Editorial

Enrique H. Prat

Derzeit ist ein Diskurs über den Zusammenhang zwischen Religiosität und Gesundheit in akademischen medizinischen Kreisen immer noch eine Rarität. Erst nach und nach gestehen wir uns wieder ein, was die Medizin als Kunst des Heilens längst gewusst hat: dass im Menschen Kräfte wirksam sind, die jenseits der bloß naturwissenschaftlichen Natur liegen. Dieser Zusammenhang geriet im szientistischen Zeitalter in Vergessenheit, wurde verdrängt oder gar geleugnet. Auch heute wird die Dimension des Religiösen erst in Randbereichen des akademischen Medizinbetriebes wahrgenommen.

Als bezeichnende Ausnahme dafür kann das „Outing“ von Marsha M. Linehan gelten, die 2011 die Öffentlichkeit und die akademische Welt quasi in Schock versetzte. Die renommierte Professorin für Psychologie an der University of Washington in Seattle hatte in den 1980er Jahren eine Therapie für stark suizidalen Frauen bei Borderline Persönlichkeitsstörungen (BPS) entwickelt, die sogenannte „Dialektisch-Behavoriale Therapie“ (DBT). Sie wird mittlerweile weltweit angewendet und gelehrt.

Als Linehan im Juni 2011 erstmals öffentlich erzählte, wie es zur Entstehung dieser Therapie kam (vgl. New York Times, 23. 6. 2011, online), waren die Reaktionen gespalten. Die Psychologin und Therapeutin erzählte, dass sie selbst als junges Mädchen an einer Borderline-Störung gelitten hatte und im Jahr 1961 im Alter von 17 Jahren stationär aufgenommen werden musste. Sie galt als sehr schwierige Patientin: Autoaggression, Selbstverletzungen, mehrere Selbstmordversuche. 1963 wurde sie – wie sich später herausstellte fälschlicherweise – als schizophren diagnostiziert und 26 Monate lang mit schwersten Psychopharmaka, Psychoanalyse und Elektrokrampftherapie behandelt. Es folgte 1967 eine weitere Hopsitalisierung wegen autoaggressiver Attacken. Doch dann kam die Wende: In jener Zeit, als die Ärzte sie eigentlich schon aufgegeben hatten und ihr kaum Chance gaben, ein Leben außerhalb eines Krankenhauses zu führen, machte Linhan, wie sie erzählt, eine religiöse Erfahrung, die ihre Heilung bedeutet und sie Jahre später, als sie in den 1980er Jahren als Psychologin bereits wissenschaftlich tätig war, zum neuen Konzept der Therapie von BPS geführt hat. Im Gebet, nachts, in der Kapelle der Spitalsklinik, als sie „auf das Kreuz“ blickte, so erzählte Linhan, hatte sie eine so überwältigende Erfahrung eines „anderen Guten“, dass sie, als sie ins Zimmer zurücklief, zum ersten Mal in ihrem Leben zu sich sagen konnte: „I love myself.“ Diese religiöse Erfahrung war der Ausgangspunkt ihrer Heilung – und ihres neuartigen Therapiekonzepts der DBT für chronisch suizidale  Patientinnen mit Borderline-Störung, das inzwischen auch auf verschiedene andere Patientengruppen (Jugendliche, Patienten mit Essstörungen, im Strafvollzug und andere) spezialisiert ist.

Linhans öffentliches Bekenntnis wurde außerhalb der akademischen Kreise als mutig angesehen – eine Glaubenserfahrung heilt eine junge Frau und weckt in ihr den Wunsch, anderen Betroffenen zu helfen –, zugleich hielten es andere riskant für ihre Karriere und die zukünftige Akzeptanz ihrer – ohnehin längst anerkannten und praktizierten – Therapie (vgl. dazu etwa Klaus Baumanns Darstellung aus der Sicht des Theologen und Psychotherapeuten in Spiritualität und Gesundheit, Peter Lang, 2012).

Erst in jüngerer Zeit haben einige wenige psychiatrische Teams, vor allem in den Vereinigten Staaten, den Faktor Religiosität rehabilitiert und zum Forschungsgegenstand erhoben. Die Berührungsängste waren bis dahin stark: 1960 etwa kam ein Review-Artikel im American Journal of Psychiatry zur Schlussfolgerung, dass keinerlei Einfluss von Religion auf die mentale Gesundheit nachgewiesen werden könne. Ab Mitte der 1980er Jahre wurde nach und nach Religion als relevante Dimension für die Psychiatrie in einzelnen Studien thematisiert. Ein Forscherteam um Harold G. Koenig von der Duke University gab das Handbook of Religion and Health heraus. Darin wurden über 3.000 veröffentlichte quantitative Studien auf die Relevanz von Religion bzw. Spiritualität hinsichtlich verschiedener psychischer Krankheiten wie Depression, Selbsttötung, Angst und Sucht untersucht. Der Zusammenhang war signifikant, obwohl die meisten Psychiater eben diesen leugneten. Ebenso fanden sie einen hohen Einfluss von Religiosität auf Wohlbefinden, Optimismus und Lebenssinn.

In Europa gibt es inzwischen an manchen Universitäten Lehrstühle und Institute für Spiritual Care (geistige/religiöse Krankenpflege), die aber noch nicht wirklich ins akademische System integriert sind. Auch in Österreich gibt es ein Institut für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie, das von medizinischen Universitäten nicht wirklich wahrgenommen wird. Hier ist noch ein weiter Weg zu gehen.

Ein Baustein dafür kann die vorliegende Nummer von Imago Hominis sein, in dem wir schwerpunktmäßig die Auseinandersetzung mit dem Thema Spiritualität in der Medizin fortsetzen. Arndt Büssing, Mediziner und Professor am Zentrum für Integrative Medizin (Universität Witten/Herdecke) zeigt anhand einiger empirischer Studien, dass viele Patienten mit chronischen Erkrankungen spirituelle Bedürfnisse haben, die im Gesundheitssystem zumeist unberücksichtigt bleiben. Die Wirkung der Religiosität sei kein Therapeutikum, sagt der Wiener Philosoph Wilhelm Donner. Eine allfällige therapeutische Wirkung sei im Bereich nutzbringender und wünschenswerter Placebo-Effekte anzusiedeln, gleichwohl der Placebo-Effekt nicht die gesamte autonome Dimension der Religiosität erklärt.

Die Theologin Katharina Westerhorstmann (Universität Bonn) stellt in ihren anthropologisch-ethischen Überlegungen die Frage, inwieweit Krankheit einen Menschen reifen lassen kann. Während durch die moderne Medizin das Bild eines Lebens ohne Leid propagiert wird, stößt der Mensch früher oder später auf seine Kontingenz und Grenze durch Krankheit. Westerhorstmann zeigt, wie diese „Zumutung“ für den Menschen und seine Umgebung zum Katalysator werden kann, das Leben als anvertraute Gabe und Aufgabe zu erkennen. Clemens Pilar, Theologe und Priester (Kalasantiner, Wien) legt dar, dass neben sinnvollen Ansätzen, die die spirituelle Dimension des Menschen im therapeutischen Bereich berücksichtigen, besonders auf dem Gebiet der Alternativmedizin häufig Therapien zu finden sind, die unter dem Etikett der „Ganzheitlichkeit“ in Wahrheit die Personalität des Menschen leugnen und lediglich eine Pseudospiritualität anbieten.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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