Gerechtigkeit im solidarisch finanzierten Gesundheitssystems

Imago Hominis (2011); 18(3): 201-213
R. Horst Noack

Zusammenfassung

Die nachhaltigen Gerechtigkeitsdimensionen Armutsvermeidung, Bildungszugang und Soziale Netze jenseits der Arbeit sind inhaltlich weitgehend mit den sozialen Gesundheitsdeterminanten identisch. Seit Bismarcks Sozialreformen in den 1880er Jahren wurden zunächst in Deutschland, in der Monarchie Österreich-Ungarn und später in anderen Staaten solidarische Finanzierungssysteme der Krankenversorgung geschaffen. Diese haben die staatlichen Budgets nicht belastet und eine verbesserte Zugangsgerechtigkeit zu den Krankenversorgungssystemen ermöglicht. In den Staaten mit steuerfinanzierten Gesundheitssystemen in Skandinavien, im angelsächsischen und im Mittelmeerraum sind die Werte des Indikators Gesunde Lebensjahre bei Geburt zumeist höher als in Ländern mit solidarischer Finanzierung wie Deutschland und Österreich. Dies lässt auf eine vergleichsweise niedrige Versorgungs- und Gesundheitsgerechtigkeit schließen. Es stellt sich die Frage, ob eine ausgewogene Steuerfinanzierung der Gesundheitssysteme mindestens ebenso gerecht oder gerechter als das solidarische Finanzierungssystem wäre.

Schlüsselwörter: Soziale Gerechtigkeit, Gerechtigkeitsdimensionen, Solidarische Finanzierung, Rationierung

Abstract

Sustainable dimensions such as prevention of poverty, access to education, and social networks outside employment correspond quite closely to the social determinants of population health. Following Bismarck‘s social reforms in the 1880s, health care systems financed according to the principle of social solidarity were adopted in Germany, by the Monarchy Austria-Hungary and later by other states. There was no additional burden for state budgets, and a more equitable access to health care was made possible. In the Scandinavian, Anglo-Saxon, and Mediterranean states where health care systems are financed from tax revenues, indicators of healthy life years tend to be higher than in countries with solidary health care financing. This may indicate a relatively low level of equitable health care and of equitable health. The question may be raised whether a well-balanced system of health care financing from tax revenues would be as equitable or even more equitable as a system of health care financed according to the solidarity principle.

Keywords: Social justice, Dimensions of equitableness, Principle of Solidarity, Rationing


1. Einleitung

In den Jahren 1996 bis 2002 schrumpfte in den EU15-Ländern der Bevölkerungsanteil von Personen, die mit ihrem Gesundheitssystem zufrieden sind, im Durchschnitt um 20%. In Österreich stieg der Anteil der Zufriedenen dagegen von 62 auf 69%.1 Zufriedenheit ist zwar ein beliebter, aber wenig aussagekräftiger Indikator zur Bewertung komplexer Eigenschaften oder Prozesse des Gesundheitswesens wie z. B. dessen Gerechtigkeit oder politische Steuerung. Schon der Name Gesundheitswesen trügt, denn es handelt sich um ein hoch entwickeltes, differenziertes und teilweise überaus leistungsfähiges soziales System, das primär der Behandlung von Krankheiten und der Versorgung kranker Menschen dient. Dieses „Wesen“ wurde in den Sozialversicherungsländern Deutschland und Österreich vor mehr als einem Jahrhundert durch eine neue Form solidarischer Finanzierung, das so genannte Solidaritäts- oder Solidarprinzip, nachhaltig geprägt.

Vieles hat sich verändert, das Solidarsystem ist uns geblieben. Heute stellt sich die Frage, ob es noch tauglich und gerecht für den Umgang mit den großen Herausforderungen im modernen Gesundheitssystem des 21. Jahrhunderts ist. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit zwei komplizierten Fragen:

  1. Wie lässt sich die Gerechtigkeit eines Gesundheitssystems und speziell die Gerechtigkeit der österreichischen und deutschen Gesundheitssysteme definieren?
  2. Gibt es Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der solidarischen Finanzierung und der Gerechtigkeit von Gesundheitssystemen?

2. Soziale Gerechtigkeit und Gesundheit

Gerechtigkeit wird weltweit als Grundnorm menschlichen Zusammenlebens verstanden. Soziale Gerechtigkeit gilt allgemein als Leitbild einer Gesellschaft, das sich auf die Verteilung ihrer Güter nach Maßgabe der vorherrschenden ethischen Normen und sozialpolitischen Prinzipien bezieht. Gesundheit im Sinne der im Völkerrecht verankerten Allgemeinen Menschenrechte ist eines dieser Güter.

Zentrale Dimensionen sozialer Gerechtigkeit sind Chancengerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit. Diese umfasst Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit. Das Bundesverfassungs-Gesetz der Republik Österreich und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erkennen die allgemeinen Normen und Prinzipien des Völkerrechts als Bestandteile des Bundesrechts an. Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948 definiert das Recht auf Gesundheit:

„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.“2

Theorie und Begriff der Gerechtigkeit werden im 20. Jahrhundert wesentlich durch den amerikanischen Philosophen J. Rawls und sein Hauptwerk, A Theory of Justice, geprägt. Rawls’ Ausgangsfrage ist: Welche Gerechtigkeitsgrundsätze würden freie und vernünftige Menschen in einer gleichen und fairen Ausgangssituation in ihrem eigenen Interesse wählen? Seine beiden Grundpositionen lauten: „Gerechtigkeit als Fairness“, wobei die erste Vorrang vor der zweiten hat:

  1. „Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten vereinbar ist.“
  2. „Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offen stehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).3

Aufbauend auf den sozialliberalen Ansätzen von J. Rawls und A. Sen und dem kommunitären Ansatz M. Walzers hat W. Merkel eine differenzierte Theorie sozialer Gerechtigkeit entwickelt. Diese definiert fünf Handlungspräferenzen, die auf entsprechende Dimensionen sozialer Gerechtigkeit ausgerichtet sind:4

  1.  Vermeidung von Armut
  2.  Gleiche Bildungschancen
  3.  Inklusion in den Arbeitsmarkt
  4.  Soziale Sicherungsnetze jenseits der Arbeit
  5.  Vermeidung extremer Einkommensungleichheiten.

Diese fünf Gerechtigkeitsdimensionen sind zugleich wirksame Einflussfaktoren auf die Gesundheit, in der sozialepidemiologischen Fachsprache auf ausgewiesene soziale Gesundheitsdeterminanten.5,6 Sie sind nicht unabhängig voneinander, sondern stehen vielmehr in einem wechselseitigen dynamischen Wirkungszusammenhang.

Merkels zentrales Konstrukt ist distributive oder Verteilungsgerechtigkeit. In vergleichenden makrosoziologischen Studien untersucht er anhand der fünf Handlungsdimensionen die quantitative Ausprägung sozialer Gerechtigkeit in ausgewählten Ländern des modernen Wohlfahrtskapitalismus. In einer ersten empirischen Studie unterscheidet Merkel zunächst drei und in einer späteren Studie fünf hierarchische Stufen distributiver Gerechtigkeit, denen er die untersuchten OECD-Länder zuordnet (Tabelle 1).7

Stufen sozialer GerechtigkeitGerechtigkeitsindex 1990-2005*
Sozialstaaten Skandinaviens: Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden6,46
Sozialversicherungsstaaten Kontinentaleuropas: Belgien, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Österreich1,91
Marginale angelsächsische Sozialstaaten: Australien, Großbritannien, Irland, Kanada, USA0,06
Mittel- und osteuropäische „Newcomer“: Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn-1,02
Südeuropäische „Nachzügler“: Griechenland, Italien, Portugal, Spanien-4,53
Österreich3,00
Deutschland2,09
Tab. 1: Soziale Gerechtigkeit (1990-2005) in OECD-Ländern8
* Der Gerechtigkeitsindex wurde aus z-Werten in den Indikatorengruppen Armut, Bildung, Arbeit, Sozialausgaben, Einkommen, Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit berechnet. Quelle: Eigene Berechnungen von W. Merkel.

Nach der Gerechtigkeitstheorie Merkels zeichnen sich die Länder des „skandinavischen Blocks“ durch ein hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit aus. Mit deutlichem Abstand folgen die Sozialversicherungsstaaten Kontinentaleuropas. Für Österreich wurde ein Gerechtigkeitsindex von 3,00 (Rang 7 von 23 OECD-Ländern) und für Deutschland von 2,09 (Rang 10) errechnet. Niedrigere Gerechtigkeitsniveaus weisen in absteigender Folge die Länder des „angelsächsischen Blocks“, die neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder und mit sehr großem Abstand die Mittelmeerländer der EU auf.

Wenn die Dimensionen sozialer Gerechtigkeit wirksamen sozialen Gesundheitsdeterminanten entsprechen, sollte das umso mehr für den Gesamtindex der Gerechtigkeit gelten, der diese Dimensionen einschließt. Um den Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Gesundheit zu erkunden, wird der Indikator Gesundheitserwartung gewählt. Dieser gibt Auskunft über die gesunden und beschwerdefreien Lebensjahre, die in einer ausgewählten Bevölkerung für eine definierte Lebensalterstufe zu erwarten sind.

Abbildung 1 zeigt für die europäischen OECD-Länder die Gesunden Lebensjahre (Healthy life years / HLY) in Abhängigkeit von den Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit in Purchasing power parities (PPPs) im Jahre 2007.10 Danach haben Länder mit höheren Gesundheitsausgaben tendenziell eine höhere Gesundheitserwartung. In den Ländern mit dem höchsten Gerechtigkeitsindex (Skandinavischer Block mit Ausnahme Finnlands) ist die Gesundheitserwartung deutlich höher als in den Sozialversicherungsstaaten. In dieser Ländergruppe liegen die Durchschnittswerte der Gesunden Lebensjahre für Österreich (59,4 Jahre) und Deutschland (57,3 Jahre) deutlich unter der durchschnittlichen Gesundheitserwartung aller einbezogenen Länder. In den untersuchten Ländern des angelsächsischen Blocks (Großbritannien, Irland), den neuen EU-Ländern (Ausnahme: Ungarn) und in den Mittelmeerländern der EU sind die durchschnittlichen Gesunden Lebensjahre trotz niedriger oder sehr niedriger Gerechtigkeitsindizes zumeist relativ hoch. Das heißt, es besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Gesunden Lebensjahren im Bereich höherer Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit (Ausnahmen: Deutschland, Österreich). Insgesamt erlauben die vorliegenden Erkenntnisse aber noch keine schlüssigen Aussagen über das Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Lebenserwartung bei guter Gesundheit und Beschwerdefreiheit.

Eine 2010 erschienene Studie der Bertelsmann-Stiftung untersucht die Länderprofile der Teilhabegerechtigkeit in 31 OECD-Ländern basierend auf einem leicht veränderten Konzept von W. Merkel. Die fünf Zieldimensionen sind I. Armutsvermeidung, II. Zugang zu Bildung, III. Inklusion in den Arbeitsmarkt, IV. Soziale Kohäsion und Gleichheit sowie V. Generationengerechtigkeit. Dafür wurden quantitative Sustainable Governance Indicators (SGI) entwickelt.11 Der Ländervergleich basiert auf 18 quantitativen und sieben qualitativen Indikatoren. Die verwendeten Daten stammen überwiegend von der OECD; bei den zusätzlich eingeflossenen qualitativen Indikatoren handelt es sich um ausführliche Experteneinschätzungen, die auf der Basis eines detaillierten Fragebogens für verschiedene Politikfelder in allen OECD-Staaten von rund 70 internationalen Länderexperten erhoben wurden.12 Verwendet wird eine Bewertungsskala von 1 (schlechtester Wert) bis 10 (Bestwert). Eine lineare Transformation der Rohwerte gewährleistet die Vergleichbarkeit quantitativer und qualitativer Indikatoren.

Abbildung 2 zeigt die Rangfolge der OECD-Länder entsprechend der für sie errechneten sozialen Teilhabegerechtigkeit. Wie schon in der früheren Studie von W. Merkel sind die skandinavischen Länder am gerechtesten, gefolgt von den Niederlanden, der Schweiz, Frankreich und Österreich, welches Rang 9 einnimmt. Deutschland befindet sich auf Rang 15, die USA auf Rang 25 und die Türkei auf dem untersten Rang 31.13 Auch hier zeigt sich ein gewisser Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Gesunder Lebenserwartung (Abbildung 1), wobei Österreich, Deutschland und auch Finnland aufgrund relativ niedriger Gesundheitserwartungen gewissermaßen aus dem Trend fallen.

3. Solidarische Finanzierung und Versorgungsgerechtigkeit

Österreich gehört zu den fünf verbliebenen Sozialversicherungsländern (Tabelle 1), in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren es deutlich mehr. Die österreichische Sozialversicherung ist eine Pflichtversicherung und umfasst 99% der Bevölkerung. In der deutschen Sozialversicherung sind nahezu 90% der Bevölkerung pflichtversichert oder freiwillig versichert, der Anteil der Pflichtversicherten ist somit deutlich niedriger als in der österreichischen Sozialversicherung. Die Nicht-Versicherten tragen das gesamte Erkrankungsrisiko selbst und die freiwillig Versicherten einen Teil dieses Risikos.

Grundprinzipien der gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Sozialversicherung sind Solidarität, paritätische Finanzierung, Sachleistung, Selbstverwaltung und Pluralität.15 Ein Grundpfeiler der sozialen Krankenversicherung und zugleich der Steuerung und Gestaltung der Krankenversorgung (Governance) ist das Solidarprinzip. Es besagt, dass alle zu versichernden Risiken von der Solidargemeinschaft der Versicherten gemeinsam getragen werden, unabhängig von der Höhe der eingezahlten Beiträge, die vom Einkommen der Versicherten abhängen. Ein viel zitierter Grundsatz des Solidarprinzips lautet: Einer für alle, alle für einen. Es erfolgt ein Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken, Männern und Frauen, Jung und Alt, Viel- und Wenigverdienern, Familien und Singles. Die finanziellen Mittel werden paritätisch, d. h. zu etwa gleichen Teilen aus den Beiträgen der Versicherten und der Arbeitgeber bereitgestellt. Die solidarische Finanzierung soll sicherstellen, dass alle Versicherten das gleiche Recht auf eine hochwertige Gesundheitsversorgung haben.16

Wie gerecht ist die solidarische Finanzierung? Gibt es Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen solidarischer Finanzierung, Versorgungs- und Gesundheitsgerechtigkeit? Diese beiden Fragen werden im Folgenden am Beispiel Deutschlands und Österreichs auf Basis der verfügbaren Daten und der historischen Erkenntnisse näher untersucht. In beiden Ländern werden heute rund drei Viertel der Ausgaben für die Krankenversorgung öffentlich finanziert, in Österreich 77,7% und in Deutschland 73,0% (Tabelle 2). Zirka 50% der Gesundheitsausgaben stammen in Österreich aus Einkünften der Sozialversicherung, in Deutschland  sind es 57,8%. 22,3% der Gesundheitsgaben werden in Österreich gegenüber 27,0% in Deutschland privat und somit nicht solidarisch finanziert (Tabelle 2).

Gesundheitsausgaben (Gesamtausgaben = 100%)Deutschland17Österreich18
FMFM
Lebenserwartung 2005-2007 (Jahre)
Rang: innerhalb von 32 OECD-Ländern (Bereich: Frauen: 76,2 - 84,4, Männer: 65,1 - 79,1)
82,3
10
77,1
9,5
82,7
9
77,1
9,5
Gesunde Lebensjahre 2005-2007
Rang: innerhalb von 32 OECD-Ländern (Bereich: Frauen: 53,0 - 70,0, Männer: 49,0 - 69,3)
57,1
24
58,2
26
60,5
22
57,4
23
Öffentliche Ausgaben 2009
Finanzierung 2008
Sozialversicherung
Pflegeversicherung/Langzeitpflege
Prävention, öffentliche Gesundheit (EU: 2,9%)
Öffentliche Haushalte
Zugang zu Allgemeinpraktikern in 17 OECD-Ländern 200219
73,0%

57,8%
7,3%
3,7%
4,9%
Drittbester Rang
77,7%

ca. 50%
6,5%
1,5%
ca. 23%
Viertbester Rang
Private Ausgaben (out-of-pocket-Ausgaben)
Finanzierung 200820
Private Haushalte („out of pocket“)
Private Krankenversicherung





Arbeitgeber/ Dienstgeberbeiträger
27,0%


13,0%
9,5%





4,2%
22,3%


15,1%
4,5%
2009: Private Anbieter, ca. 2,8 Mio. Verträge, 1.591 Mio. EUR Prämien, 5,25% der Gesundheitsausgaben21
Gesundheitsausgaben 2009

Anteil Bruttoinlandsprodukt
Wachstum der Gesundheitsausgaben pro Kopf 1998 - 2008 (EU: 4,6% / Jahr)22
278.345 Mio. EUR
11,6% BIP
1,8% / Jahr*
30.308 Mio. EUR

11,0% BIP
2,4% / Jahr
Tab. 2: Lebenserwartung und Gesundheitsausgaben 2008-2009 in Deutschland und Österreich.23 * Laut Deutschem Statistischen Bundesamt 2,7% im Zeitraum 2000-2008

Während in Österreich nahezu die gesamte Bevölkerung die Solidargemeinschaft bildet, sind es in Deutschland ungefähr 90%. Aber rund 2,8 Millionen (33%) Österreicherinnen und Österreicher leisten sich eine private Zusatzversicherung im Rahmen eines Vertrages mit einer der acht privaten Versicherungsgesellschaften (Tabelle 2). Ihr Zweck besteht einerseits darin, den Komfort einer der häufigen Spitalsaufenthalte (Zweibettzimmer in der Sonderklasse) aufzubessern – 2008 sind es 28 Aufenthalte pro 100 Einwohner im Vergleich zu 23 in Deutschland und 17 im EU-Durchschnitt. Andererseits können die häufig mit einem Aufenthalt in der Sonderklasse verbundenen Privathonorare der leitenden Ärzte/Ärztinnen abgerechnet werden.

Da der Rechtsanspruch auf eine qualitativ adäquate Behandlung und Pflege durch die Pflichtversicherung gewährleistet ist, sollte der Sonderklasse-Status im Prinzip mit keinen weiteren Vorteilen, wie z. B. kürzere Wartezeiten bei der Aufnahme oder bessere Behandlungskapazität, verbunden sein. Das Gesamtvolumen der Zusatzversicherungen mit mehr als 5% der österreichischen Gesundheitsausgaben ist ein nicht unerheblicher Wirtschaftsfaktor und finanzieller Anreiz für Führungskräfte und teilweise auch für Bedienstete im stationären Sektor.24 Ebenso wie die nicht oder freiwillig Versicherten im deutschen Versorgungssystem gehören Personen mit einer Zusatzversicherungen überwiegend der gehobenen Einkommensschicht an.

Sowohl die Möglichkeit freiwilliger Versicherungsformen im Sozialversicherungssystem als auch die weit verbreiteten Zusatzversicherungen werfen einen gewissen Schatten auf die Gerechtigkeit der Gesundheitssysteme in beiden Ländern. Diese werden in der Öffentlichkeit im Vergleich zu steuerfinanzierten Systemen in nordwestlichen oder nördlichen Teilen Europas häufig als besonders gerecht dargestellt, weil sie solidarisch finanziert werden und kaum eingeschränkte Zugänge infolge hoher vorgehaltener Kapazitäten ermöglichen. Gesundheitswissenschaftlich fundierte Studien über Gerechtigkeitsunterschiede zwischen unterschiedlich finanzierten Versorgungssystemen sind uns nicht bekannt. Es gibt aber zahlreiche Hinweise, dass die Gesundheitsausgaben in solidarisch finanzierten Versorgungssystemen tendenziell höher als in steuerfinanzierten Systemen sind.25 Nicht nur öffentliche Gesundheitsausgaben, ihre Entstehung und Legitimation implizieren Fragen nach ihrer gerechten Verteilung, sondern ebenso die privaten Gesundheitskosten und -ausgaben. Auch diese sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen.26 Die zusätzlichen Ausgaben (out-of-pocket-Ausgaben) der privaten Haushalte mit 15,1% der Gesundheitsausgaben in Österreich und 13,0% in Deutschland (Tabelle 2) sind in der EU vergleichsweise hoch und für viele kranke Menschen zunehmend auch aus der Mittelschicht eine wachsende Belastung.27

In der Diskussion über Fragen der solidarischen Finanzierung der Krankenversorgung und ihrer sozialen Gerechtigkeit ist Versorgungsgerechtigkeit ein zentraler Begriff. Was heißt Versorgungsgerechtigkeit und wie lässt sich dieser Begriff gegen verwandte Begriffe abgrenzen? Auf der Grundlage einer allgemeinen Rahmentheorie öffentlicher, bevölkerungsweiter Gesundheitsentwicklung lassen sich drei Funktionssysteme unterscheiden.28 Für jedes dieser Funktionssysteme werden eine oder zwei funktionale Gerechtigkeitsdimensionen definiert, die im Folgenden, soweit entsprechende Informations- und Wissensgrundlagen vorhanden sind, analysiert und diskutiert werden:

  • Individuelle Kranken- und Pflegeversorgung – Zugangsgerechtigkeit, Versorgungsgerechtigkeit
  • Kollektive Gesundheitsförderung/ Krankheitsprävention – Gesundheitsgerechtigkeit
  • Systemsteuerung und Systemgestaltung (Governance) – Systemgerechtigkeit.

Beim Vergleich des Zusammenhangs zwischen Gesunden Lebensjahren und Gesundheitsaufgaben der OECD-Länder (Abbildung 1) fällt auf, dass alle fünf Sozialversicherungsländer zur Gruppe der EU-Länder mit den höchsten Gesundheitsausgaben gehören. 2009 sind Deutschland und Österreich nach Luxemburg die beiden EU-Länder mit den zweit- und dritthöchsten Gesundheitsausgaben (11,6 und 11,0% des Brutto-Inlands-Produkts/BIP). Wie bereits im Kapitel 2 gezeigt, liegen die Gerechtigkeitsindizes der skandinavischen Länder, deren Sozial- und Gesundheitssysteme steuerfinanziert sind, deutlich über denen der Sozialversicherungsländer mit solidarischer Finanzierung (Abbildung 2, Tabelle 1). Die Gesundheitsausgaben in den OECD- und EU-Ländern folgen seit den 1990er Jahren einem stetigen Aufwärtstrend, weit über der Zunahme des Bruttoinlandsprodukts dieser Länder. Die Wachstumsraten der Gesundheitsausgaben in Deutschland und Österreich liegen jedoch deutlich unter dem Durchschnittswert der EU-Länder (Tabelle 2).

Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zur Zugangs- und Versorgungsgerechtigkeit sind uns leider nicht bekannt. In einem OECD-Bericht aus dem Jahr 2002 nehmen Deutschland und Österreich den dritt- und viertbesten Rang bei der Bewertung des Zugangs zu Allgemeinpraktikern ein. Diese Bewertung und die mehrfachen Zugangsmöglichkeiten lassen den Schluss zu, dass sich die Zugangsgerechtigkeit der deutschen und österreichischen Gesundheitssysteme allgemein auf einem hohen oder angemessenen Niveau befindet. Die relativ große Zahl der privaten Zusatzversicherungsverträge in Österreich und der privaten Krankenversicherungen in Deutschland, die – wie häufig berichtet – mit einem privilegierten Zugang zu knappen Operationsterminen und Krankenhausbetten verbunden sein können, sprechen jedoch für eine differenzierte Einschätzung der Zugangsgerechtigkeit. Einschränkend ist zu beachten, dass sich diese Argumentation lediglich auf „anekdotische Evidenz“ stützt.

Noch schwieriger ist es, in Ermangelung relevanter empirischer Forschung, die Qualitätsgerechtigkeit der Krankenversorgung in den beiden Ländern zu beurteilen. Eine Möglichkeit besteht darin, die heute verfügbaren Schätzwerte für Gesunde Lebensjahre („Gesunde Lebenserwartung“) mit den errechneten Lebenserwartungen für verschiedene Länder zu vergleichen. Auffällig sind die großen Differenzen zwischen den Rangplätzen Deutschlands und Österreichs in der europäischen Verteilung der Lebenserwartung und den Rangplätzen in der Verteilung Gesunder Lebensjahre von mehr als 10 Ranglätzen bei beiden Geschlechtern (Tabelle 2). Sie zeigen, dass die Zahl der Lebensjahre, die vor allem im höheren Alter bei schlechter Gesundheit und belastenden Beschwerden infolge eingeschränkter Funktionsfähigkeit in Deutschland und Österreich deutlich größer als in der Mehrzahl der europäischen Länder ist. So verbringen in einem skandinavischen Land mit hoher Gesundheitserwartung wie z. B. Dänemark ältere und alte Menschen annähernd doppelt so viele gesunde und beschwerdefreie Lebensjahre wie ältere und alte Menschen in Deutschland und Österreich.29 Dafür gibt es mehrere Erklärungshypothesen. Eine der besonders plausiblen Hypothesen besagt, dass es mit der Versorgungsqualität in beiden Ländern nicht zum Besten steht.

Eine hohe gesundheitsbezogene Lebensqualität im Alter führt tendenziell zu einer niedrigeren Inanspruchnahme medizinischer Versorgungs- und Pflegeangebote und zu niedrigeren Gesundheitsausgaben. Die Krankheitslast im höheren Alter ist in den europäischen Sozialstaaten überwiegend die Folge nichtübertragbarer chronischer Krankheiten, die hauptsächlich durch ungünstige soziale Determinanten und Lebensstilfaktoren bewirkt werden. Die relativen Risiken einer hohen Krankheitslast liegen bei Frauen und Männern der niedrigsten im Verhältnis zur höchsten Bildungs- und Ausbildungsstufe bei Werten zwischen etwa 1,5 und 2,0.30

Die vorherrschende akutmedizinische Krankenversorgung kann die Krankheitslast infolge nichtübertragbarer chronischer Krankheiten nur begrenzt beeinflussen. Unklar ist, wieweit die in verschiedenen Studien gefundenen Zusammenhänge zwischen sozialer Vernetzung und Unterstützung und Überlebenszeit bei behandelten chronischen Krankheiten wie z. B. Brustkrebs und Herzinfarkt generalisierbar sind.31, 32

Aufgrund der dargestellten Erklärungshypothesen und Argumentationslinie lässt sich der derzeitige Erkenntnisstand etwa so zusammenfassen: Die Zugangsgerechtigkeit zu den ambulanten und stationären Krankenversorgungssystemen in Deutschland und Österreich kann als angemessen und teilweise als hoch bewertet werden. Die Versorgungsgerechtigkeit stellt sich trotz angemessener bis starker Inanspruchnahme deutlich weniger positiv dar. Die solidarische Finanzierung ist eine von mehreren geeigneten Steuerungsformen der Kranken- und Pflegeversorgung. Entscheidend dürfte nicht mehr die Frage sein, ob es „eine beste“ Form der Systemsteuerung gibt, sondern vielmehr wie ein Governance-System ausgestaltet und organisiert wird und welche Anreizsysteme dabei zum Tragen kommen. Das alles dürfte weitgehend durch die gesundheitspolitische Kultur und Praxis und insofern auch durch länderspezifische Traditionen geprägt werden.

In den Sozialversicherungsstaaten stellt sich die Frage, wieweit das vor mehr als einem Jahrhundert eingeführte Solidarprinzip der Finanzierung und Steuerung der Krankenversorgung an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden kann. Als spezifische Strukturmerkmale des deutschen und vor allem des österreichischen Gesundheitssystems erweisen sich die zahlreichen möglichen Systemzugänge: niedergelassene Allgemein- und Fachärzte, daneben zahlreiche Krankenhaus- und Krankenkassenambulanzen und die Differenzierung („Fragmentierung“) des traditionellen primärärztlichen Versorgungssektors; fast ausschließlich Einzelpraxen, die späte (Deutschland) oder noch immer nicht vollzogene Einführung (Österreich) eines qualifizierten Facharztes für Primärmedizin und ein im Grunde noch immer „duales Versorgungssystem“ mit ambulanten und stationären Teilsektoren. Die Governance-Strukturen in beiden Ländern verfügen über wenig Instrumente, um den im internationalen Vergleich großen Anteil an gleichzeitig bestehender Über-, Unter- und Fehlversorgung nachhaltig zu reduzieren.33

4. Die Bismarcksche Sozialpolitik und das Prinzip solidarischer Finanzierung im historischen Rückblick

Die Bedeutung der Sozialversicherung für die Entwicklung leistungsfähiger und gerechter Krankenversorgungssysteme erschließt sich vor allem im historischen Kontext. Die unter Reichskanzler Otto von Bismarck im Deutschen Reich in den Jahren 1883 – 1889 durchgeführte Reform der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung war zweifellos ein „großer Wurf“ und ohne finanzielle Folgen für den Staat. Das neue Sozialversicherungsgesetz führte zu einer Entspannung der innenpolitischen Lage, die nach dem Erlass des Sozialistengesetzes und dem Verbot der Sozialdemokratischen Partei im Jahr 1878 zu eskalieren drohte. Wie sich später zeigen sollte, war das Gesetz auch eine sozial- und gesundheitspolitische Maßnahme von beträchtlicher Reichweite. Die Grundprinzipien der neuen Sozialpolitik wurden wenig später von der Monarchie Österreich-Ungarn und in der Folgezeit von zahlreichen europäischen Ländern übernommen.34 Zunächst war der Arbeitnehmeranteil an den Versicherungsbeiträgen deutlich größer als der Arbeitgeberanteil. Im Verlauf der Zeit konnten die Anteile beider Seiten aneinander angeglichen werden. Mit der Einführung der Arbeitslosenversicherung wurde in den 1920er Jahren der Versicherungsschutz erweitert.

Die Rechte und Pflichten bei der Steuerung, Gestaltung und Verwaltung wurden paritätisch zusammengesetzten Gremien (der „Sozialpartnerschaft“) übertragen. Damit schien die Regierung von zahlreichen gesundheitspolitischen Herausforderungen für lange Zeit befreit zu sein. Es begann eine lange Phase versorgungspolitischer Konsolidierung. Öffentliche Gesundheitspolitik war nun für lange Zeit nahezu ausschließlich Krankenversorgungspolitik.

Eine rasch wachsende Zahl politisch engagierter und wissenschaftlich geschulter Ärzte, Juristen, Gesundheitsstatistiker und Vertreter anderer Gruppierungen war bei aller Genugtuung über den ökonomischen und sozialen Fortschritt vom pragmatischen Zuschnitt der neuen Sozialgesetzgebung wenig begeistert. Die Reform setzte nicht an den Wurzeln der hohen Krankheitslast und Sterblichkeit in den ärmsten und armen Bevölkerungsgruppen an. Eine nachhaltige Lösung der erschreckend bevölkerungsweiten Gesundheitsprobleme war somit nicht zu erwarten. Ein seit etwa 1850 geführter Kampf für mehr Demokratie und Gerechtigkeit schien plötzlich zweitrangig geworden zu sein. Fundierte Kritik kam von verschiedenen Seiten, so auch von einem der großen Erneuerer der naturwissenschaftlichen Medizin und engagierten Sozialmediziner Rudolf Virchow,35 den Bismarck wegen einer angeblich beleidigenden Aussage im Preußischen Landtag zum Duell aufgefordert hatte. Wissenschaftlich fundiert und zugleich höchst konstruktiv war das Wirken des vielseitigen Wissenschaftlers und Praktikers Adolf Gottstein, der nach neueren Erkenntnissen als Schöpfer der „Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft“ gilt. A. Gottstein hat das erste in drei Auflagen erschienene Lehrbuch der Epidemiologie verfasst. Er war ein einflussreicher Förderer der kommunalen Gesundheitssysteme in der Weimarer Republik und Gründer von drei Akademien für Sozialhygiene, den Schools of Public Health in der damaligen Zeit.36 Wie von einer überwiegend deutsch-jüdischen Elite befürchtet, war die Bismarcksche Reduzierung der Gesundheitspolitik auf Krankenversorgungspolitik bis in unsere Zeit hinein eine nachhaltige gesundheits- und sozialpolitische Weichenstellung.

Die Sozialversicherungssysteme haben in Deutschland und Österreich zwei Weltkriege, die Verbrechen und Grausamkeiten des Dritten Reiches und die großen politischen Veränderungen der Nachkriegszeit überlebt. Die Grundprinzipien der Sozialversicherung und das Solidarprinzip bilden seit 1945 die Gestaltungsgrundlage der Sozialversicherung in der Zweiten Republik Österreich, seit 1949 in der Gesetzlichen Krankenversicherung in der (West-)Deutschen Bundesrepublik und seit 1991 der Krankenversorgungssysteme im wiedervereinigten Deutschland.

Nahezu unverändert blieb die Orientierung der Sozialversicherung am medizinischen Krankheits- und Versorgungsmodell, das auf dem Paradigma individueller Gesundheitsstörungen und medizinisch diagnostizierter Krankheiten beruht. Es schließt zentrale soziale und gesellschaftspolitische Faktoren kollektiver Gesundheit nicht ein, insbesondere die sozial ungerechte Verteilung der Lebens- und Gesundheitschancen, die sozialen Gesundheitsbedürfnisse und den bevölkerungsweiten Versorgungsbedarf. Das von der WHO in den 1980er Jahren vorgeschlagene und in der Folgezeit wiederholt erneuerte Modell Gesundheit für Alle/ Health for All gründet auf einem bevölkerungsbezogenen, determinantenorientierten Paradigma kollektiver und sozialer Gesundheitsentwicklung.37 Es bietet einen adäquaten wissenschaftlichen und praktischen Bezugsrahmen für die Auseinandersetzung mit den weltweiten Herausforderungen wachsender sozialer Ungleichheit und schwieriger Steuerungs- und Gestaltungsprobleme in den Gesundheitssystemen des 21. Jahrhunderts. Diese werden in wachsendem Maße durch die globalen Finanzmärkte und die internationale wissenschaftlich-technische Modernisierung getrieben.

Die Bismarcksche Sozialreform und mit ihr das solidarische Finanzierungsprinzip haben die Entwicklung leistungsfähiger Krankenversorgungssysteme in den Sozialversicherungsstaaten im 20. Jahrhunderts geprägt. Seit Jahrzehnten werden die in den Solidarsystemen entstandenen Finanzierungslücken immer häufiger durch steuerfinanzierte Finanzierungspakete und private Zuzahlungen geschlossen. Dabei hat das Prinzip der solidarischen Finanzierung deutlich an Einfluss verloren. Und es stellt sich die Frage, ob eine ausgewogene Steuerfinanzierung der Gesundheitssysteme mindestens ebenso gerecht oder gerechter als das solidarische Finanzierungssystem wäre. Die sozialpartnerschaftlichen Steuerungsstrukturen der Krankenversorgung haben gleichwohl eine gewisse Governance-Funktion behalten, die sie zu erneuern versuchen. Ein Beispiel dafür ist der Ende 2010 von der Österreichischen Sozialversicherung vorgelegte Masterplan Gesundheit – eine Einladung zum Diskurs an die Länder, Verbände und Organisationen im Gesundheitswesen mit dem Ziel, die Gesundheitspolitik zu erneuern und die Versorgungs- und Gesundheitsgerechtigkeit nachhaltig zu fördern.

5. Ausblick: Zukünftige Herausforderungen

Gerechtigkeit und Gesundheit sind verfassungsmäßig verbriefte Rechte. Sie sind auch in den europäischen Wohlfahrtsstaaten noch nicht in befriedigender Weise umgesetzt. Das Recht auf Gesundheit ist das oberste Recht im Gesundheitsbereich, es schließt das Recht auf eine bedürfnisgerechte und nachhaltige Kranken- und Pflegeversorgung ein. Die meisten Gesundheitssysteme in den entwickelten Industriestaaten und so auch die deutschen und österreichischen Krankenversorgungssysteme sind am Recht auf Krankenversorgung ausgerichtet. Aufgrund des heutigen Informations- und Kenntnisstandes dürfte die Zugangsgerechtigkeit in den beiden untersuchten Ländern auf einem angemessenen bis hohen Niveau liegen. Gemessen an den bei guter Gesundheit und Beschwerdefreiheit gelebten Lebensjahren scheint die Versorgungsgerechtigkeit sowohl in Deutschland als auch in Österreich geringer als in zahlreichen anderen europäischen Ländern zu sein.

Die Gesundheitspolitik in Deutschland und Österreich ist seit längerer Zeit und nicht ganz erfolglos bemüht, das Wachstum der Gesundheitsausgaben zu verlangsamen (Tabelle 2). Nachhaltige Effizienzsteigerungen durch wirksame Strukturmaßnahmen, Abbau von Über-, Unter- und Fehlversorgung und Rationalisierung sind bisher ausgeblieben. In Anbetracht der technologischen und demographischen Entwicklung ist es kaum wahrscheinlich, dass Sozialversicherungssysteme wie das österreichische oder das deutsche Gesundheitswesen mittel- und langfristig ohne Leistungsbegrenzungen (Rationierungen) werden auskommen können. G. Marckmann unterscheidet zwei Grundformen der Leistungsbegrenzung: explizite und implizite Leistungsbegrenzungen:

  • Explizite Leistungsbegrenzungen erfolgen „oberhalb“ der konkreten Arzt-Patient-Interaktion nach ausdrücklich festgelegten, allgemein verbindlichen Kriterien.
  • Implizite Leistungsbegrenzungen sind solche, bei denen die Zuteilung von Leistungen nicht nach allgemein verbindlichen Regeln, sondern jeweils im Einzelfall durch Leistungserbringer erfolgt.38

Explizite Leistungsbegrenzungen sind transparenter, konsistenter und gerechter, aber schwieriger umzusetzen und kostenintensiver. Implizite Leistungsbegrenzungen durch Budgetierungen oder finanzielle Anreize für Leistungserbringer und Patienten sind kostengünstiger und leichter zu realisieren, aber ethisch problematisch. Sie sind aber unvermeidbar und können die Ungleichheit fördern. Für die Vertreter der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite in den Gremien der Sozialversicherung dürfte die solidarische Finanzierung auch weiterhin bedeutsam sein, wenn die damit verbundenen gesundheits- und sozialpolitischen Steuerungsmöglichkeiten ihren Interessen entsprechen. Insgesamt besteht jedoch der Eindruck, dass die Herausforderungen auf den verschiedenen Governance-Ebenen neue Steuerungs- und Gestaltungsansätze erfordern.

Der Einfluss der Krankenversorgung auf die Gesundheit der Bevölkerung ist begrenzt. Eine stärker auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Gesundheitspolitik sollte eine bessere Balance von Gesundheits- und Versorgungsgerechtigkeit anstreben. Mehr Gesundheitsgerechtigkeit kann erreicht werden, wenn neben oder besser mit einer wirksamen individuellen Krankenversorgungsstrategie bevölkerungsweite determinantenorientierte Gesundheitsstrategien eingeführt und verwirklicht werden. Grundlage dafür ist das determinantenorientierte Paradigma kollektiver Gesundheitsentwicklung. Schweden hat 2003 begonnen, eine integrierte Gesundheitspolitik umzusetzen, die auf eine nachhaltige Reduktion sozialer Ungleichheit zielt. Sie geht von der Erkenntnis aus, dass es eine gesündere Bevölkerung nur in einer sozial gerechteren Gesellschaft geben kann. Damit sich die gesamte Gesellschaft auf dieses herausfordernde Ziel zubewegen kann, müssen gesellschaftliche Anstrengungen unternommen werden, um die zentralen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit nachhaltig im positiven Sinne zu verändern. Es gilt:

  • große Einkommensungleichheiten abzubauen und Armut noch wirksamer zu vermeiden
  • ungleiche Bildungschancen weiter abzubauen und Bildungswege besser aufeinander abzustimmen,
  • die sozialen Sicherungsnetze jenseits der Arbeit zu erhalten und das Verbleiben im Arbeitsmarkt nachhaltig zu fördern.

Das Politik-Modell Health in All Policies ist ein geeignetes Rahmenkonzept für den Aufbau einer besser integrierten nachhaltigen Gesundheitspolitik. Es ist Teil der von der EU-Kommission empfohlenen Europäischen Gesundheitsstrategie 2008-2013 „Gemeinsam für die Gesundheit“.39 Jedes Land ist frei zu entscheiden, ob und wie es seine Gesundheitspolitik im Sinne dieser Strategie auf einen gangbaren Weg bringen will.

Referenzen

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Anschrift des Autors:

Em.Univ.-Prof. Dr. R. Horst Noack, Ph.D.
Institut für Sozialmedizin & Epidemiologie
Universitätsplatz 4/III, A-8010 Graz
horst.noack(at)meduni-graz.at

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Anthropologie und Bioethik
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