vier Kardinaltugenden gleichzeitig zum Zuge kommen. (Damit vervollkommnen sich die operativen Vermögen und der Mensch selbst.) Trifft dies bei Prävention zu, dann ist sie auch eine Tugend.
Prävention, so wie oben definiert, ist auch ein Handlungstypus, der den Schutz eines wertvollen Gutes, nämlich die Gesundheit zum Ziel hat. Diesem Handlungstypus wird eine eigene Tugend zugeordnet. Die oben genannte Maxime gibt das Ziel der moralischen Tugend vor, die in der habituellen Haltung besteht, unter den verschiedenen Handlungsoptionen jene zu wählen, die die geringeren Gesundheitsrisiken enthalten. Dies darf aber zunächst nicht so verstanden werden, dass der Schutz der Gesundheit das erste Universalkriterium wäre. Vor allem darf nicht vergessen werden, dass Gegenstand dieser Tugend neben den Handlungen, die gesundheitliche Schäden unmittelbar verhindern, vor allem jene Handlungen sind, die für den Lebensstil konstituierend repetitiv gesetzt werden.
Handlungen, die das Leben gefährden oder in der Zukunft gesundheitliche Schäden verursachen können, sind natürlich zu vermeiden (Prävention). An einem eiskalten Wintertag mit Schneesturm wird man nicht einfach mit T-Shirt, ohne Mantel und Kopfbedeckung im Freien spazieren gehen, denn eine schwere Erkältung oder eine Lungenentzündung wären die wahrscheinlichen Folgen. Die Tugend der Prävention muss noch nicht allzu stark ausgeprägt sein, um dies zu erkennen.
Gefordert wird diese Tugend vor allem bei den subtilen Entscheidungen betreffend der gesundheitlichen Risken des Lebensstils, d. h. bei den repetitiven Handlungen, die jede für sich keine nachweislichen gesundheitlichen Schäden bewirken, wohl aber die Wiederholung und die Dauer einen akkumulierbaren Schaden entstehen lassen. So ist prinzipiell aus der einmaligen Einnahme von 3/4 Liter Wein prinzipiell kein gesundheitlicher Nachteil für einen Erwachsenen zu erwarten, doch resultiert ein beträchtlicher Schaden, wenn es zum täglichen Konsum dieser Menge kommt.
Der Lebensstil eines Menschen wird durch seine konkrete Präferenzstruktur und seine gewohnten Verhaltensmuster ausgestaltet. Für die Frage, ob gewisse im Lebensstil angestammte Handlungen ein Gesundheitsrisiko darstellen, ist die Medizinwissenschaft zuständig. Meistens wird es so sein, dass ein Verhalten erst ab der Übertretung einer Häufigkeitsschwelle riskant wird: Je häufiger eine Handlung begangen wird, umso riskanter wird sie. Man kann diese Schwelle aber auch nicht für alle Menschen gleich festsetzen. Sie hängt von vielen Faktoren ab: genetischer Disposition, körperlicher Verfassung, Umweltfaktoren u. v. a. m.
Die Tugend der Prävention zielt darauf ab, die Grundsatzentscheidung zu treffen, im Rahmen der gegebenen Umstände einen gesunden Lebensstil zu führen und eine große Sensibilität zu entwickeln, um gesundheitsfördernde Optionen zu wählen bzw. gesundheitsschädigende zu vermeiden. In der Folge soll diese Tugend in Beziehung zu den vier Kardinaltugenden gesetzt werden. Daraus wird ersichtlich, was an der Prävention tugendhaft ist, d. h. wie Prävention den Menschen moralisch vervollkommnet.
Ist jede Prävention tugendhaft, d. h. weist sie auf Charakterexzellenz hin?
Nicht unbedingt. Damit Prävention zur Charakterexzellenz gehört, d. h. tugendhaft ist, muss sie auch klug, gerecht, angemessen und tapfer sein, weil eine Handlung, welche die Anforderungen der vier Kardinaltugenden nicht erfüllt, kein Akt der Tugend sein kann. Die Präventionshaltung z. B. des Hypochonders ist höchst wahrscheinlich nicht tugendhaft.
Man kann Prävention als einen Bestandteil der Tugend der Weisheit (Klugheit) ansehen. Thomas v. Aquin spricht in seiner Abhandlung der Kardinaltugenden von sieben Teiltugenden der Weisheit. Vier davon sind Vorsicht, Voraussicht, Umsicht und Wachsamkeit. Prävention hat direkt mit Vorsicht, Voraussicht und Umsicht in allen Fragen zu tun, die Auswirkungen auf die Gesundheit haben können. Mit der Tugend der Vorsicht und daher auch mit der Prävention ist die Wachsamkeit verwandt, die eine rasche Erkenntnis von Gefahren und Bedrohungen erlaubt, ohne in krankhafte Ängstlichkeiten zu verfallen. Es ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit – auch eine mit der Weisheit verwandte Tugend – zu beurteilen, ob das Eingehen auf ein bestimmtes Gesundheitsrisiko wirklich vernünftig ist. Verhältnismäßigkeit ist ein Beurteilungskriterium der Klugheit (d. h. Angemessenheit) einer Maßnahme.17
Prävention hat auch mit Gerechtigkeit zu tun. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er bekommt vieles von der Gesellschaft, und diese erwartet auch viel von ihm. Das Gesundheitssystem baut auf Solidarität und Gerechtigkeit auf. So kann ein frei gewählter riskanter Lebensstil ungerecht sein, weil die Solidargemeinschaft übergebührlich belastet wird (denken wir an das Beispiel von nicht-medizinisch indizierten „Schönheitsoperationen“ u. v. m.). Der präventiv Handelnde handelt jedenfalls gerecht, dagegen wäre es wider die Tugend der Gerechtigkeit, wenn im konkreten Fall eine verhältnismäßige und für den Handelnden durchaus zur Verfügung stehende Vorsichts-, Voraussichts- und Umsichtsmaßnahme bezüglich der Gesundheit vernachlässigt würde.18
Wie erwähnt ist das Ziel der Prävention der gesundheitlich vernünftige Lebensstil. Prävention hat mit Besonnenheit zu tun. Bleiben wir beim Beispiel des Weines. Regelmäßig ein Glas Wein zu trinken, ist angenehm und kann zum Lebensstil gehören. Nun ist die Frage: Welches Maß an Weinkonsum ist vernünftig? Ab wann trinkt man zu viel? Wie kann die Vernunft beim Weintrinken das Maß bestimmen?
Es ist zunächst Aufgabe der Präventivmedizin, rigoros zu bestimmen, was, wann und wie etwas präventiv wirkt. Doch wie viel Bewegung, Sport, welche Diät, wie viel Alkohol usw. dem vernünftigen Maß entspricht, kann nur im konkreten Einzelfall ausgesagt werden. Auf Grund medizinischer Befunde ist ein moderater regelmäßiger Weinkonsum (z. B. 1/4 Liter täglich) meistens gesundheitsfördernd, und ab ca. 3/4 Liter pro Tag muss man mit Gesundheitsschäden rechnen. Das richtige Maß, das jeweils zwischen einem „Zuviel“ und ein „Zuwenig“ liegt, wird von vielen Faktoren abhängen, die es zu berücksichtigen gilt: Das ist es gerade, was die von der Tugend der Besonnenheit (Mäßigung) unterstützte Vernunft tut. Allerdings wäre die einmalige Übertretung dieser Grenzen, z. B. bei unmäßigem Trinken, nicht in jedem Fall antipräventiv, wenn man anschließend keine Tätigkeiten unternimmt, die ein hohes Konzentrationsvermögen erfordern, so dass es zu keinen Pflichtverletzungen kommen kann.
Das richtige, vernünftige Maß an Prävention wird verhindern, dass diese zu jener krankhaften Beziehung zur Gesundheit führt, die die Durchmedikalisierung des Lebens zur Folge hat. Das ist es, was die Tugend gegenüber einer nicht tugendhaften Prävention absichert.
Prävention bedeutet meistens eine Einschränkung des spontanen Begehrens und verlangt Überwindung, Standhaftigkeit, also Tapferkeit.19 Eine Präventions-Kampagne des österreichischen Gesundheitsministeriums 2003 hat das Akronym „Isch“ gewählt, um die Beziehung zwischen Tapferkeit und Prävention hervorzuheben. „Isch“ steht für den „inneren Schweinehund“, den es in der Regel bei jeder präventiven Handlung zu überwinden gilt. Nicht wenige Menschen sehen für sich die Notwendigkeit, präventiv zu agieren. Sie machen sich sogar bzgl. Diät, Bewegung usw. konkrete Vorsätze. Einige finden aber nicht den richtigen Moment, mit der Umsetzung zu beginnen, oder sie machen einen Anfang, aber schaffen es nicht, dabei zu beharren. Ohne Tapferkeit und Beharrlichkeit gibt es keine Prävention.
Fazit
Die Wahrnehmungsdefizite von Prävention als einem Wert und von Prävention als einer Pflicht können am besten durch die Tugend aufgehoben werden. Keine Gewalt, kein Zwang und kein Druck von oben werden jemals effizient sein. Der Wert der Freiheit ist heute zu hoch, als dass man meinen könnte, Prävention gegen Autonomie durchsetzen zu können. Prävention muss frei gewählt werden. Gerade die Tugend der Weisheit, zu der die Prävention in der Systematik der Tugenden gehört, vermittelt demjenigen, der über sie verfügt, die Kompetenz, die Werte und die Pflichten als solche in ihrem vollen Umfang wahrzunehmen und damit den präventiven Lebensstil autonom zu wählen. Warum sich dafür entscheiden? Weil diese Art zu leben die vernünftigste ist, sinnvoll und weil sie letztlich zum Ideal des Gelingens des Lebens, dem Ziel der Tugendethik, gehört.
Aus der Public-Health-Perspektive mag man sich die Frage stellen: Führt der tugendethische Zugang zum Thema Prävention zur unrealistischen politischen Utopie? Vielleicht doch nicht. Wie können Menschen in der moralischen Kompetenz (Tugenden) unterstützt werden und daran wachsen? Durch Information, Erziehung und Training. An diesem Weg wird eine effiziente Präventionspolitik nicht vorbeikommen: informieren, die Erziehung in all ihren möglichen Formen stützen und Training innovativ fördern. Dies sollte der Beitrag der Politik zur Prävention sein. Die Politik selbst wird dabei vor allem zwei andere Tugenden benötigen: Beharrlichkeit und Geduld.
Referenzen
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- Ravens-Sieberer U., Wille N., Settertobulte W., Was fördert das gesunde Aufwachsen von Kindern in Familien?, Kurzbericht zur AOK-Stern Studie, www.uni-bielefeld.de/gesundhw/whocc/downloads/Kurzbericht.pdf, Gesundheit und Gesellschaft, Spezial 6/2007, www.aok-bv.de/imperia/md/aokbv/info/gg/spezial/gug_spezial_0607_gkgz_s.pdf
- Bochenski J. M., Wege zum philosophischen Denken, Herder Verlag, Freiburg i. Br. (1972), S. 10
- Schweidler W., Das Unantastbare. Beiträge zur Philosophie der Menschenrechte, Lit-Verlag, Münster (2001), S. 9-19
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- Dietrich F., Eigenverantwortung als medizinisches Rationierungskriterium, ZfmE (2001); 47: 371-385; Buyx A., Können, sollen, müssen? Public Health-Politik und libertärer Paternalismus, Ethik Med (2010); 22: 221-234
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- Prat E., Qualitätssicherung und Tugenden im Gesundheitswesen: Begründung eines Zusammenhanges, Imago Hominis (2000); 7: 208
- Prat E., Kardinaltugenden und Kultivierung des Gewissens, Imago Hominis (2001); 8: 270
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- Prat E., Qualitätssicherung und Tugenden im Gesundheitswesen: Begründung eines Zusammenhanges, Imago Hominis (2000); 7: 208; vgl. auch Thomas v. Aquin, Summa theologica, I-II, q. 65, a. 1
- Rhonheimer M., Die Perspektive der Moral, Akademie Verlag, Berlin (2001), S. 285. Rhonheimer gesteht, dass auch ein Rest „tragischer Fälle“ nicht ausgeschlossen werden kann. Es gibt Ausweglosigkeiten, wo das, was man tun kann, in jedem Fall schlecht ist, und diese Situation vermeidbar wäre, wenn früher richtig gehandelt worden wäre.
- Rhonheimer M., Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik, Akademie Verlag, Berlin (2001), S. 192 ff.
- Prat E., Sinnhaftigkeit in der Medizin, Imago Hominis (2004); 11(4): 287-301
- Prat E., Das Tabakrauchen aus kulturethischer Sicht, Imago Hominis (2004); 11: 15-28
- Jahn O., Tapferkeit als ärztliche Tugend, Imago Hominis (2001); 8: 291-295
Prof. Enrique H. Prat
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