Geschichtlicher Überblick über Infantizid und den Umgang mit schwerst geschädigten Neugeborenen
Zusammenfassung
Der Umgang mit schwerst geschädigten Neugeborenen bzw. missgebildeten Kindern hat im Laufe der Menschheitsgeschichte die Betroffenen immer wieder vor entscheidende Fragen nach dem Umgang bzw. auch nach der medizinischen Behandlung dieser Kinder gestellt. Durch die in der Vergangenheit geringe Therapie und Versorgungsmöglichkeit wurde das Verhalten meist auf die Wahl zwischen pflegerischer Betreuung und Tötung dieser Kinder reduziert. Infantizid wurde in der Vergangenheit sowohl aus ökonomischen, religiösen und eugenischen Gründen als auch aus sozialen Gründen des Oberlebens praktiziert. Der historische Rückblick ist vor allem deshalb interessant, weil er uns einerseits die unterschiedlichen Denkansätze vor Augen führt und uns gleichzeitig die Frage stellt, wie heute mit schwerst behinderten Neugeborenen umgegangen wird. Dieser Umgang ist gleichsam ein Spiegel für das Verhalten unserer Gesellschaft gegenüber Behinderten im Allgemeinen. Streben wir eine Gesellschaft ohne Behinderte an oder akzeptieren und anerkennen wir sie als gleichwertige Mitglieder unserer Gesellschaft?
Schlüsselwörter: Behinderte als Belastung für die Gemeinschaft; Faktoren des Infantizids im Laufe der Geschichte; der behinderte Mensch als "monstrum"; Stellung christlicher Autoren im Laufe der Geschichte zu Behinderten; Darwinismus und Nationalsozialismus
Abstract
All during the history of humanity, how to deal with badly damaged newborn infants and/or deformed children and what if any medical treatment should be given them, has always been le deciding question for the persons involved in this matter. In the past, due to the poor possibilities of medical therapy and treatment, the question was generally reduced to the choice of just caring for the children as best as one could or of putting them to death. In the past infanticide was committed for economic, religious and eugenically reasons as well s reasons of social survival. The historical review is above all interesting for us because on the other one hand it shows us the many different methods of thought and at the same time raises the question of how badly deformed children are dealt with today. These dealings mirror, at the same time, how present day society treats handicapped people in general. Are we striving for a society without handicapped or are we willing to accept and acknowledge them as equally valued members of our society?
Keywords: Handicapped as a burden for society, Facts on Infanticide in the run of history, the handicapped person as a "Monster", Standpoint of Christian authors during the run of history, Darwinism and National Socialism.
1. Allgemein
Der Umgang mit schwerst geschädigten Neugeborenen bzw. missgebildeten Kindern hat im Laufe der Menschheitsgeschichte die Betroffenen immer wieder vor entscheidende Fragen nach dem Umgang bzw. auch nach der medizinischen Behandlung dieser Kinder gestellt. Durch die in der Vergangenheit geringe Therapie- und Versorgungsmöglichkeit wurde das Verhalten meist auf die Wahl zwischen pflegerischer Betreuung und Tötung dieser Kinder reduziert. Dass die Diskussion um den rechtlichen Umgang mit schwerst geschädigten Neu- bzw. Frühgeborenen in unserem übertechnisierten Jahrhundert wieder aufgeflammt ist, hat weitschichtigere Gründe, auf die ich später noch zurück kommen werde.
Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte Infantizid sowohl aus ökonomischen, religiösen und eugenischen Gründen, als auch aus sozialen Gründen des Überlebens praktiziert wurde.
2. Infantizid in den Bräuchen und Sitten der Völker
Die vielfach praktizierten Kindestötungen, die in den Bräuchen und Sitten früherer Völker verankert waren, erscheinen unserem aufgeklärten Denken als grausam und sinnlos. So war es bei den Afrikanern der Region Fetu an der Goldküste und den Bewohnern an der Loango-Küste üblich, Missgeburten zu töten.1
Indianer des Pampasgebietes überließen missgebildete und kranke Kinder den wilden Hunden und Raubvögeln.2
Bei den Nezsilik-Eskimos durften nur 10-20% der neugeborenen Mädchen überleben. Der Rest wurde mit Fellen erstickt, im Sommer in einem ausgehobenen Grab zum Sterben liegengelassen oder an den Eingang eines Iglus gelegt, so dass durch das Schreien des Kindes für alle ersichtlich war, dass dieses Kind zur Adoption freigegeben werde. Die Zahl der Mädchen wurde deshalb schon bei der Geburt reduziert, um sie zahlenmäßig an die bei der Jagd ums Leben gekommenen Männer anzupassen.
Der Stamm der Kung in der Kalahari-Wüste tötete missgebildete oder kranke Kinder, einen Zwilling bei einer Zwillingsgeburt sowie das Kind einer zu alten Mutter mit der Begründung, dass der Stamm nicht fähig sei, diese Kinder ausreichend zu versorgen.3
Auch bei den Bewohnern der polynesischen Insel Tikopia soll bis zur Ankunft christlicher Missionare Infantizid zum Alltag gehört haben.
In Japan war der Infantizid, der neben missgebildeten Kindern vor allem gesunde Mädchen betroffen hat, bis ins 18. Jahrhundert und in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet.4
3. Klassisches Zeitalter
Nach dem Gesetz Lykurgs soll es Pflicht der Eltern gewesen sein, die körperliche Beschaffenheit des Neugeborenen durch die Versammlung der Gemeindeältesten prüfen zu lassen, die darüber entschieden, ob ein Kind aufgezogen oder in der Schlucht des Taygetus ausgesetzt wurde.5
Auffällige Geburten wurden als Zeichen der Götter gedeutet und als monstrum, portentum, ostentum, prodigium bezeichnet, d.h. im Namen selbst, den man diesen Kindern zuerkannte, steckte eine tiefer liegende Bedeutung: Vorhersage, Ankündigung, Vorzeichen, Warnung.
Selbst für Platon war die Kindestötung offenbar eine durchaus akzeptable Praxis des idealen Staates.6
Bei den Römern war es üblich, Neugeborene in, wie es hieß, „Tiergestalt", Zwitter und Kinder mit körperlichen Missbildungen, wie z. B. fehlenden Gliedmaßen, Organen oder abnormen Körperteilen, nicht aufzuziehen, sondern beiseite zu schaffen.
Sie sollten den Blicken der Menschen entzogen werden, damit nicht andere Missbildungen durch das „Versehen" anderer Frauen entstünden. Nach dieser Lehre konnte der Fötus eine Gestalt annehmen, die dem Bild eines Menschen oder Tieres ähnlich war, das die Frau während der Empfängnis oder Schwangerschaft gesehen oder durch das ihr Gemüt erregt wurde.7
Auch bei den römischen Schriftstellern wie Livius (59 v. Chr. bis 17 n. Chr.), Seneca (bis 65 n. Chr.) und auch Cicero finden wir immer wieder Berichte, wonach missgestaltete Kinder ausgesetzt oder getötet wurden.8 Erst mit dem Verfall des römischen Reiches wurden missgestaltete Kinder nicht mehr als Götterzeichen gefürchtet. Sie wurden vielmehr als Volksbelustigung bestaunt und wurden als Sensation vorgeführt. Doch schon damals gab es einen Diskurs darüber, ob Neugeborene, die Missbildungen aufwiesen, medizinisch versorgt werden sollten.
So vertrat Galen (129 bis 199 n. Chr.), neben Hippokrates einer der bedeutendsten Mediziner seiner Zeit, die Auffassung, dass nur Neugeborene ohne Makel weiter versorgt werden sollten.9
Auch Sopranus von Ephesos (um 100 n. Chr.) wird eine strengere Selektion der aufzuziehenden Säuglinge zugeschrieben. Nur ein Neugeborenes, dessen Mutter zur Zeit der Schwangerschaft gesund war, das zur rechten Zeit geboren wurde, sogleich kräftig schrie, dessen Gliedmaßen, Sinnesorgane etc. in einem normalen Zustand waren, nur solche Kinder wurden versorgt und am Leben erhalten.
4. Frühchristliche Auffassung
In der Didache einer frühchristlichen Gemeinderegel des 1. Jahrhunderts n. Chr., die eine Art Ge- und Verbotskatalog darstellt, wird das Kind explizit vor Abtreibung und Infantizid geschützt.10 Auch im Barnabas-Brief findet sich das selbe Verbot: "Du sollst kein Kind durch Abtreibung töten, noch ein geborenes wieder umbringen."11
Für Christen war Abtreibung, Kindestötung und Kindesweglegung mit Todesfolgen Mord. Dieses Vergehen tauchte im kirchlichen Strafrecht allerdings zusammen mit dem Ehebruch auf, wobei oft drei kanonische Vergehen gemeinsam genannt wurden: Abfall vom Glauben, Unzucht und Mord. Das wiederum lässt den Schluss zu, dass vorwiegend uneheliche Kinder und nicht missgebildete Kinder getötet wurden, denn diese werden weder in den Synodenakten noch in den Bußbüchern explizit erwähnt.
Augustinus setzte sich sehr ausführlich mit den so genannten „Missgeburten" auseinander. Er rechtfertigt seine Meinung damit, dass Gott als Schöpfer am Besten wisse, wann, wo und wie er etwas schaffen müsse: „Er versteht sich auch darauf, bald aus gleichen, bald aus verschiedenen Teilstücken das Teppichmuster des schönen Weltalle zu weben. Aber wer das ganze nicht zu überschauen vermag, wird durch die vermeintliche Hässlichkeit einer Teilstücks beleidigt, weil er nicht erkennt wozu es passt und worauf es sich bezieht."12 Wegweisend für die kirchliche Lehre des ersten Jahrtausends war die Nüchternheit des Augustinus im Umgang mit missgebildeten Menschen. Auch vertrat er die Ansicht, dass diese Menschen in "ordentlicher und von Fehlern befreiter Natur" auferstehen würden.
5. Römisches Recht
Nach Römischem Recht galt die Auffassung, dass das ungeborene Kind kein eigenes Lebensrecht habe. Der Vater des Kindes hatte bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. das Recht, das Kind entweder anzunehmen oder dessen Tötung oder Aussetzung aufgrund eines körperlichen Defekts zu veranlassen. Die Christen griffen diese Missachtung des Lebensrechts eines ungeborenen bzw. missgebildet geborenen Kindes scharf an.13 Oft wurden solche ausgesetzten Kinder versklavt, zu Gladiatoren ausgebildet, zur Prostitution gezwungen oder bei Missbildung zum Betteln verurteilt.
Erst unter Kaiser Konstantin, als das Christentum Staatsreligion wurde, wurden sowohl Aussetzung als auch Infantizid unter Strafe gestellt. Der Kindesverkauf blieb aber weiter gestattet, wenn auch nur in Fällen wirtschaftlicher Not.
Als Kind zählte nur jenes
- das lebendig und ganz zur Welt gekommen ist,
- durch das Einatmen der kalten Luft beseelt ist,
- durch einen Schrei seine Lebenskraft zeigt,
- im 7., 9., 10. Monat geboren ist und
- kein „monstrum" oder „prodigium" ist.14
Was unter einem „monstrum" oder „prodigium" zu verstehen ist, zeigt eine Sentenz des Paulus: „Kinder sind nicht diejenigen, die wider die Gestalt des menschlichen Geschlechts (mit verkehrter Sitte) hervorgebracht werden: wie wenn eine Frau etwas Monströses oder Prodigöses geboren hat. Eine Geburt aber, bei der die vorgeschriebene Zahl der menschlichen Glieder vermehrt ist, wird einigermaßen als Erfolg angesehen und deswegen zu den Kindern gerechnet werden.15
Ein Monstrum oder Prodigium ist somit nach Paulus ein Neugeborenes, das so schwere Missbildungen aufweist, dass ihm die Zugehörigkeit zur Klasse Mensch nicht zugesprochen werden kann. Kinder mit weniger schweren Missbildungen, wie das Fehlen oder die Doppelbildung von Extremitäten, werden als Menschen angesehen: Bis zum justinianischen Zeitalter bleibt die Schutzlosigkeit der missgebildeten Kinder aufrecht.
6. Mittelalter
Bei Thomas von Aquin stehen die „monstra" außerhalb der ihnen in der Schöpfung zugewiesenen Ordnung, sie sind quasi an der Ordnung der Dinge „vorbeigeschaffen". Dies ist nur möglich, da Gott die Erstursache, die von ihm geschaffen Ordnung die Zweitursache ist. Gott ist der Zweitursache nicht unterworfen, er kann daher auch Ordnung schaffen, die nicht an die Zweitursache heranreichen, also an der von ihm geschaffenen und ständig erhaltenen Ordnung vorbei handeln. Der Fall eines solchen „monstrae" ist also nicht gegen die Natur sondern an der Ordnung vorbei. Man muss die monstra also „von der Vorsehung Gottes her betrachten".16 Da alles das, was mit Übergehung der bekannten Ursachen von Gott geschieht, Wunder heißt17 – die Schöpfung als Zweitursache wird ja gleichsam übersprungen – sind die „monstra" Gott sogar besonders nahe. Man spricht in diesem Zusammenhang auch oft von „Wundergeburten".18
Die positive Einstellung der Kirche, geprägt durch Thomas v. Aquin und Augustinus, schlug Mitte des 12./13. Jahrhundert ins Gegenteil um. Dualistische Vorstellungen, nach denen das widergöttliche Prinzip in Teufel und Dämonen verwirklicht werde, führten zu einer völlig anderen Ansicht über missgebildete Menschen.
Bonaventura (1221-1274) der als Zeitgenosse des Thomas v. Aquin einer der ersten war, der die „monstra" in den negativen Bereich rückte, war der Ansicht, sie würden von Gott als Strafe geschickt werden. So kam es dazu, dass es der allgemeinen Ansicht entsprach, dass durch den Verkehr eines Teufels mit einer Frau eine Missbildung geboren wurde.
Bezeichnend ist hier auch die Aussage Luthers, der der Ansicht war, man solle solche Neugeborenen ertränken.19 Noch im 17. Jahrhundert wurden Missbildungen von Neugeborenen als Teufelswerk bezeichnet und solche Kinder gleich nach der Geburt getötet oder gar verbrannt, ohne sie taufen zu lassen.20
7. Überblick über die Rechtsstellung missgebildeter Kinder im Laufe der Geschichte
Die germanischen Stammesrechte, wie das lex Visigothorum oder lex Frisionum, enthalten reichhaltige Regelungen über den Angriff des Kindes durch Dritte. Diese Angriffe wurden aber nur mit Geldbußen belegt.21
Erst im 14.-15. Jahrhundert wurde die Tötung neugeborener Kinder durch die Eltern bestraft, zunächst auch hier nur in Form von Geldbußen, später erst mit Todesstrafen wie Pfählen oder lebendig Begraben. Dabei handelte es sich hauptsächlich um den Schutz gesunder Neugeborener, missgebildete Kinder hatten noch keinen besonderen Rechtsschutz, weder von Seiten des Staates noch von Seiten der Kirche. Im Hinblick auf das Erbrecht lässt sich aber eine zumindest mindere Rechtsstellung der missgebildeten Kinder ableiten, die offensichtlich nicht alle getötet wurden. Sie sollten nach dem Landrecht, nicht aber nach dem Lehnrecht Erbe werden können.22
Die Constitutio Criminalis Carolina (CCC) aus dem Jahre 1532 enthält in mehreren Artikeln Bestimmungen über Abtreibung, Aussetzung und Kindestötung. Die Frau wurde aber nur dann bestraft, wenn das Kind vorher lebendig war und „glidmaß empfangen hett...".23 Der ausdrückliche Begriff des „monstrum" fällt in der CCC nicht. Den Kommentaren der CCC ist aber zu entnehmen, dass ein „monstrum" nicht als ein „lebendig gliedmäßig kindlein" angesehen wurde.24
Die Verpflichtung der Eltern zum Schutz des Kindes, quasi als göttliche und zugleich staatserhaltende Schöpfungsordnung, setzt fest, dass Eltern nicht über Leben und Tod ihrer Kinder entscheiden durften.
Eine gegenteilige Ansicht vertrat nur Thomas Hobbes, der ein uneingeschränktes Recht der Mutter über ihr Kind verfocht, das ihr somit auch gestatten sollte, über das Leben des Kindes zu verfügen, gleich ob es sich um ein gesundes oder behindertes Kind handelte.25
Dagegen geht die nur wenig später um 1607 erschiene italienische Lehre des Iakobus Menochius in dem Werk „De arbitraris iudicum questionibus" dezidiert auf die „monstra" ein.26 Die fehlende Lebensfähigkeit war danach eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, um von einem „monstrum" im Unterschied zu einem Menschen zu sprechen. Beschrieben werden 6 explizit aufgezählte Missbildungen, wie z. B. mehrere Gliedmaßen, Tierköpfe, Abnormitäten im Längenwachstum etc. Jene, die in Gruppe 3 und 4 aufgezählt wurden, die entweder mit 2 Köpfen oder mit den Augen auf dem Rücken geboren wurden, wurden von vornherein nicht als Menschen bezeichnet und es wurde ihnen der Lebensschutz und das Lebensrecht abgesprochen – meistens waren sie ohnedies nicht lebensfähig.
Leyser unterschied 1758 bei „monstra" zwischen solchen aus menschlicher und solchen aus "viehischer Verbindung", welche – wie die Mütter als Täterinnen – sofort getötet werden sollten. Dies bewirkte wiederum, dass die meisten der missgebildeten Kinder gleich nach der Geburt von der Mutter getötet wurden, aus Angst vor einer Anklage wegen Sodomie. Auch die Erklärung des „Versehens" als Ursache erfuhr eine Renaissance.27 Erst im 18. Jahrhundert28 wurden dank der natur-wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Vererbungslehre die beiden Theorien allmählich aufgegeben. Die Abgrenzung zwischen Mensch und „monstrum" vollzog sich von diesem Zeitpunkt an über das Kriterium der Vernunft. Äußeres Kennzeichen hiezu war der Bau des Schädels, der auf ein intaktes Gehirn als „Organ der Seele" und damit auf eine Vernunftbegabung schließen ließ. Die Vernunft wurde als charakteristischer Unterschied zwischen Mensch und Tier gesehen. Damit wurde auch begründet, warum Tiere im Gegensatz zum Menschen getötet werden durften. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts musste vor der Tötung eines missgebildeten Neugeborenen die Zustimmung der Obrigkeit eingeholt werden.
Das „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten" von 1794 enthält darüber ausführliche Bestimmungen, wie etwa in § 716: „Wenn Leibesfrüchte, die keine menschliche Gestalt zu haben scheinen, lebend zur Welt kommen: so sollen dennoch weder die Aeltern, noch die Hebammen dergleichen Geburt eigenmächtig fortschaffen sich unterfangen"
Zwar haben Geburten ohne menschliche Form und Bildung keinen Anspruch auf Familien und bürgerliche Rechte (§ 17), müssen aber, sofern sie leben, nach § 11 ernährt und so viel als möglich erhalten werden (§ 18).
Die Notwendigkeit einer solchen Regel lässt darauf schließen, dass es wohl noch immer verbreitete Praxis war, Missgeburten zur Seite zu schaffen.
Das Gesetz hatte vor allem den Zweck, leichter behinderte Neugeborene zu schützen. Gleichzeitig gab es aber ernstzunehmend naturwissenschaftliches Interesse, durch Obduktionen die Ursache von Missbildungen zu erforschen.
Im Gegensatz dazu wurden zur selben Zeit in Holland noch alle „monstra" mit Zustimmung der Obrigkeit erstickt.29 Der Begriff der „monstra" selbst verschwindet zunehmend aus dem medizinischen Fachbegriffen. Der Begriff der Missgeburt wird ausschließlich auf die fehlende Lebensfähigkeit bezogen.
8. Ende des 19. Jahrhunderts
Ab diesem Zeitpunkt finden wir nur mehr sehr vereinzelt den Begriff „monstrum", und es tauchen auch nur mehr vereinzelt Berichte darüber auf, dass missgebildete Neugeborene einfach von ihren Eltern oder den Hebammen getötet und verscharrt wurden. In verschiedenen Gesetzen zur Kindestötung waren nur geringe Gefängnisstrafen vorgesehen oder das Faktum der Behinderung des getöteten Kindes wirkte strafmildernd. Ob es auch tatsächlich zu Verurteilungen kam, ist schwer festzustellen.30
9. Euthanasiedebatte vor 1933
Anfang des 20. Jahrhunderts verlor das traditionell christliche Menschenbild zunehmend an Bedeutung und es entstanden neue ethische Standards, die vor allem durch die neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sowie durch sozialphilosophisch-sozialdarwinistisches Gedankengut beeinflusst waren.
Hinzu kamen utilitaristische Erwägungen, die den Wert des Einzelnen für die Gesellschaft zum Kriterium seiner Daseinsberechtigung machten, sowie ein neues Gesundheitsbewusstsein, ein Sozialstaat mit Finanzierungs- und Organisationsproblemen und außenpolitischen und ökonomischen Defiziten. Dies führte schließlich zu Überlegungen über sozialsanitäre Reformen, in denen Eugenik eingeschlossen war. Es wurde also schon vor 1933, wenn auch zunächst nur von einem kleinen Kreis von weltanschaulich dem Sozialdarwinismus verpflichteten Ärzten, Juristen und sonstigen Akademikern, die Sterilisation und Euthanasie nicht gesellschaftsfähiger Schwerstkranker diskutiert.
Grundlage für die Begriffe „Rassenhygiene" und „Eugenik" ist die Evolutionstheorie von Charles Darwin, der den Auswahlprozess, das Überleben des Stärkeren, als wichtigstes Antriebsmoment der Entwicklung von Tieren und Pflanzen sieht.
Seine Anhänger haben dieses Prinzip auf den Menschen übertragen und das Ausmerzen der Lebensuntüchtigen gefordert. Durch religiöse Nächstenliebe und die Fortschritte der Medizin werde, so die Argumentation, „Kontraselektion" betrieben, eine Umkehrung der idealen, natürlichen Verhältnisse, die dem deutschen Volk kein Überleben im Konkurrenzkampf mit anderen Völkern sichere.
Bereits 1885 veröffentlichte der Publizist Adolf Jost eine Streitschrift31 mit dem Titel „Das Recht auf den Tod", in der er die Forderung der Freigabe der Tötung auf Verlangen vertrat und gleichzeitig auch für die Ausweitung auf nicht entscheidungsfähige Personen eintrat. Er argumentierte dabei mit dem „Wert" bzw. „Unwert" dieser Menschen für die Gesellschaft.
Als Gründe führte er finanzielle Interessen und Mitleid an:
„Es wäre ja mit Recht brutal zu nennen, wolle man dies als alleinigen Grund geltend machen und etwa behaupten, ein Menschenleben dürfe lediglich aus egoistischen Gründen der Gesellschaft vernichtet werden. Dagegen würde sich das natürliche Mitleid zum Glück sträuben. Im Falle der unheilbar Kranken aber trifft beides zusammen, das Mitleid und das Interesse der Gesellschaft fordern den Tod."
Jost erkennt dem Leben an sich keinen absoluten Wert zu. Eine solche Wertsetzung sei herzlos gegenüber unheilbar Kranken, darüber hinaus auch nachteilig für das Wohl des Ganzen. Mitleid sei nur dann sinnvoll, wenn es zur teilnehmenden, barmherzigen Tat, zur Hilfe für den Leidenden werde. Erst ein Zusammenspiel von Mitleid mit dem Kranken und der Überlegung des Wertes des Lebens für die Gesellschaft könne zu einer Entscheidung über die Beendigung des Lebens führen.32
Ähnlich argumentiert auch Ernst Häckel, ebenfalls ein Verfechter der Evolutionstheorie in Deutschland: „Welch ungeheure Summen von Schmerz und Leid bedeuteten diese entsetzlichen Zahlen für den unglücklichen Kranken selbst, welch namenlose Fülle von Trauer und Sorge für die Familien, welche Verluste an Privatvermögen und Staatskosten für die Gesamtheit! Wie viel von diesen Schmerzen und Verlusten können gespart werden, wenn man sich endlich entschließen wollte, die ganz Unheilbaren durch eine Morphiumgabe von ihren namenlosen Qualen zu befreien."33
Auch innerhalb des Strafrechts sind Tendenzen dieser Art spürbar. Der deutsche Jurist Alexander Elster schreibt 1915: „Es steht über allen Rechtsdisziplinen der höhere Satz: Das Leben weicht höheren Rücksichten! Durch solche wird einer Tötung, wie wir wissen, der Charakter des Mordes genommen..."34
Durch die gemeinsame Schrift des Freiburger Psychiaters Alfred Hoche und des Leipziger Strafrechtlers Karl Binding mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form" (1920) erwacht das breite Interesse an der Freigabe der Euthanasie.35 Die Zielgruppe der Euthanasie wurden hierin von den unheilbar Kranken auf die so genannten „Nicht-Rehabilitierungsfähigen" ausgedehnt.
Der Kinderpsychologe Ewald Metzler, angeregt durch die Schrift Bindings und Hoches, veranlasste in der Stiftung Katherinenhof eine Umfrage unter den Eltern der dort untergebrachten schwerst behinderten Kindern, indem er deren Meinung zur Euthanasie ihres Kindes aus Mitleid oder wegen der großen Belastung durch die Pflege etwa mit folgenden Fragen zu ermitteln suchte:
- Würden sie auf jeden Fall in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens ihres Kinde einwilligen, nachdem durch Sachverständige festgestellt ist, dass es unheilbar blöd ist?
- Würden Sie diese Einwilligung nur für den Fall geben, dass Sie sich nicht mehr um ihr Kind kümmern könnten, z.B. für den Fall ihres Ablebens?
- Würden Sie die Einwilligung nur geben, wenn das Kind an heftigen körperlichen und seelischen Schmerzen leidet?
- Wie stellt sich Ihre Frau zu den Fragen 1-3?
In der Auswertung der Umfrage berichtet Metzler knapp von dem Ergebnis der Aktion:
„Von 200 Fragebögen wurden 162 zurückgeschickt; von diesen waren 73%, also 119, mit JA bzw. 27% mit Nein beantwortet. Das hätte ich nicht erwartet. Das Umgekehrte wäre mir wahrscheinlicher gewesen."
Eine genaue Aufschlüsselung der Fragen ist bei Metzler nicht mitgeteilt, wobei sich das JA wohl ausschließlich auf die erste Frage bezieht. Wenn auch die Formulierung und die Staffelung der Fragen vielleicht ungeschickt war und zu Missverständnissen Anlass geben konnte, so war doch die Tendenz eindeutig: drei Viertel der Angehörigen wünschte sich die Tötung ihres Kindes.
Metzler selbst hatte sich später entschieden gegen die Tötung behinderter Neugeborener ausgesprochen. Bei den Bemerkungen der Eltern, die den Bögen angefügt waren, tauchte als Begründungsmuster neben wirtschaftlichen Motiven auch das Argument auf, dass sich die Mutter so mit ihrer ganzen Kraft den gesunden Kindern widmen könnte und die Ärzte sich auf jene Kinder konzentrieren könnten, für die noch Hoffnung bestünde. Viele hatten auch die Argumente der Rassenhygiene von Lenz verinnerlicht, nämlich dass „die Eltern anstelle eines derartig unglücklichen Kindes ein besser geratenes aufziehen könnten".36
Große Unterschiede bei den Befürwortern der Vernichtung lebensunwerten Lebens herrschten allerdings darüber, welche Kinder bzw. Neugeborenen als „lebensunwert" anzusehen seien. Hoche hielt sich an das Kriterium des „fehlenden Bewusstseins", definierte die „geistig Toten" als lebensunwert. Der Begriff des „geistig Toten" allein assoziiert, dass es sich eigentlich nicht mehr um Tötung handelt, denn ein Toter kann nicht nochmals getötet werden. F. Barth wollte Paralytiker, Altersblödsinnige, Idioten und Encephale dem Bereich des lebens-unwerten Lebens zuordnen.37
Er erweiterte den Begriff der Missgeburt auf „eine während der fötalen Entwicklung zustandegekommene also angeborene Veränderung der Morphologie eines oder mehrerer Organe, Organsysteme oder des ganzen Körpers, welche außerhalb der Variationsbreite der Spezies gelegen ist".38 Damit kamen für ihn alle Neugeborenen in Frage, die „zur Leistung irgendwelcher produktiven Fähigkeiten voraussichtlich unfähig sein werden, durch ihre Hilflosigkeit eine dauernde Versorgung durch Dritte benötigen und bei verständiger Würdigung des objektiven und subjektiven Lebenswertes, das Interesse an ihrem Leben negieren..."39
Solchen Säuglingen spricht er auch den Charakter des Rechtsgutes ab.40
10. Nationalsozialismus und Infantizid
In den ersten Jahren nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Deutschland gab es unter den Juristen eine intensive Diskussion über die Zulassung der „Euthanasie", die Tötung auf Verlangen und die „Vernichtung lebensunwerten Lebens". In der 1933 veröffentlichten Denkschrift des preußischen Justizministers und Nationalsozialisten Hans Kerrl wurden diese Themenkreise ausführlich behandelt.41 In dieser so genannten „Preußischen Denkschrift" wurde verlangt, dass die Tötung auf ein ausdrückliches und ernstliches Verlangen milder zu bestrafen sei als die gemeine Tötung. Die Sterbehilfe (Euthanasie) wurde als Unterart der Tötung auf Verlangen angesehen und als „wunschgemäße Beförderung des Sterbens eines hoffnungslos Leidenden durch ein todbringendes Mittel zur Verkürzung der Qual" definiert. Falls die Sterbehilfe durch eine Person geleistet werde, die ohne ausreichende Sachkenntnisse über Art und Grad der Krankheit zur Tat schreite, sei dieses Unternehmen ebenso wie die Tötung auf Verlangen zu sanktionieren. Nicht zu bestrafen sei jedoch die Sterbehilfe durch eine zur Beurteilung der Krankheitslage befähigte Person. Diese Person wolle „nicht die verwerfliche Vernichtung eines für die Volksgemeinschaft wertvollen Lebens", sondern die Tötung sei „ihr nur das Mittel, um den schwer leidenden, hoffnungslosen Kranken von der Qual seines Leidens zu befreien".42 Die Tat sei Ausdruck der Menschlichkeit und des Mitleids gegenüber dem Kranken. Zur Vermeidung von Missbrauch sei jedoch die Schaffung von „Sicherungen" unerlässlich. Das Leiden der Kranken müsse weiter unheilbar sein, was durch das Gutachten zweier beamteter Ärzte festgestellt werden müsse.
Dass hierbei nicht nur die Tötung Schwerstkranker gemeint war, wurde aus dem Nachsatz deutlich. Denn dem ausdrücklichen und ernstlichen Verlangen des Betroffenen wurde das der nächsten Angehörigen gleichgesetzt, falls der Betroffene zu einer Willensäußerung nicht in der Lage und das Verlangen der Angehörigen nicht sittenwidrig ist.
Für die nähere Regelung des Verfahrens sollte eine Durchführungsverordnung vorbehalten sein. Die Schaffung eines Unrechtsausschließungsgrundes erübrige sich laut Denkschrift dann, wenn es sich um die Vernichtung so genannten lebensunwerten Lebens handle.
Dazu wörtlich: „... Sollte der Staat etwa bei unheilbar Geisteskranken ihre Ausschaltung aus dem Leben durch amtliche Organe gesetzmäßig anordnen, so liegt in der Ausführung solcher Maßnahmen nur die Durchführung einer staatlichen Anordnung. Ob diese Anordnung geboten ist, steht hier nicht zur Erörterung. Wohl bleibt zu betonen, dass die Vernichtung lebensunwerten Lebens durch eine nichtamtliche Person stets eine strafbare Handlung darstellt."43
In der Folge ging die Preußische Denkschrift auch in die Beratungen der Amtlichen Strafrechtskommission ein, die unter dem Vorsitz des Justizministers Franz Gürtner seit Anfang 1933 die Aufgabe übernommen hatte, das Strafrecht zu reformieren. Obwohl es zu keiner Verabschiedung eines reformierten Strafgesetzbuches kam, sind doch die Kommentare einiger bedeutender Juristen zu den beiden Lesungen der Strafrechtskommission interessant, weil sie einerseits die kontroverse Diskussion über Euthanasie in der damaligen Zeit widerspiegelt. Andererseits wird auch die Politik der Nationalsozialisten klar aufzeigt, denen es gelang, wie bereits erwähnt, ohne gesetzliche Verankerung die „Vernichtung lebensunwerten Lebens" durchzuführen.
So wurde unter anderem eine breitere öffentliche Diskussion über die Euthanasie von 1935-1937 sogar durch Zensurmaßnahmen unterbunden.44
Laut Professor Graf von Gleispach (Berlin), der die Ergebnisse der ersten Lesung zusammenfasste, kam die Kommission bei dieser Lesung zu einem klaren Ergebnis: „... Eine Freigabe der Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens komme nicht in Frage. Der Hauptsache nach handelt es sich um schwere Geisteskranke und Vollidioten. Der Nationalsozialistische Staat sucht solcher Entartung im Volkskörper durch umfassende Maßregeln vorzubeugen, so dass sie immer seltener werden müssen. Aber die Kraft der sittlichen Norm des Tötungsverbotes darf nicht dadurch geschwächt werden, dass aus bloßen Zweckmäßigkeitsgründen Ausnahmen für die Opfer schwerer Erkrankungen und Unfälle gemacht werden, mögen auch diese Unglücklichen nur durch ihre Vergangenheit oder äußere Erscheinung dem Volkskörper verbunden sein."45
In die Zeit von 1939-1941 fällt der Beginn des so genannten Kindereuthanasieprogramms, das bis zum Kriegsende fortdauerte und dem ca. 5000-8000 behinderte Kinder zum Opfer gefallen sind (nicht eingerechnet sind jene Kinder, die im Rahmen der Erwachseneneuthanasie getötet wurden).46 Lediglich eine Predigt des Bischofs von Münster, August Graf von Galen, erregte kurzfristig Unruhe, so dass Hitler den Befehl gab, die „Euthanasie-Aktion" zu stoppen. Sie wurde allerdings nur offiziell eingestellt.47 Anlass bzw. Ausgangspunkt für das Kindereuthanasieprogramm soll ein konkreter Einzelfall eines schwer behinderten Kindes der Familie K. aus Pomßen bei Leipzig gewesen sein.
Den Eltern des Kindes, das blind und mit erheblichen körperlichen Behinderungen (Missbildung des Beins, fehlender rechter Unterarm) sowie möglichen geistigen Defekten geboren wurde, erklärte der behandelnde Arzt der Universitätskinderklinik in Leipzig, Dr. Werner Catel, dass das Kind niemals ein normales Leben werde führen können und dass das Leben eines solchen „Wesens" wertlos sei. Der Vater des Kindes schrieb daraufhin auf Anraten des Bruders, der Mitglied der NSDAP war, einen Brief an den „Führer", in dem er um den Gnadentod des Kindes bittet. Das Kind wurde schließlich mit Genehmigung von oben „eingeschläfert".
Daraufhin wurde ein beratendes Gremium aus Ärzten zur Organisation der Kindestötung gegründet, das eine streng vertrauliche Meldepflicht über missgestaltete Neugeborene an die Landesregierungen herausgab.48
Von den rund 100.000 eingegangenen Meldebogen bis 1945 gingen ungefähr 20.000 an die drei zu diesem Zweck bestellten Gutachter des Reichsausschusses.
Es gab drei Kategorien der Beurteilung: „keine weiteren Maßnahmen", „Beobachtung" und „Behandlung". „Beobachtung" stand für die Einweisung in eine so genannte Fachabteilung, in der über das weitere Schicksal des Kindes entschieden wurde.
„Behandlung" bedeutete die Einweisung in eine „Fachabteilung" und Freigabe zur Tötung.49 Die dort eingewiesenen Kinder wurden meist nach kurzer Zeit mit Tabletten oder Spritzen getötet.50 In einigen Fachabteilungen erreichte man dieses Ziel auch durch kontinuierlich verringerte Nahrungsaufnahme.51
Falls sich die Eltern den Anordnungen widersetzen wollten, wurde mit finanziellen Belastungen oder mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht, weil der Tatbestand, sich einer angebotenen Behandlung zu entziehen, eine Überschreitung des Sorgerechtes sei. Daraus ist ersichtlich, dass die Eltern keineswegs die Wahl hatten, auch nicht bezüglich der Tötungsabsicht gehört wurden oder gar in die Tötung einwilligten, wie dies in den Nürnberger Ärzteprozessen behauptet wurde.52
11. Situation nach 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Thema der Euthanasie bei Behinderten und daher auch des Infantizids immer im Hinblick auf die Gräueltaten der NS-Zeit diskutiert. Es fällt dabei auf, dass das Thema wie ein heißes Eisen behandelt wurde und im Gegensatz zum Völkermord in den Konzentrationslagern nach wie vor von juristischen Stellungnahmen verschleiert und zum Teil auch verzerrt dargestellt wurde. Die Publikationen der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg beschränkten sich im Wesentlichen auf Berichte der NS-Euthanasie sowie auf Publikationen und Medienberichterstattung anlässlich der Nürnberger Prozesse. Wegen ihrer Beteiligung an den „Euthanasieverbrechen" waren in Nürnberg allerdings nur Victor Brack und Karl Brand angeklagt und zum Tode verurteilt worden.53
Über die genaue Praxis der Behindertentötung konnte man sich in zwei damals unmittelbar nach den Prozessen erschienenen Büchern informieren. "Die Diktatur der Menschenverachtung" herausgegeben von Privatdozent Dr. med. Alexander Mitscherlich und cand. med. Fred Mielke, die beide aus Heidelberg stammten und Prozessbeobachter der deutschen „Ärztekommission" waren. 1948 erschien ein weiteres Buch zu diesem Themenkreis mit dem Titel „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland" von Alice Platen-Hallermund. Sie war ebenso wie die vorher genannten Autoren Mitglied der deutschen Ärztekommission. Für sie stand fest, dass der Arzt nur die Aufgabe habe, Krankheiten zu heilen oder Leiden zu lindern, jedoch nicht Richter über Leben und Tod zu sein. Sie wandte sich daher auch gegen die damals aktuell gewordene Forderung nach „Euthanasie mit Einwilligung", wie sie etwa 1947 in den USA von Ärzten gestellt worden sind: „Diese freiwillige Euthanasie, die als so human gepriesen wird, kann nur dort vertreten werden, wo ein flacher Eudaimonismus die wirklichen Grundlagen des Menschseins erschüttert hat und der Mensch von Tod und Leiden nichts mehr wissen will."54
Eine weitere interessante Publikation aus dieser Zeit stammte von Viktor von Weizäcker, der 1947 einen Text mit dem Titel „Euthanasie und Menschenversuche" veröffentlichte. Weizäcker war von 1920 bis 1941 Leiter der Neurologischen Abteilung der Medizinischen Klinik in Heidelberg und dann bis 1945 Ordinarius für Neurologie und Leiter des Neurologischen Forschungsinstituts in Breslau. Nach dem Krieg wirkte er als Ordinarius für Allgemeine Klinische Medizin an der Universität Heidelberg. Er verwarf in seiner Publikation nachträglich die NS-Euthanasie als „unärztlich" und „unsittlich".55 Bemerkenswert war sein Interpretationsansatz, wonach die Taten der Angeklagten nicht zuletzt Ausdruck „einer überlebten Art von Medizin" gewesen seien. „... Denn es kann darüber kein Zweifel bestehen, dass die moralische Anästhesie gegenüber dem Leiden der zur Euthanasie und Experimenten Ausgewählten begünstigt war durch die Denkweise der Medizin, welche den Menschen betrachtete wie ein chemisches Molekül oder einen Frosch oder ein Versuchskaninchen."56 Da laut Weizäcker die „Denkweise" dieser Medizin fortbestehe, sei selbst nach den Nürnberger Ärzteprozessen die Gefahr einer „vernichtenden Euthanasie" nicht ausgeräumt.57 Diesen Denkansatz sollte man nicht aus den Augen verlieren. Auffallend in diesem Zusammenhang ist es, dass sowohl in Deutschland als auch in Österreich im Rahmen der „Kindereuthanasie" tätige Ärzte nach Ende der NS-Zeit den „Sprung" in die Liga sehr angesehener Ärzte geschafft hatten.
In Österreich sei diesbezüglich auf den Fall Gross verwiesen, der als hochdekorierter Wissenschaftler Jahrzehnte als Gerichtsgutachter tätig war und gegen den erst kürzlich ein Verfahren eröffnet wurde, das dann allerdings aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des Angeklagten, d.h. wegen seiner „Nicht-Verhandlungsfähigkeit", auf unbestimmte Zeit vertagt worden ist. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung scheint allerdings die Bestellung eines neuen medizinischen Sachverständigen als sehr wahrscheinlich und die Fortsetzung des Verfahrens zumindest wieder als möglich.58
Ähnlich ist auch der Fall des in Deutschland für die Durchführung der Kindereuthanasie verantwortlichen Arztes Werner Catel, der unbehelligt als Kinderarzt in Kiel praktizierte, als er Ende der 60er Jahre in die Schlagzeilen geriet und "freiwillig" emeritierte. Als die Staatsanwaltschaft Hannover 1962 Vorermittlungen gegen ihn aufnahm, veröffentlichte er gewissermaßen als Vorabverteidigung ein Buch mit dem Titel „Grenzsituationen des Lebens. Beitrag zum Problem der begrenzten Euthanasie". Unter völliger Verdrehung der Tatsachen suchte er sich als skrupulösen Intellektuellen darzustellen, der sich im Dritten Reich nach eingehender Überlegung zum Einsatz einer „begrenzten Euthanasie" bei „idiotischen Kindern" durchgerungen habe. Es erhoben sich zahlreiche kritische Stimmen gegen dieses Buch. So warnte zum Beispiel der Psychiater Hoymar von Dietfurt davor, dass es sich hierbei um den Versuch handle, die öffentliche Meinung für eine Geisteshaltung zu gewinnen, die es für moralisch gerechtfertigt und vernünftig hält, schwachsinnige Kinder zu beseitigen.59 Dietfurt fasst seine Kritik folgendermaßen zusammen: „... Ein geschmackloses, unwahrhaftiges und sehr gefährliches Buch, das viele Köpfe verwirren wird. Wer die Tendenzen des Verfassers erst einmal durchschaut hat, wird nach der Lektüre erst einmal das dringende Bedürfnis verspüren sich die Hände zu waschen."60
Catel ließ sich durch diese Aussage nicht beirren. Im Gegenteil, er versuchte sich in einem Gespräch im Spiegel 1964 zu rechtfertigen. Wenig später forderte er in seinem Buch mit dem Titel „Leidminderung richtig verstanden" (Nürnberg 1966) erneut die Auslöschung von, wie er es bezeichnete, „idiotischen Wesen".
Der eigentliche Umgang mit dem Themenkreis der Euthanasie zeigte sich in der ersten Nachkriegsausgabe des einflussreichen Strafrechtskommentars aus dem Jahre 1949 von Prof. Dr. Adolf Schönke (Freiburg), der darin die „NS-Euthanasie" mit keinem Wort erwähnte.61 Lapidar heißt es nur: „Ein Recht auf Vernichtung lebensunwerten Lebens besteht nicht."62 Bei den strafrechtlichen Reformarbeiten der NS-Zeit hätte sich die von Binding und Hoch erhobene Forderung nach Zulassung der Sterbehilfe nicht durchgesetzt.
Er folgerte weiter: „Ein Recht zur Sterbehilfe ist gesetzlich nicht anerkannt."
Diese klare Aussage relativierte er aber sogleich mit folgenden Worten:
„Die Zulässigkeit der Sterbehilfe wird nicht vollständig auszuschließen sein. Man wird aber, um die Herrschaft des Tötungsverbotes ungeschmälert zu lassen, nur in Ausnahmefällen anerkennen können, dass eine Sterbehilfe des Arztes nicht rechtswidrig sei. Jedenfalls wird in den Fällen keine Tötung anzunehmen sein, in denen der Arzt es durch Nichtanwendung besonderer Stimulantien, wie z. B. durch Kampfereinspritzungen, unterlässt, ein bereits erlöschendes qualvolles Leben künstlich zu verlängern."63
Schönke schrieb dann unter jener Terminologie, die auch von den Nationalsozialisten in diesem Zusammenhang immer wieder verwendet wurde: „... Weiter dürfte anzunehmen sein, dass auch dann keine Tötung vorliegt, wenn der Arzt den Todeskampf in ein sanftes Hinüberschlummern verwandelt."64
Die Verzerrung und die gefährlichen Beschönigungsversuche dieser Nachkriegsliteratur sind evident. Sie können bei unkritischer Auseinandersetzung sehr leicht zur Aufbereitung des Bodens einer neuen Euthanasiekultur bieten.
Die Situation der geistig und körperlich schwerst behinderten Kinder hatte sich nach 1945 eigentlich nur dahingehend verändert, dass diese zwar nicht mehr getötet wurden, aber weiterhin nur sehr langsam und zögernd weitergehende Förderungen zugestanden bekamen. Erst in den 70er Jahren wurde durch Einzelinitiativen erstmals auf das Interesse und die Belange Schwerstbehinderter aufmerksam gemacht.
So forderte die Ende der 50er Jahre gegründete „Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V." eine wohnortnahe Unterbringung und Versorgung schwerst behinderter Kinder, um einerseits in der Familie Entlastung zu geben und andererseits die Kinder nicht in Anstalten geben zu müssen.65
Referenzen
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- Westermarck E., Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, Band 1, Übersetzung von L. Katscher, Leipzig 1907, zit. nach: Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 35
- Zit. nach: Singer P./Kuhse H., Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener, Erlangen 1993, 139; 265
- Ploss H. H., Das Kind in Brauch und Sitte der Völker, Berlin 1982, 241f, zit. nach: Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 36
- Platz W., Geschichte des Verbrechens und der Aussetzung unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenhangs mit dem Familienrecht von den ältesten Zeiten bis ins XVI Jahrhundert, Stuttgart 1876, 10, zit. nach: Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 36
- Platon, Politea, Fünftes Buch, Abschnitt 9, 460, zit. nach: Kuhse H., Die Lehre von der Heiligkeit des Lebens, in: Leist A. (Hrsg.), Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, Frankfurt am Main 1992, 92
- Wahl G., Zur Geschichte der äthiologischen Vorstellung über die Entstehung von Mißgeburten, Diss. med., Düsseldorf 1974, 46ff
- Livius, Ab urbe condita XXVII; Seneca, De ira I, XV-2; Cicero, De legibus III, zit. nach: Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 36f
- Peters R., Der Schutz des Neugeborenen, insbesondere des missgebildeten Kindes. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Lebensschutzes, Stuttgart 1988, 15f
- Vgl. Lindemann A./Paulsen H. (Hgg.), Die apostolischen Väter, Tübingen 1992, 6f
- Ebenda, 69
- Augustinus, De civitate die, XVI, 8, CSEL, XXXX, P.II, 139, Z. 19-24, Übersetzung nach Timmer, II, 297f, zit. nach: Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 36f
- Dölger F. J., Das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und die Fruchtabtreibung in der Bewertung der heidnischen und christlichen Antike, in: Ders., Christentum, Kultur und religionsgeschichtliche Studien, Band IV, Münster 1936, 23ff, zit. nach: Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 38
- Peters R., Der Schutz des Neugeborenen, insbesondere des missgebildeten Kindes. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Lebensschutzes, Stuttgart 1988, 30ff
- Peters R., Der Schutz des Neugeborenen, insbesondere des missgebildeten Kindes. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Lebensschutzes, Stuttgart 1988, 37f
- Thomas v. Aquin, Summa Theologica I-II, I q. 105, Art. 6; II q. 51, Art. 4, zit. nach: Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe, Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 38
- Ebenda, Art. 8
- Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 39
- Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 39
- Ebenda
- Sachsenspiegel, zit. nach: Peters R., Der Schutz des Neugeborenen, insbesondere des missgebildeten Kindes. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Lebensschutzes, Stuttgart 1988, 84
- Ebenda
- Art. 13 der Constitutio Criminalis Carolina, zit. nach Peters R., Der Schutz des Neugeborenen, insb. des missgebildeten Kindes. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Lebensschutzes, Stuttgart 1988, 87
- Peters R., Der Schutz des Neugeborenen, insbesondere des missgebildeten Kindes. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Lebensschutzes, Stuttgart 1988, 135ff
- Ebenda
- Ebenda
- Leyser A., Medidationes ad Pandectas, Vol. IX, Speciem DXCVII, 307f, zit. nach: Peters R., Der Schutz des Neugeborenen, insbesondere des missgebildeten Kindes, Stuttgart 1988, 143
- Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 39
- Peters R., Der Schutz des Neugeborenen, insbesondere des missgebildeten Kindes. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Lebensschutzes, Stuttgart 1988, 143
- Peters R., Der Schutz des Neugeborenen, insbesondere des missgebildeten Kindes. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Lebensschutzes, Stuttgart 1988, 150
- Jost A., Das Recht auf den Tod, in: Kaiser et al., Eugenik Sterilisation Euthanasie, Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, 39ff
- Winau R., Die Vernichtung lebensunwerten Lebens im Dritten Reich: Historische Fakten und Modellcharakter, in: Schmidt-Tannwald I. (Hrsg.), Gestern lebensunwert, heute unzumutbar – Wiederholt sich die Geschichte doch?, München 1998, 20
- Kaiser J.-C., Euthanasie. Theoretische Grundlegung in der Weimarer Republik – Praktische Durchführung im Dritten Reich, in: Ev. Akademie Baden (Hrsg.), Soll das Baby leben?, Über Früheuthanasie und Menschenwürde. Herrenalber Protokolle 75. Karlsruhe 1991, 25ff
- Vgl. Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 43
- Binding K./Hoche A., Die Freigabe und Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920, zit. nach: Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 57f; Barth F., Euthanasie, Heidelberg 1924, 64f
- Lenz F., Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik), in: Baur/Fischer/Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, Band II, München 1931, 307, zit. nach Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe, Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 44
- Barth F., Euthanasie, Heidelberg 1924, 64
- Ebenda, 64f
- Barth F., Euthanasie, Heidelberg 1924, 64f
- Ebenda
- Kerrl H., Nationalsozialistisches Strafrecht. Denkschrift des Preußischen Justizministers, Berlin 1933, zit. nach: Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 109ff
- Ebenda
- Kerrl H., Nationalsozialistisches Strafrecht. Denkschrift des Preußischen Justizministers. Berlin 1933, zit. nach: Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 109ff
- Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 113
- Gleispach W., Tötung, in: Gürtner F. (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht. Besonderer Teil. Bericht der amtlichen Strafrechtskommission. Berlin 1935, 258, zit. nach: Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 111
- Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 109; 118
- Vgl. Klee E., Euthanasie im NS Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens, Frankfurt am Main 1999, 80f
- Klee E., Euthanasie im NS Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens, Frankfurt am Main 1983, 150 und 80f: Der Runderlass erging am 18. 8. 1939 durch den Reichsminister des Inneren (IV 3088/39-1079 Mi) "Streng vertraulich! An die außerpreußischen Landesregierungen usw.
Betreff: Meldepflicht über missgestaltete usw. Neugeborene.
(1) Zur Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiet der angeborenen Missbildungen und der geistigen Unterentwicklung ist eine möglichst frühzeitige Erfassung der einschlägigen Fälle notwendig.
(2) Ich ordne daher an, dass die Hebamme, die bei der Geburt eines Kindes Beistand leistet habt auch für den Fall, dass die Beiziehung eines Arztes zu der Entbindung erfolgt eine Meldung an das für den Geburtsort zuständige Gesundheitsamt nach beifolgendem bei den Gesundheitsämtern vorrätig gehaltenen Formblatt zu erstatten hat, falls das neugeborene Kind verdächtig ist, mit folgenden Leiden behaftet zu sein
1. Idiotie sowie Mongolismus (besondere Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind)
2. Mikrozephalie
3. Hydrozephalus, schweren bzw. fortgeschrittenen Grades,
4. Missbildungen jeglicher Art, besonders Fehlen von Gliedmaßen, schweren Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule
5. Lähmungen einschließlich Littler'scher Erkrankung
Für die Entbindungsanstalten, geburtshilflichen Abteilungen von Krankenhäusern liegt die Meldepflicht der Hebammen nur dann ob, wenn ein leitender Arzt nicht vorhanden oder an der Meldung verhindert ist.
(3) Ferner sind von allen Ärzten zu melden, Kinder, die mit einem der unter Abs. 2 Ziff. 1-5 genannten Leiden behaftet sind und das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, falls den Ärzten die Kinder in Ausübung ihrer Berufstätigkeit bekannt werden.
(4) Die Hebamme erhält für ihre Mühewaltung eine Entschädigung von 2 RM. Die Auszahlung dieses Betrages hat durch das Gesundheitsamt zu erfolgen. Hierneben wird ihr die verauslagte Freigebühr erstattet.
(5) Der Reichsgesundheitsminister wird aufgrund des § 46 Aus, 2 Zoff. 3 und 4 der Reichsärzteverordnung vom 13. Dezember 1935 (RGBl:, I, S. 2433) die leitenden Ärzte von Entbindungsstationen oder geburtshilflichen Abteilungen verpflichten, die erforderlichen Meldungen, für die in der von ihnen geleiteten Anstalt geborene Kinder an das für den Geburtsort zuständige Gesundheitsamt zu erstatten. Es wird ferner alle Ärzte verpflichten, Anzeige an den für den Wohnort des Kindes zuständigen Amtsarzt in den Fällen zu erstatten, in denen ihnen in ihrer Berufsfähigkeit Kinder bekannt werden, die unter Abs. 2 dieses Runderlasses fallen und das dritte Lebensjahr noch nicht überschritten haben. Bei voraussichtlich längerem Auslandsaufenthalt ist die Meldung an das für den Sitz der Anstalt zuständige Gesundheitsamt zu erstatten.
(6) [(6) ... (11)]
In Vertretung, Gez. Unterschrift“ Zit. in: Klee E., "Euthanasie im NS Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt am Main (1983), S. 150 und 80f - Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 117f
- Klee E., Euthanasie im NS Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens, Frankfurt am Main 1983, 305ff
- Kaiser J.-C. et al., Eugenik Sterilisation Euthanasie, Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, 36
- Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 48
- Vgl. Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 31
- Platen-Hallermund A., Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Aus der deutschen Ärztekommission beim Amerikanischen Militärgericht, 2. Auflage, Reprint der Erstausgabe von 1948, Bonn 1993, 10, zit. nach: Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 131
- Weizäcker V. v., Euthanasie und Menschenversuche, in: Ders., Gesammelte Schriften, Band 7, Allgemeine Medizin, Grundfragen medizinischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1987, 91-134
- Ebenda
- Vgl. Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 132
- Zum Fall Gross vgl. auch die Parlamentarischen Anfragen des Justizministers, XX.G.P-NR 3599/AB zu 3658/J sowie des Wissenschaftsministers, XX GP-NR 3760/AB zu 3799/J
- Schulz S., Neutestamentliche Ethik, Zürich 1987, 109f
- Ebenda
- Schönke A., Strafgesetzbuch. Kommentar 4, Freiburg im Breisgau 1949, zit. nach: Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 134
- Ebenda, 449
- Schönke A., Strafgesetzbuch. Kommentar 4, Freiburg im Breisgau 1949, zit. nach: Benzenhöfer U., Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart, München 1999, 449
- Ebenda
- Vgl. Zimmermann M., Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt am Main 1997, 49f
Dr. Conny Martens
Weikersdorfer Platz 2, A - 2500 Baden