Monokultur der Effizienz: Arbeitswelt als Auslöser psychischer Krankheiten

Imago Hominis (2014); 21(2): 111-114
Klaus Dörner

Zusammenfassung

Die Industrialisierung der Arbeit brachte unter Marktbedingungen nicht nur den Wachstumszwang, sondern auch den Imperativ permanenter Beschleunigung und damit eine Monokultur der Effizienz. Wo dies die Grenzen des Menschengemäßen sprengte, kam es vermehrt zu psychischen Leidenszuständen. Gleichzeitig (ab 1800) erfolgte die rein medizinische Vereinseitigung der ursprünglich auch philosophisch-anthropologischen Disziplin der Psychiatrie – mit der Folge, dass die psychischen Reaktionen auf die ständige Leistungsverdichtung zu „Krankheiten” verdinglicht wurden. Diesem Teufelskreis können wir nur entkommen, wenn wir einmal die Psychiatrie wieder als eine sowohl philosophische als auch medizinische Disziplin verstehen und wenn wir zum anderen das humanisierende Potenzial des Umbruchs von der Industrie- zur Dienstleistungsepoche zu nutzen lernen.

Schlüsselwörter: Historische Anthropologie, Industrialisierung, Effizienzsteigerung, Medizinisierung der Psychiatrie, Dienstleistungsepoche

Abstract

Industrialisation of work brought about the pressure of economic growth and, hence, an imperative for speeding up, resulting in a “monoculture of efficiency”. When this becomes too much, the result is psychic ailment. At the same time (from 1800 on) psychiatry changed from a philosophic-anthropologic discipline to an unbalanced “medicine”: Psychic reactions to the increasing pressure for efficiency were transformed into the triviality of “diseases”. A way out of this vicious circle must be based on our efforts to appreciate psychiatry as a philosophical as well as a medical  discipline. In addition, we should try to transform an industry-dominated age into an age of service and attendance.

Keywords: Historical Anthropology, Industrialisation, Enhanced Efficiency, Psychiatry as a Medical Discipline, Age of Service and Attendance


In der Perspektive der historischen Anthropologie spielen für dieses Thema so viele Faktoren eine Rolle, dass ich mich hier auf 10 Thesen beschränke:

These 1

Mit dem Beginn der Industrialisierung (im deutschsprachigen Raum im ersten Drittel des 19. Jh.) zerfiel die bisher einheitliche Sinnwelt des einen Hauses mindestens in die Welt der sich industrialisierenden Arbeit und die Welt des jetzt nur noch familiären Wohnens, die Trennung symbolisiert im Arbeitsweg.

These 2

Da sich nun nicht nur die Arbeit in die Fabriken (später Büros) entfremdete, sondern zugleich auch die Erziehung und Bildung ans Schulsystem fiel und das familiäre und nachbarschaftliche Helfen sich professionalisierte, wurde die so von ihrem sozialen Sinn immer mehr entlastete Familie zum Ort des nun isoliert erlebbaren Psychischen, weil nicht mehr, wie bisher, körperlich und sozial eingebettet (immerhin hatte Aristoteles die Seele noch die Lebendigkeit des Körpers genannt). Das war eine Voraussetzung dafür, dass man nun auch psychisch erkranken konnte.

These 3

Das Grundgesetz der Industrialisierung war währenddessen die permanente Beschleunigung von allem – Produktivität, Mobilität, Kommunikation usw.1 Der zu diesem Fortschrittsideal passende Menschentyp war also – unter Marktbedingungen – nicht nur der leistungsfähige, sondern der endlos leistungssteigerungsfähige Mensch.

These 4

Dass man lange Zeit dafür Glauben fand, man könne auch die damit unvermeidlich verbundene Verdichtung der Arbeit unendlich steigern, hängt nun mit dem gleichzeitigen Prozess der Medizinisierung des Psychischen zusammen – ebenfalls der Industrialisierung geschuldet.

These 5

Denn galt noch den Gründungspionieren der Psychiatrie als einer eigenständigen Disziplin um 1800 diese zur Hälfte als der Philosophie und Anthropologie und nur zur anderen Hälfte als der Medizin zugehörig – ausgedrückt etwa in dem Ambivalenzkonflikt zwischen „Psychikern” und „Somatikern”, so wuchs mit dem Siegeszug der Industrialisierung und der Vernaturwissenschaftlichung der Medizin nicht nur die Medizinisierung des Psychischen, sondern auch der Fortschrittsglaube an die technische Machbarkeit einer leidensfreien Gesellschaft.

These 6

Je mehr nun im 19. und 20. Jh. die ursprüngliche philosophisch-anthropologische Sinnbindung psychischer Störungen entfiel, desto einseitiger wurden sie nur noch nach dem medizinischen Defektmodell als „Krankheiten” den einzelnen, leistungsbeeinträchtigten Individuen zugeordnet, die man der Effizienz wegen fabrik-analog in möglichst große Institutionen ausgegrenzt und gesellschaftlich unsichtbar gemacht und in der Folge dadurch so entwertet hat, dass schließlich, aber doch schon im Ersten Weltkrieg („Hungersterben”) die professionell-psychiatrische Bereitschaft zur Vernichtung der „Unheilbaren” möglich wurde, was man im Zweiten Weltkrieg nur noch ein wenig radikalisieren musste. Diese Medizinisierung des Psychischen erlaubte systemkonform das ungehinderte Fortschreiten der industriell-ökonomischen Leistungsverdichtung auch über die Grenzen des Menschengemäßen hinaus.

These 7

Jetzt ist an ein zu Unrecht fast vergessenes Intermezzo zu erinnern: Denn die meisten der ersten Nachkriegspsychiater (1945 – 1965) sind zugleich die erste Generation, die seit der Gründergeneration um 1800 erstmals wieder das philosophische Bein der Psychiatrie und damit den Sinnbezug psychischen Leidens (getrennt von ihrer Reifizierung und Reduktion auf rein medizinische Krankheiten) stark zu machen versucht haben, egal, ob sie phänomenologisch, existenzphilosophisch, daseinsanalytisch, anthropologisch gedacht oder sich auf Kant oder die Dialogphilosophen bezogen haben. Exemplarisch erinnere ich nur an Viktor Frankl, der – aus Auschwitz zurück – in Wien in „Der leidende Mensch”2 nicht nur (wie Freud) auf die Arbeits- und Genussfähigkeit, sondern auch auf Leidensfähigkeit des Menschen setzte und seinen psychiatrischen Patienten empfahl, ihr Leiden nicht nur auf sich zu beziehen, sondern auch um des oder der Anderen willen zu leiden.

These 8

Aber obwohl wir künftig von diesem anthropologischen Selbstverständnis der Psychiatrie wohl am meisten profitieren können, war inzwischen die industrielle Monokultur der Effizienz und das ökonomische Wachstum der Wirtschaft als Selbstzweck so dominant und hatte zudem das System der sozialen Sicherung sich so zu eigen gemacht, dass für die Erklärung eines zunächst unklaren psychischen Unwohlseins der früher breite Fächer etwa politischer, sozialer, kultureller, ökonomischer oder religiöser Gründe jede Glaubwürdigkeit verloren hatte. Vielmehr fand zur Erklärung ein es größeren oder auch kleineren psychischen Unwohlseins nur noch die medizinische Anerkennung als einer „Krankheit” Akzeptanz, die dem einzelnen, isolierten und leistungsunwerten Individuum zuzuordnen ist, damit die Monokultur der Leistungsverdichtung möglichst unberührt davon bleiben kann.

Da nun die schweren psychischen Störungen sich auch interkulturell kaum vermehren lassen, ist dieses Verfahren, mit dem sich vor allem die leichteren Befindlichkeitsstörungen fast beliebig bis zu „Volkskrankheiten” vermehren lassen, systemkonform – zumal das gesamte medizinisch-therapeutische Hilfesystem davon profitiert und obwohl für viele Biographien andere nicht-medizinische Erklärungen und Hilfen sinnvoller sein könnten.

These 9

Zum vollständigen Verständnis unseres Themas fehlt jetzt nur noch die Diskussion der letzten fundamentalen Veränderung der Arbeitswelt: Denn unter dem Aspekt des Arbeitsmarktes spricht man etwa seit 1980 vom Ende der 150-jährigen Industrie-Epoche und vom Beginn der Dienstleistungs-Epoche.3 Für uns bedeutet das konkret, dass man im klassischen Industriebereich, also zur Bearbeitung von Sachen, kaum noch neue Arbeitsplätze braucht, zumal man die Effizienzsteigerung jetzt kostengünstiger vermehrt an Maschinen weitergeben kann, während neue Arbeitsplätze fast nur noch im Dienstleistungsbereich, also zum Arbeiten mit oder für Menschen, entstehen können, wenn man denn eine massive Arbeitslosigkeit verhindern will.

These 10

Das bedeutet zumindest die Chance für eine Rehumanisierung der Arbeitswelt, vom Wiedergewinn ihrer Sinnorientierung bis hin zur Rückläufigkeit der drei großen Fortschritts-Errungenschaften der Industrie-Epoche: Denn

  1. kann an die Stelle der fabrik-analogen Institutionalisierung von leistungsunwerten Menschen nun die Integration von Alterspflegebedürftigen, Dementen, Behinderten, psychisch Kranken und auch des Sterbens in die eigene Lebenswelt, in ihren Sozialraum und in ihre Nachbarschaft erfolgen;
  2. muss die allzu forcierte Professionalisierung des Helfens – schon wegen des Arbeitskräftemangels – z. T. wieder an die Bürger zurückgegeben werden, was wegen des von ihnen wiederentdeckten „Helfensbedürfnisses” zu ihrer psychosozialen Gesundheit beiträgt, weshalb man empirisch seit 1980 von einer zunehmenden „Nachbarschaftsbewegung” (bis zum „Bürger-Profi-Mix”) sprechen kann;
  3. ist auch die übertriebene Medizinisierung sämtlicher Widerfahrnisse der Menschen rückläufig, weshalb selbst die Demenz heute mehr als Schicksal, denn als Krankheit gilt4 und weshalb grundsätzlich – als Erbe der philosophischen Psychiatergeneration (z. B. Frankl) – psychische Störungen eher als Beziehungsstörungen und weniger als „Krankheit” eines isolierten Individuums aufgefasst werden. Deshalb heißt heute auch die ärztliche Grundbeziehung die „Arzt-Patienten-Angehörigen-Beziehung”.5

Schließlich stößt Effizienzverdichtung beim Umgang mit Menschen schneller an Grenzen als bei der Bearbeitung von Sachen, weshalb man vermehrt auf Menschen (im dritten Lebensalter) trifft, die von sich sagen: „Ich würde am liebsten wie früher arbeiten, solange ich lebe, schon wegen meiner ‚Bedeutung für Andere’, die ich zum Gesundsein brauche, aber nur unter der Bedingung, dass der Leistungsbeschleunigungszwang wegfällt”.

Andererseits dürfen wir uns aber auch nichts vormachen: Wenn wir wirklich in einem Epochen-Umbruch stehen sollten – von der Industrie- zur ökologischen Dienstleistungs-Epoche, dann stehen wir vor der schweren Aufgabe, die eigenen Gesetze und Normen der uns eher noch unbekannten Dienstleistungs-Epoche zu erforschen und uns anzueignen; denn solange wir diese Aufgabe nicht gelöst haben, werden wir immer dazu neigen, die uns bekannten Gesetze und Normen der Industrie-Epoche, die einzigen, die wir gelernt haben und von denen wir alle geprägt sind, auf die uns doch unbekannte neue Epoche zu übertragen. Wir werden dadurch einen Denkfehler auf den anderen häufen, etwa lieber vom Versprechen der leidensfreien Gesellschaft weiterhin träumen, was dazu führt, dass wir immer geringere Schmerzen schon für unerträglich halten; wir werden durch Ausweitung des medizinischen Krankheitsbegriffs auf immer geringere Befindlichkeitsstörungen diese erst zu (chronischen) Krankheiten machen; und wir werden uns eine Arbeitswelt ohne Effizienzverdichtung mit ihren etwaigen Verzichtleistungen vorsichtshalber gar nicht erst vorstellen und uns irgendwann selbst zuzuschreiben haben, das humanisierende Potenzial der neuen Dienstleistungs-Epoche nicht genutzt zu haben. Denn ohne harte Vorarbeit und ohne Risiko ist das nicht zu haben.

Referenzen

  1. Rosa H., Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt (2005)
  2. Frankl V., Der leidende Mensch, Huber, Bern (2005)
  3. Dörner K., Helfensbedürftig, Paranus, Neumünster (2012). Ich habe hier alles zusammengetragen, was mir zu der Hypothese eines Epochenumbruchs aufgefallen ist, auch den Umstand, dass wir uns diesem Umbruch über einen „Fortschrittsschock” nähern, weil an die Stelle der versprochenen leidensfreien Gesellschaft schon über den demographischen Wandel Leiden und Hilfebedarf sich nicht verringert, sondern vermehrt haben.
  4. Whitehouse P. J., George D., Mythos Alzheimer, Huber, Bern (2009)
  5. Dörner K., Der gute Arzt, Schattauer, Stuttgart (2003)

Anschrift des Autors:

em. Univ.-Prof. DDr. Klaus Dörner
Privat: Nissenstraße 3, D-20251 Hamburg

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: