Editorial
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Was hier wie eine Binsenweisheit klingt, hat doch in der Medizin seine eminente Bedeutung. Die Körperfunktionen betreffend gibt es gravierende Unterschiede zum Erwachsenen in der Metabolik, der Abwehrkräfte, aber auch der Reparationsvorgänge. Hier besteht eine enorme Bandbreite von Reaktionsmöglichkeiten des Organismus, die entlang der Lebenslinie eine große Varianz entwickeln, bedingt durch Lebensstil, Umweltnoxen, Hormone, Genetik und Epigenetik.
Dies gilt gleichermaßen für die kindliche Psyche mit ihren mannigfaltigen Entwicklungsmöglichkeiten, Traumen und deren Verarbeitung (Resilienz), einem ständigen Sammeln und Abwägen von Erfahrungen – guten wie schlechten –, die zur Prägung eines ganzen Lebens hinreichen können.
Im Falle von mehr oder weniger akuten Schmerzen erfährt diese Evolution der psychosozialen Entwicklung einen Bruch: Das Kind leidet früher und anders als der Erwachsene. Je jünger das Kind, das Schmerz erleidet, desto weniger hat es die Möglichkeit, auf analoge Situationen und deren Ausgang in der Vergangenheit zurückzugreifen, wie dies regelhaft der Erwachsene tut. Dadurch gerät das Kind in eine bestürzende neue Situation, besetzt von Angst.
Bei schwerer Krankheit gibt es weder im noch kurzen Leben des Kindes noch bei den Eltern eine ernsthafte Entsprechung.
Eine besondere Variante des Schreckens ist die Diagnose einer malignen Erkrankung beim Kind. Die Familien (und es sind neben dem Patienten immer alle betroffen) erfahren dann in kürzester Zeit, was langes Leiden und Lebensbedrohung bedeuten. Damit ist ein tiefgreifender Lernprozess verbunden, dem sich nicht nur Kind und Mutter, sondern auch die übrige Familie unterziehen muss.
Nach zweifelsfreier Feststellung der kindlichen Krebserkrankung tauchen häufig natürliche, instinkthafte Fragen nach der Ursache auf und – äußerst belastend – nach etwaigem schuldhaften Verhalten, dem kausal die Ontogenese anzulasten sei. Bei vielen Eltern, insbesondere bei Müttern, wird schlechtes Gewissen verbalisiert. Schlimmer noch ist es, wenn eine Schuldzuweisung an Dritte oder krampfhafte Erklärungsversuche von vermeintlichen Zusammenhängen in der Biographie des Patienten gesucht werden.
Hier setzt Reinhard J. Topf (Psychosoziale Abteilung, St. Anna Kinderspital, Wien) mit seinem Beitrag an, wenn er sich mit der Überschätzung von psychologischen Faktoren bei einer Krebsentstehung auseinandersetzt. Gerade in einer hochtechnisierten Kinderkrebsklinik wird dank des organisch gewachsenen, psychosozialen Dienstes in vielfältiger Weise auf die komplexen Nöte der betroffenen Familien eingegangen. Daher werden auch prima vista irreale Ängste ernst genommen und müssen unter Respektierung der Würde dieser Menschen in Krisensituationen besprochen werden. Hier sind nicht nur die ethischen Prinzipien der Benevolenz und der Fürsorge gefordert, sondern auch eine Reihe von Tugenden wie Geduld, Klugheit, Beharrlichkeit und Einfühlungsvermögen.
Mit dem Problem des Schmerzes beim Kind, verbunden mit Objektivierungs-, Semiquantifizierungs-, und Therapieoptionen, befasst sich die Kinderanästhesistin Christiana Justin (Medizinische Universität Graz). Sie weist in die psychologischen und humanitären Probleme ein, die der Umgang mit dem Schmerz eines Kindes mit sich bringt. Beim Schmerz als zur Gänze subjektivem Erleben ist es wie mit einem Notruf, der nur vom Hilfsbedürftigen vernommen wird. Andere subjektive Missempfindungen wie Atemnot, Juckreiz oder Schwindelgefühl bieten dem geneigten (und erfahrenen) Untersucher immerhin einige objektive Anhaltspunkte, die für die Diagnostik von spezifischem Wert sind.
Justin legt großen Wert auf das Phänomen des Schmerzerlebnisses, das nicht nur von der Heftigkeit des Schmerzempfindens, sondern auch der Erinnerung an ähnliche Schmerzen und der Angst vor einem unwägbaren, unbekannten, aber gefahrvollen Zustand bestimmt wird. Die rechte „Einordnung“ eines Schmerzempfindens ist daher bei jüngeren Kindern ohne „Schmerzerfahrung“ besonders schwierig und stellt ein aggravierendes Moment dar. In der Therapie tritt sie für das Konzept eines modernen biosozialen Krankheitsmodells ein, das die große Varianz der Haupt- und Nebenursachen berücksichtigt. Sie plädiert für die bindende Verpflichtung zur kindlichen Schmerzerfassung und -therapie, da sich erlebter Schmerz als prägend für ein ganzes Leben dieser Kinder erweist.
Der Fallbericht beschäftigt sich mit einer ethisch brisanten Frage: der Therapiereduktion bei genetisch schwer geschädigten Neugeborenen. Im vorliegenden Fall wird ein Kind mit Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) unter Wissen und ausdrücklichem Wunsch der Eltern geboren. Welche medizinischen Maßnahmen sind für das schwerstgeschädigte Neugeborene, für das ein Überleben von wenigen Tagen oder Wochen prognostiziert ist, überhaupt sinnvoll? Wie klein müssen Überlebenschancen sein, um auf eine lebensverlängernde Therapie zu verzichten? Solche Situationen stellen für Eltern, Ärzte und das Pflegepersonal eine große Herausforderung dar, die nur dank einer medizinisch kompetenten, vorausschauenden und einfühlsamen Kommunikation zwischen diesen drei Personenkreisen gemeistert werden kann.
Häufig wird die Mutter mit dem Angebot konfrontiert, die Schwangerschaft vorzeitig zu beenden. Auch auf diese Frage – Was heißt es, die Menschenwürde in so einer dramatischen Situation zu achten? – geht der Fallkommentar von Enrique H. Prat (Ethik, IMABE) ein.
Weitere zwei Beiträge zu aktuellen Themen runden die vorliegende Ausgabe ab: Jakob Cornides (Jurist, Brüssel) diskutiert kritisch die in Österreich geplante Änderung des Fortpflanzungsmedizingesetzes, wonach sich lesbische Paare via anonymer Samenspende einen Kinderwunsch erfüllen lassen könnten. Er zeigt die Konsequenzen und Hintergründe einer solchen Ausweitung auf.
Die Pharmakologin und Ethikerin Margit Spatzenegger legt die Problematik der Endokrinen Disruptoren (EDCs) dar. Mittlerweile werden EDCs u. a. von der Europäischen Umweltbehörde mit einer Reihe von gesundheitlichen Schädigungen des Menschen in Zusammenhang gebracht. Spatzenegger analysiert, welche Herausforderungen die Umwelt- und Tierethik für Lebensstil und Toxikologie bedeuten und plädiert für einen tugendethischen Ansatz.