Ethische Aspekte der Therapieeinschränkung in der neonatalen und pädiatrischen Intensivmedizin
Zusammenfassung
Ethische Prinzipien, wie das Fürsorgeprinzip und das Prinzip der Schadensverhütung, als auch medizinethische Konzepte, wie das „Best Interests“ – Konzept oder das „Personhood“ – Konzept können in Entscheidungsprozessen im medizinischen Grenzbereich der Intensivmedizin eine wertvolle Hilfe und Stütze sein. Entscheidungen auf bestimmte sehr belastende Therapieoptionen zu verzichten, haben für das weitere Schicksal des Patienten zumeist folgenschwere Auswirkungen, daher muss sicher gestellt sein, dass solche Entscheidungen nur nach umfassender Diagnose- und Prognosestellung, weiters Auslotung und Abwägung aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten getroffen werden. Die elterlichen Wünsche und Vorstellungen sind unbedingt in der Entscheidungsfindung mitzuberücksichtigen. Nach dem Beschluss Therapie einzuschränken ändert sich Qualität und Zielsetzung des Heilauftrages – Sterbebegleitung und Palliativtherapie stehen im Vordergrund.
Schlüsselwörter: Begriffsbestimmung – Sterbehilfe, Ethische Prinzipien, Medizinethische Konzepte, Entscheidungsprocedere, Elterliches Entscheidungsrecht, Sterbebegleitung
Abstract
Ethical principles such as Welfare and Prevention of Damage as well as medicinal concepts like “Best lnterests” or “Personhood” can be valuable aids and support in making decisions in medica1 borderline intensive medicine. Decisions not to begin certain therapies, which wou1d be burdensome for the patient, very often have long-range negative effects for the patient, therefore such decisions should only be made after lengthy diagnoses and prognostics. and also weighing and plumbing all available possibilities. The wishes and feelings of the parents must also be taken into consideration. After having made the decision to reduce or stop therapy, treatment will basically become palliative and terminal patient care.
Keywords: Definitions - Euthanasia, Ethical Principles, Medical Concepts, Decision Making, Parental Rights; Terminal Patient Care
Einleitung
Die Intensivmedizin hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte erzielt. Durch die Möglichkeiten der neonatologischen Intensivmedizin ist es gelungen, ein Überleben immer kleinerer und unreiferer Frühgeborener sicherzustellen und auch im Bereich der pädiatrischen Intensivmedizin steigen stetig die Überlebenschancen kritisch kranker Kinder. Manche Patienten leiden jedoch, nachdem sie die Intensivstation verlassen haben an einer beträchtlichen Dauermorbidität, die mit schwersten körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen einhergeht, sodass zunehmend kritisch hinterfragt wird, ob es wirklich sinnvoll und im Sinne des Patientenwohles ist, in jedem individuellen Fall alle zur Verfügung stehenden intensivtherapeutischen Maßnahmen rigoros einzusetzen. Besteht aber andererseits nicht sogar eine ethisch-moralische Verpflichtung, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um sich nicht fahrlässigen Handelns in Bezug auf das Patientenwohl schuldig zu machen?
1. Begriffsbestimmung und rechtliche Voraussetzungen
Wer sich mit dem Thema „Therapieeinschränkung“ beschäftigt, befindet sich unmittelbar in der Diskussion um Sterbehilfe und den damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen. Es ist daher sinnvoll und notwendig, zunächst eine Begriffsbestimmung der verschiedenen Formen von Sterbehilfe vorzunehmen und auf die rechtlichen Rahmenbedingungen einzugehen.
Grundsätzlich ist zu sagen, dass menschliches Leben von Seiten der österreichischen Rechtsordnung her unabhängig von der jeweiligen „Lebensqualität“, das Höchste aller zu schützenden Rechtsgüter darstellt und unbedingt zu respektieren ist.1
1.1 Aktive direkte Sterbehilfe
Aktive direkte Sterbehilfe bedeutet, dass eine Tötung vorliegt. Das heißt, dass ein Organismus von einer äußeren Einwirkung oder Noxe gewissermaßen überwältigt wird und er keine Gelegenheit mehr hat einen Reintegrationsprozess vorzunehmen – der Begriff des Tötens beinhaltet also eine den Organismus unmittelbar tödlich schädigende Einwirkung.2
Aktive direkte Sterbehilfe wird nach östereichischem Strafrecht als vorsätzliches Tötungsdelikt bewertet4 – sowohl Tötung auf Verlangen bei hoffnungsloser Prognose einer Erkrankung ( §77 StGB), als auch jede Form der Mitwirkung am Selbstmord (§ 78 StGB) ist in Österreich strafbar und kann bei Glaubhaftmachung eines „Tötens aus Mitleid“ bestenfalls Milderung des Strafausmaßes bewirken. Eine aktive direkte Sterbehilfe „aus Mitleid“, die nicht auf „ernstliches und eindringliches Verlangen“ des Patienten erfolgt, ist strafrechtlich als Mord zu werten.1
1.2 Aktive indirekte Sterbehilfe
Man versteht darunter die Verabreichung schmerzlindernder Medikamente, die den Todeseintritt durch Beeinträchtigung des Atemzentrums, des Herz-Kreislaufsystems oder aus anderen Gründen beschleunigen können. Sie gilt, wenn die Absicht des die Medikamente verordnenden oder verabreichenden Arztes primär in einer Schmerzlinderung besteht, als nicht strafbar. Hier kommt es zu einer entschuldbaren Pflichtenkollision des Arztes, zwischen der Forderung Leben zu erhalten, aber auch Schmerzen und Leiden zu mindern.3,4
1.3 Passive Sterbehilfe
Bedeutet einem bereits begonnenen, innerorganismischen Desintegrationsprozess seinen Lauf zu lassen, ohne die zentralen Lebensfunktionen zu stützen bzw. zu substituieren.2 Laut § 110 StGb („Eigenmächtige Heilbehandlung“) ist der Patient entscheidungsbefugt, eine Behandlung anzunehmen oder abzulehnen. Jede ärztliche Maßnahme gegen den vollverantwortlich gebildeten Willen des Patienten wäre ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht („Autonomie“) des Patienten.4,5 Jeder Mensch hat das Recht auf den „eigenen Tod“ und laut den Patientenrechten auch ein Anrecht auf würdevolles Sterben und Sterbebegleitung. Damit eine Erklärung rechtswirksam wird, muss sichergestellt sein, dass der Patient fähig ist, sowohl die Bedeutung, als auch die Tragweite seiner Entscheidung zu erkennen – dies muss im Einzelfall vom aufklärenden und betreuenden Arzt beurteilt werden – vor allem ist auf vorübergehende Stimmungslagen (z.B. unmittelbar nach Eröffnung einer infausten Prognose durch einen Arzt) Bedacht zu nehmen.4
Wie ist aber nun bei einem bewusstlosen oder aus anderen Gründen nicht mehr oder noch nicht willensfähigen Patienten vorzugehen: hier ist vom „mutmaßlichen“ Willen des Patienten auszugehen, vor allem wenn eindeutige Hinweise auf die Wünsche des Patienten für die aktuell eingetretene Situation vorliegen oder zu einem früheren Zeitpunkt geäußert oder niedergeschrieben wurden („Patiententestament“).4 Liegen keine Anhaltspunkte über den mutmaßlichen Willen des betroffenen Patienten vor, so sind die Entscheidungen bezüglich des medizinischen Procedere „im besten Interesse“ des Patienten zu treffen. Dies trifft im Besonderen für Früh-, Neugeborene und Kinder zu und hat daher in Entscheidungsprozessen in der Neonatologie und Pädiatrie große Bedeutung.
Sollte, wie einleitend definiert, ein irreversibel kontinuierlich voranschreitender Desinte-grationsprozess mit höchstwahrscheinlich letalem Ausgang vorliegen („der Sterbeprozess ist im Gange“), so sollte der Arzt den Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen im Hinblick auf ein „Sterben in Würde“ nicht überspannen. Im Falle von Moribunden oder Patienten, die ihr Bewusstsein, bzw. ihr Kommunikationsvermögen irreversibel eingebüßt haben (das betrifft auch die Problematik geistig schwerst beeinträchtigter Früh-, Neugeborener und Kinder), wird dem Arzt von Rechts wegen ein Ermessensspielraum zugebilligt, der es ihm ermöglicht, verantwortungsvolle Entscheidungen in der ärztlichen Pflichtenkollision zwischen „Lebenserhaltung“ und „Leidensminderung“ zu treffen.
1.4 Passive Sterbehilfe versus aktive Sterbehilfe
Zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe besteht daher von Rechts wegen ein erheblicher Unterschied, dabei sollte jedoch die Unterscheidung zwischen aktivem Tun und Unterlassen im Einzelfall nicht gekünstelt an reale Verhaltensweisen geknüpft werden. Es macht letztlich keinen Unterschied, ob eine lebenserhaltende Apparatur abgestellt oder erst gar nicht eingesetzt wird – beides ist als eine Nichtvornahme weiterer lebenserhaltender Maßnahmen zu sehen und gilt daher rechtlich gesehen nicht als aktives Tun, sondern als Unterlassung.1 Natürlich muss sich jeder Arzt, der sich dazu entschließt auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten, bewusst sein, dass er sich im Falle einer Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung ( §95 StGB) zu verantworten hat und es wird an ihm liegen zu beweisen, dass in diesem Fall seine Verpflichtung, Leiden zu mindern und dem Patienten ein Sterben in Würde zu ermöglichen, gegenüber seiner Verpflichtung Leben zu erhalten im Vordergrund stand.
2. Das Dilemma einer unsicheren Prognose
Es gab und gibt immer wieder verschiedenste Ansätze und Überlegungen, um in medizinischen Grenzbereichen zufriedenstellende und vor allem verantwortungsvolle Lösungen zu finden.
Zum Beispiel beschrieb 1986 Nancy K. Rhoden, Professorin für Recht an der Ohio State University 3 nationale Vorgangsweisen/Strategien betreffend das Problem der extremen Frühgeburtlichkeit.6,7
1. Rhoden nannte die Strategie in den USA die „Wait Until Certainty Strategy“ – Alle extremen Frühgeburten wurden rigoros therapiert, bis eindeutig feststand, dass die betreuten Frühgeburten von der Behandlung nicht profitierten oder ihnen aktuell Schaden zugefügt wurde – nur dann wurde an eine Therapieeinschränkung gedacht. Die Auswirkungen einer solchen Strategie sind folgende:
1.a. Manche extreme Frühgeborene werden gerettet, die sonst versterben würden.
1.b. Vielen, die überleben, wird unmittelbarer Schaden zugefügt und es wird ihnen lebenslanges Leid zugemutet.
1.c. Es werden enorme Summen in die neonatologische Intensivmedizin investiert.
2. Am anderen Ende des Spektrums stand das schwedische Vorgehen. Rhoden nannte es die „Statistical Prognostic Strategy“ – Extreme Frühgeburten unter 750 g GG wurden 1986 in Schweden nur dann intensivmedizinisch behandelt (im Sinne eines „Intensive Care“ – mit künstlicher Beatmung), wenn aufgrund eines Prognosescores starke Argumente für ein gutes Outcome vorlagen, sonst wurde „nur“ ein „Special Care“ (intensive Pflege ohne Beatmung) durchgeführt. Die Auswirkungen dieser Strategie sind folgende:
2.a. Manche extreme Frühgeburten sterben, die unter Anwendung aggressiver intensivtherapeutischer Maßnahmen überlebt hätten.
2.b. Sowohl die Zufügung unmittelbaren Schadens, als auch ein schlechtes Outcome mit der Folge eines lebenslangen Leidens wird minimiert.
2.c. Begrenzte soziale Ressourcen werden gespart und können in andere kostenintensive Bereiche (z.B. Vorsorgemaßnahmen) investiert werden.
3. Zwischen diesen beiden Extremen lag das britische Vorgehen. Rhoden nannte es die „Individualized Prognostic Strategy“ –die intensivmedizinische Behandlung wurde unabhängig von Reife und Geburtsgewicht in jedem Fall begonnen, dann aber die Entscheidung zu weiterer rigoroser Intensivtherapie auf Basis klinisch prognostischer Indizes in Bezug auf letztlich letales Ausgehen oder ein Überleben mit schweren Hirnschäden regelmäßig evaluiert und gegebenenfalls revidiert.
Die Auswirkungen dieser Strategie sind:
3.a. Sie rettet mehr Individuen pro Einwohnerzahl als in Schweden, jedoch weniger als in den USA.
3.b. Sie minimiert sowohl das Ausmaß an unmittelbar zugefügtem Schaden, als auch an lebenslangem Leiden.
3.c. Sie spart mehr an limitierten Ressourcen als in den USA, jedoch weniger als in Schweden.
Ein moralisch-ethisches Dilemma kommt in allen drei genannten Strategien deutlich zum Ausdruck, nämlich die statistische Unsicherheit in Bezug auf den individuellen Patienten. Jeder, der Intensivmedizin und Neonatologie betreibt, kann sich an unzählige „Wunder“ erinnern – an klinisch äußerst positive Verläufe von Kindern, denen aufgrund eines Prognosescores nur sehr schlechte Überlebenschancen zugebilligt worden wären.
Jeff Lyon drückt dieses Dilemma in seinem Buch „Playing God in the Nursery“8 sehr pointiert aus, wenn er schreibt:
„If it is hard to justify creating blind para-plegics to obtain a number of healthy sur-vivors, it is equally hard to explain to the ghosts of the potentially healthy that they had to die in order to avoid creating blind paraplegics.“
3. Ethische Prinzipien und medizinethische Konzepte
Auf welcher Basis können wir aber nun im medizinischen Grenzbereich der Intensivmedizin verantwortungsvolle Entscheidungen treffen? In diesen schwierigen Entscheidungsprozessen, die gekennzeichnet sind von persönlicher Betroffenheit, Unsicherheit und vom Abwägen verschiedenster Vor- und Nachteile für unsere Patienten, scheint mir das bewusste Besinnen auf medizinethische Prinzipien und Konzepte eine wertvolle Hilfe und Stütze zu sein. Es sollen nun im Folgenden die meines Erachtens für unsere Arbeit in der neonatologischen und pädiatrischen Intensivmedizin wesentlichen medizinethischen Prinzipien und Konzepte dargestellt werden.
3.1 Medizinethische Prinzipien
All unsere therapeutischen Überlegungen basieren letztendlich auf zwei ethischen Prinzipien:
3.1.1. Das Fürsorgeprinzip – „Principle of Beneficience“
3.1.2. Das Prinzip der Schadensverhütung – „Principle of Nonmaleficence“
Beide Prinzipien sind bereits im „Hippokratischen Eid“ verankert: „Salus aegroti suprema lex“ – die Gesundheit des Patienten sei uns oberstes Gebot und „Primum nil nocere“ – als erstes gilt, dem Patienten nicht zu schaden. Diese beiden Prinzipien sollten grundlegend alle unsere therapeutischen Entscheidungen leiten.
Gemeinsame Aussage der 2 ethischen Prinzipien:
Vor Einsatz medikamentöser oder medizinisch-technischer Maßnahmen muss eine kritische Abwägung des voraussichtlichen Heilerfolges der ins Auge gefassten Maßnahmen und deren potentieller Nebenwirkungen erfolgen. Vor allem bei Einsatz sehr aggressiver intensivtherapeutischer Maßnahmen sollten die potentiellen Belastungen und Nebenwirkungen in einem angemessenen Verhältnis zum therapeutischen Nutzen stehen, ansonsten stellt sich die Frage, ob es nicht eher im Sinne des Patientenwohles ist, auf die eine oder andere intensivtherapeutische Möglichkeit zu verzichten.
Es sei betont, dass es nicht nur unsere ärztliche Pflicht ist, menschliches Leben zu erhalten, sondern dass wir genauso aufgefordert sind, Leiden und Schmerzen zu lindern und Gesundheit wieder herzustellen – ist uns das aufgrund einer schweren irreversiblen Erkrankung eines Patienten nicht mehr oder nur mehr sehr marginal möglich tritt, die Verpflichtung zur Leidensminderung gegenüber der Lebenserhaltung in den Vordergrund unseres ärztlichen Heilauftrages. Auch auf das Patientenrecht auf „würdevolles Sterben und Sterbebegleitung“ möchte ich hier hinweisen.
3.2 Medizinethische Konzepte
Vor allem aus den USA kommend wurden in den letzten 2 Jahrzehnten verschiedene medizinethische Konzepte entworfen, diskutiert und auch angewendet, um zufriedenstellende Lösungen und Vorgangsweisen in der therapeutischen Betreuung von schwerstkranken Früh-, Neugeborenen und Kindern zu finden.
Ein Konzept, dass in erster Linie entworfen wurde, um dem Dilemma des „inkompetenten“, unmündigen, bewusstlosen Patienten zu begegnen, ist das
3.2.1.„Best Interests“-Konzept
Da ein Früh- und Neugeborenes, wie auch ein Kind nicht eigenverantwortlich im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes (Autonomieprinzip) Entscheidungen bezüglich ihn betreffende medizinische Maßnahmen treffen kann, ist ein mündiger kompetenter Stellvertreter dazu verpflichtet, die Benefits und Belastung eines therapeutischen Eingriffs aus der Sicht des Kindes zu evaluieren. Diese Konzept stellt international ein Hauptkriterium in der therapeutischen Entscheidungsfindung bei schwerstkranken Früh-, Neugeborenen und Kindern dar.
Walters definiert 1986 die Stärken und Schwächen dieses Konzeptes9:
Dieses Konzept hat Stärken:
Es ist individuell ausgerichtet. Der Inhalt dieses Konzeptes ist der moralische Wert eines Früh-, Neugeborenen oder Kindes, welcher auf die ganze Person, die dieses Kind einmal sein wird, ausgerichtet ist.
Es erfasst den hohen Wert menschlichen Lebens.
Es anerkennt aber auch tragische Umstände, die eine aggressive medizinische Behandlung nicht mehr sinnvoll erscheinen lassen.
Es hat aber auch Schwächen:
Wie kann ein gesunder Erwachsener aus der Sicht eines körperlich und geistig schwer beeinträchtigten Kindes entscheiden? Wird er nicht aus einem anderen Lebensrahmen heraus, nämlich aus dem eines gesunden Menschen Entscheidungen treffen? Kann er überhaupt mit seinen Lebensmaßstäben die Lebensqualität und damit den „mutmaßlichen Willen“ eines solchen Kindes richtig beurteilen?
Außerdem definiert das „Best Interests“-Konzept keinerlei menschliche Qualitäten, die ein moralisches Verlangen nach Überleben annehmen lassen müssen.
Die Schwächen des „Best Interests“-Konzeptes können durch das folgende medizinethische Konzept ergänzt werden:
3.2.2. Das „Personhood“-Konzept
Dieses Konzept versucht, basale Fähigkeiten zu definieren, die einen Menschen zu einer Persönlichkeit machen, wie Selbst-bewusstsein, rationales und vorausplanendes Denken und vor allem seine Kommunikationsmöglichkeiten.
Die wesentliche Aussage dieses Konzeptes ist, dass nur eine menschliche Persönlichkeit, die zumindest minimale Möglichkeiten besitzt, mit seiner Umwelt zu kommunizieren, und in deren Leben die Zeiten relativen Wohlbefindens die Zeiten des Unwohlseins und der Schmerzen deutlich überwiegen, ein Interesse daran haben kann, unter allen Umständen leben/überleben zu wollen.
Natürlich sind Früh- und Neugeborene vom physiologischen Standpunkt aus gesehen noch keine Persönlichkeiten im obigen Sinn, sie gelten jedoch von ihrer sozialen Rolle her sehr wohl als Personen und genießen deshalb ab der Geburt den vollen rechtlichen Lebensschutz. Die Anwendung des „Personhood“- Konzeptes mag daher in der Neonatologie‚ Schwierigkeiten bereiten – der bereits zitierte Walters hat daher in seinem Artikel 1988 im AJDC9 das Persönlichkeitskonzept durch das von ihm als „Proximate Personhood" genannte Konzept ergänzt:
3.2.3 „Proximate Personhood“: potentiell erreichbare Persönlichkeit
Dieses Konzept kann in zweifacher Weise angewendet werden – auf der einen Seite wird die aktuelle, gegenwärtige „Persönlichkeit“ des beeinträchtigten Neugeborenen betrachtet, auf der anderen Seite die Potentialität, Persönlichkeitsmerkmale zu entwickeln.
a. Die aktuelle Situation: hier liegt der Focus auf der bereits erreichten Entwicklung des Kindes – welchen Grad der physischen und kognitiven Persönlichkeitsentwicklung in Bezug auf das chronologische Alter gemessen am Erreichbaren hat das Kind bis dato bereits erreicht?
b. Welches Potential besitzt das Neugeborene, zumindest minimale Persönlichkeitsmerkmale zu entwickeln? Minimale Persönlichkeitsmerkmale zu besitzen, bedeutet zumindest in basaler Weise sich als rationales Wesen zu erkennen und bewusste Entscheidungen treffen zu können – die christlich-jüdische Tradition beschreibt den Menschen als geschaffen „nach dem Bilde Gottes“, was zumindest ein Minimum an persönlicher Fähigkeit bewusst Richtiges vom Falschen zu unterscheiden und bewusste Beziehungen zu seinen Mitmenschen und zu seiner Umwelt einzugehen beinhaltet. – Da Neonatologen übereinstimmen, dass die exakte Voraussage der Entwicklungsmöglichkeiten von schwer beeinträchtigten Früh- und Neugeborenen nicht möglich ist, sollten Neugeborene, die das Potential besitzen, zumindest minimale Persönlichkeitsmerkmale zu entwickeln, auf jeden Fall eine rigorose Intensivtherapie ohne Einschränkungen erhalten. Die Behandlung eines Früh-/Neugeborenen mit dem Potential zur Entwicklung minimaler Persönlichkeitsmerkmale ist für Walters moralisch zwingend.
Doyle und Wilsher10 nennen drei Patientengruppen, die keine Möglichkeiten besitzen, sich zu einer menschlichen Persönlichkeit zu entwickeln:
- Kinder, die an Krankheiten leiden, die bereits vor Erreichen des Erwachsenenalters zum Tode führen.
- Behinderungen, die aufgrund eines neurologischen Schadens so massiv sind, dass die Entwicklung von Selbstbewusstsein und bewusstem Agieren praktisch ausgeschlossen ist.
- Behinderungen, die die Entwicklung eines basalen Selbstbewusstseins zulassen, die begleitenden physischen Einschränkungen aber so ausgeprägt sind, dass keine Hoffnung besteht, dass dieses Individuum jemals fähig sein wird, selbstständig zu handeln („to act on his or her own behalf“)
Eine vierte Patientengruppe, bei denen immer wieder an Therapiebeschränkung gedacht wird, sind Patienten, die an einer Erkrankung leiden, die zwar mit einer normalen geistigen Entwicklung, jedoch mit ausgeprägten physischen Behinderungen einhergeht und starke Schmerzen und Leiden verursacht, vor allem wenn zusätzlich oftmals im Laufe der Erkrankung invasive Eingriffe erforderlich werden.
Der bereits oben erwähnte Walters9 geht auf dieses Problem ein, wenn er schreibt, dass in dem Fall, in dem das physiologische Handicap so schwer ist, dass das persönliche Leben eine Nettobelastung ergibt, eine lebenserhaltende Therapie auch oder gerade aufgrund einer zu erwartenden normalen Geistesentwicklung moralisch nicht zwingend sein kann.
Diese Problemstellung führt uns zu einer Fragestellung, die immer wieder auftaucht, wenn es um Therapiebegrenzung, bzw. Therapieeinschränkung geht – inwiefern ist Lebensqualität ein Parameter, der in diese schwierigen Entscheidungen einfließen kann/soll?
4. Die Frage der Lebensqualität – ein medizinethisches Kriterium?
Der Begriff „Lebensqualität“ wird in der Medizin erst seit relativ kurzer Zeit erwähnt und scheint seine Wurzel in dem seit der Aufklärung bestehenden Wandel der Arzt-Patienten-Beziehung zu haben. Stand im Hippokratischen Eid die Entscheidungskompetenz des Arztes, der aufgrund seiner Ausbildung wusste, was für den Patienten die beste Therapieform sei und daher angewendet werden sollte, im Vordergrund, so wurden in der Zeit der Aufklärung Patientenautonomie und die Würde des Patienten entscheidend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Sie wandelte sich von der hippokratischen paternalistischen zu einer partnerschaftlichen Beziehung: der Patient hat das Recht für sich zu entscheiden, ob eine ärztlicherseits vorgeschlagene Therapie durchgeführt werden soll oder nicht, ja sofern seine Entscheidungsfähigkeit nicht eingeschränkt ist, hat er sogar das Recht eine lebensverlängernde Therapie abzulehnen. Um jedoch für sich beurteilen zu können, ob er eine lebensverlängernde oder sehr belastende Therapie ablehnen soll oder nicht, gehört wesentlich auch eine Selbsteinschätzung seines Befindens, eine Beurteilung seiner Lebensqualität dazu. Da der Mensch die bemerkenswerte Eigenschaft besitzt, sich schwierigen Situationen anzupassen und nach einer Zeit der Krise auch in sehr belastenden Lebenssituationen neue „Lebensqualitäten“ zu entdecken, ist eine Objektivierung von Lebensqualitätskriterien sehr schwierig, wenn nicht gar in Bezug auf den individuellen Patienten unmöglich. Eine Beurteilung der Lebensqualität wird daher in erster Linie nur als Eigeneinschätzung möglich sein und daher immer einen subjektiven Charakter aufweisen.
Zum Problem der Fremdeinschätzung sagt Meran in einem Vortrag 1995:
„Die Fremdbewertung von Lebensqualität misst nicht mit dem normativen Maß des betroffenen Patienten, sondern mit dem Standard des Beobachters, welcher keineswegs geeignet sein muss. Auch eine Korrektur durch Wiederholung der Bewertungen durch weitere Beobachter kann zwar eine pluralistische Durchschnitts-Norm aufstellen, die vielen entspricht, für den einzelnen Patienten jedoch verfehlt sein kann.“11
Ich möchte an dieser Stelle auch nochmals auf die Probleme der Fremdbeurteilung bei Anwendung des „Best Interests“-Konzept hinweisen (siehe oben Kapitel 3.2.1).
Eine zweite Problematik bei Verwendung des Kriteriums „Lebensqualität“ zur Beurteilung, ob eine lebensverlängernde Therapie angewendet werden soll oder nicht, ergibt sich in der Beurteilung von „nicht mehr lebenswertem Leben“ – „So würde ich nicht mehr leben wollen!“ Hier wird ein Zustand, nämlich der des Todes, dessen „Qualität“ wir nicht beurteilen können, weil er nicht erfahrbar ist, mit einem erfahrbaren Zustand, nämlich dem eines individuellen Lebens verglichen und eine Wertung vorgenommen.
Meran sagt dazu: „Jemand, der ein Leben als nicht mehr lebenswert beurteilt, vergleicht es mit Nichtleben; man könnte sagen, er spricht wie ein Blinder von der Farbe. Die Frage, ob die Lebensqualität des Patienten so schlecht ist, dass sein Weiterleben schlimmer ist als sein Tod, ist daher falsch gestellt. Die richtige Frage muss lauten, ob eine Behandlung seine Situation nur verschlimmert und daher nicht angestrebt werden sollte. Denn diese beiden Situationen sind vergleichbar.“11
Ich meine daher, dass das Kriterium „Lebensqualität“ für die Entscheidungsfindung, ob eine bestimmte intensivtherapeutische Maßnahme bei unmündigen Patienten eingesetzt werden soll, nicht geeignet ist, ja in gewisser Weise sogar ethisch-moralisch bedenklich , weil wir uns sehr bald in der Diskussion um lebenswertes/lebensunwertes Leben wiederfinden.
5. Die Entscheidungsfindung
Entscheidungen, auf bestimmte therapeutische Optionen zu verzichten, haben für das weitere Schicksal der betroffenen Patienten zumeist folgenschwere Auswirkungen. Es muss daher sicher gestellt sein, dass solche Entscheidungen nur nach umfassender Sicherung von Diagnose und Prognose, weiters Auslotung und Abwägung aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten getroffen werden. Es ist daher meines Erachtens im Sinne der Patientensicherheit unbedingt notwendig, dass ein grundlegendes Procedere festgelegt wird, wie in solchen Fällen zu verfahren ist und welche Schritte unbedingt eingehalten werden müssen. Dieses Procedere kann für das jeweilige Krankenhaus durchaus unterschiedlich angelegt und der jeweilig zur Verfügung stehenden Infrastruktur angepasst sein – wesentlich ist, dass ein solches Procedere besteht und damit vorschnelle und nicht wohlüberlegte Entscheidungen soweit als möglich ausgeschlossen sind.
6. Wer soll entscheiden?
Da Entscheidungen, Therapie einzuschränken, bzw. abzubrechen in ihren Auswirkungen zumeist endgültig und nicht mehr revidierbar sind, ist es neben einem festgelegten Procedere, wie solche Entscheidungsprozesse ablaufen sollten, mindestens ebenso wichtig zu bestimmen, wer solche Entscheidungen überhaupt treffen kann/darf. Auch diese Frage kann nur unter Berücksichtigung der Infrastruktur des jeweiligen Krankenhauses gelöst werden und durchaus von Spital zu Spital variieren. Es sollten aber einige grundsätzliche Überlegungen bei der Bestimmung der Entscheidungsträger beachtet werden, auf die ich im Folgenden kurz eingehen werde.
Meines Erachtens ist es wesentlich und wichtig, dass solche folgenschweren Entscheidungen nicht von Einzelpersonen, sondern im Team unter Einbeziehung der elterlichen Interessen und Wünsche getroffen werden. Die endgültige Entscheidung liegt beim ärztlichen Leiter der jeweiligen Abteilung, sollte jedoch in Übereinstimmung mit den den Patienten betreuenden ärztlichen KollegInnen, Schwestern, bzw. Pflegern getroffen werden.
Angelpunkt der Entscheidung sollte die Sicht der Eltern sein (siehe auch Kapitel 7).
Es ist sehr hilfreich und sinnvoll, eine Mindestzusammensetzung eines solchen Entscheidungsteams zu definieren, sodass auch unter Zeitdruck sehr rasch auf der einen Seite, mit größtmöglicher Sicherheit für einen verantwortungsvollen Ablauf der Entscheidungsprozesse, auf der anderen Seite ein Konzept der weiteren Behandlung des Patienten getroffen werden kann. Prinzipiell ist jedoch zu sagen, dass, wenn immer möglich, für solche Entscheidungsprozesse ausreichend Zeit zur Verfügung stehen sollte. Ein solches Entscheidungsteam könnte in seiner personellen Minimalzusammensetzung folgendermaßen ausschauen: die/der ärztliche LeiterIn der Abteilung, die/der stationsführende Ärztin/Arzt, die/der Stationsschwester/-pfleger, die/der den Patienten aktuell betreuende Krankenschwester/-pfleger. Natürlich ist es wertvoll und es sollte, wenn genügend Zeit und Personalressourcen zur Verfügung stehen, auch genutzt werden, dieses Team zu erweitern: z.B. Einbeziehung von ÄrztInnen, die den Patienten im Journaldienst betreuen, andere Mitglieder aus dem Pflegeteam, Spezialisten anderer medizinischer Professionen, wie Physiotherapeuten und Psychologen, aber auch nichtmedizinischer Professionen, wie Sozialarbeiter oder auch Geistliche, wenn sie eine Beziehung zum betroffenen Patienten haben. Vor allem wenn es um die Sicherung von Diagnose und Prognose geht, ist es wichtig, die Meinung aller zur Verfügung stehenden Spezialisten der medizinischen Fächer, die durch Teilaspekte der Erkrankung mit dem Patienten befasst sind, anzuhören und deren Meinung in die Entscheidungsfindung einfließen zu lassen.
Auf einen weiteren prozedualen Sicherheitsmechanismus möchte ich noch hinweisen: aufgrund der bereits erwähnten folgenschweren Auswirkungen solcher Entscheidungsprozesse für den Patienten sollte es meiner Ansicht nach keine Mehrheitsentscheidungen geben, sondern alle Beteiligten müssen überzeugt sein, dass die getroffene Entscheidung die Beste im Interesse des Patienten ist. Sollten bei einzelnen Mitgliedern im Entscheidungsteam Zweifel über die Richtigkeit der Vorgangsweise bestehen, so müssen/sollen alternative Vorschläge in Betracht gezogen werden, bzw. alle therapeutischen Optionen doch wahrgenommen werden nach dem Grundsatz „im Zweifel für das Leben“.
Campbell meinte bereits 1982, dass Entscheidungen auf intensivmedizinische Maßnahmen zu verzichten oder sie zurückzunehmen auf folgender Basis beruhen sollten12:
Genaue Diagnose, detailierte, umfassende Analyse aller medizinischen und sozialen Umstände, inklusive eines objektiven Abschätzens des neurologischen Outcomes. Die endgültige Entscheidung sollte vom ärztlichen Leiter in Übereinstimmung mit ärztlichen Kollegen und Schwestern, die das Kind tagtäglich betreuen, getroffen werden (sie müssen nämlich die emotionale Last am schwersten tragen!). Über allem sollte jedoch die Sicht der Familie stehen. Sie sollte quasi der Angelpunkt der Entscheidung sein. Alle Beteiligten müssen überzeugt sein, dass die folgenschwere Entscheidung die Beste im Interesse des Patienten und der Familie ist. Die Entscheidung sollte erst nach einer Zeit der Reflexion und der nochmaligen Schau auf alle Optionen des Patienten und auf die Implikationen einer Therapieeinschränkung erfolgen. Die Entscheidung darf auf keinen Fall beiläufig oder überhastet getroffen werden! Der Entscheidungsprozess sollte in der Krankengeschichte des Patienten vermerkt werden.
Eine wesentliche Rolle in der Entscheidungsfindung spielen die Eltern des betroffenen Kindes. Durchaus unterschiedliche Auffassungen sowohl von Seiten des medizinischen Personals, als auch von juristischer Seite bestehen jedoch über das Ausmaß der Einbindung der Eltern und deren Mitspracherecht in diesen Entscheidungsprozessen. Diese Fragen sollen im nächsten Kapitel beleuchtet werden.
7. Die Rolle der Eltern („Parental Authority“)
Da ein Kind unmündig ist und somit nicht für sich selbst eigenverantwortlich entscheiden kann, ob es eine therapeutische Maßnahme oder überhaupt eine medizinische Behandlung möchte oder ablehnt, sind seine Eltern als die rechtmäßigen Entscheidungsträger befugt, Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen.
Elterliches Entscheidungsrecht ist stark, aber nicht unbegrenzt. Ulsenheimer, Professor für Recht aus Deutschland beleuchtet 1986 in einem Vortrag13 die rechtliche Kompetenz der Eltern in Bezug auf Therapieeinschränkung bzw. -abbruch: Da die eigenmächtige Heilbehandlung gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten verstößt und daher verboten ist, bedürfen notwendige Eingriffe in seine körperliche Integrität der rechtfertigenden Einwilligung. Diese ist, da ein Neugeborenes (gilt ebenso für das Kind – Anm.) entscheidungsunfähig ist, von den Eltern zu erteilen. Zu beachten ist, dass die wirksame Einwilligung die Aufklärung durch den Arzt voraussetzt, das heißt dieser muss über den Zustand und die Leiden des Kindes, die Art der möglichen Maßnahmen, also das „medizinisch Machbare“, z.B. die maschinelle Beatmung, Operationstechniken und deren Folgen, Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, Medikamente, die Schwere des Eingriffs, die Folgen der Nichtbehandlung, die Erfolgsaussichten der Behandlung, ökonomische Aspekte u. a. aufklären. Die ausschließliche Kompetenz für die Aufklärung über die vorzunehmenden Maßnahmen hat der Arzt, die ausschließliche rechtliche Kompetenz in diese einzuwilligen liegt bei den Eltern.
Zur Frage, ob die Zustimmung der Eltern zu einer Nichtbehandlung rechtlich relevant ist, sagt Ulsenheimer13: Dies muss meines Erachtens eindeutig verneint werden, da die Eltern keine Rechte haben, über das Leben und den Tod ihrer Kinder zu entscheiden. Die Einwilligung der Eltern in die mit einem Behandlungsverzicht untrennbar verbundene Lebensverkürzung ist daher rechtlich bedeutungslos. Allein der Arzt kann aufgrund seiner durch Wissen und Erfahrung geprägten Sachkenntnis entscheiden, ob in einem konkreten Fall die Grenze der Behandlungspflicht erreicht ist, in diesem Fall also auf die Vornahme lebenserhaltender bzw. lebensverlängernder Maßnahmen verzichtet werden kann. Das Einverständnis der Eltern mit dem Untätigbleiben des Arztes und den damit verbundenen sicheren Tod des Kindes vermag den Arzt nicht zu rechtfertigen, da insoweit keine Kompetenz der Eltern besteht. Eine Fehlentscheidung hat der Arzt im Falle eines Ermessensmissbrauchs zu verantworten.
Auch von ethisch-moralischer Seite bestehen Bedenken, wenn Eltern bei Therapieeinschränkung an ihren Kindern mitbestimmen sollen:
- Können Laien auch bei sehr verständlicher und genauer Aufklärung die Situation eines schwer kranken Kindes abschätzen?
- Sind Eltern aufgrund ihrer emotional starken Belastung durch die lebensbedrohende frustrane Situation ihres Kindes nicht zu befangen, um gute und objektive Entscheidungen für ihr Kind treffen zu können?
- Würde sie eine Entscheidung zu einer Therapieeinschränkung bei ihrem Kind mit schließlich letalem Ausgang ein Leben lang belasten? (‘Wir haben unser Kind sterben lassen!´)
Meines Erachtens geht aus den obigen Ausführungen hervor, dass es wichtig und notwendig ist, Eltern in Entscheidungsprozesse, die die Therapie oder auch Nicht- Therapie ihrer Kinder betreffen, einzubeziehen, es ist jedoch von ethisch-moralischer Seite her nicht günstig, ja von rechtlicher Seite her sogar irrelevant, ihnen die Mitverantwortung für solche Entscheidungen aufzubürden. Eine sehr wesentliche und wichtige Rolle haben die Eltern, wenn es darum geht, den Lebenskontext des Patienten zu erforschen, um eine Entscheidung in seinem „Besten Interesse“ treffen zu können. Es empfiehlt sich daher vor einer Sitzung des Entscheidungsteams die Sicht der Eltern, die ihr Kind am Besten kennen, zu erkunden und diese Erkenntnisse dann in die Entscheidungsprozesse einfließen zu lassen. Ist die Entscheidung für ein bestimmtes Procedere gefallen, dann sollte in einem ausführlichen Gespräch (Arzt und Pflegeperson!) den Eltern diese Entscheidung mitgeteilt und ihre Bedenken angehört werden. Eine explizite oder sogar schriftliche Zustimmung der Eltern zu der erfolgten Entscheidung ist meines Erachtens nicht notwendig und würde die Eltern aus oben genannten Gründen zu sehr belasten. Wenn in einem solchen Aufklärungsgespräch ein stiller „informed consent“ herrscht, indem die Eltern keine Bedenken gegen das vorgeschlagene Procedere vorbringen, so ist dies sicherlich als eine ausreichende Zustimmung anzusehen. Wenn Eltern jedoch gegen die beschlossenen Maßnahmen Bedenken anmelden, so ist diese Entscheidung nochmals im Team zu überdenken und gegebenenfalls zu revidieren. Eine Therapieeinschränkung gegen den ausdrücklichen Willen der Eltern halte ich für bedenklich und für eine optimale Sterbebegleitung sehr ungünstig, da es aus meiner Sicht für den kleinen Patienten unendlich wichtig ist, dass das gesamte Betreuungsteam „an einem Strang“ zieht. Nur dann ist ein Sterben in Würde und Frieden möglich, auf das auch unsere kleinsten und jüngsten Patienten ein Anrecht haben.
8. Die Dokumentation
Im Sinne der Patientensicherheit, aber auch um in eventuellen späteren gerichtlichen Verfahren nachweisen zu können, dass im Falle einer Therapiebegrenzung eine sehr sorgfältige Analyse der Situation des betroffenen Patienten, als auch ein sehr gewissenhafter Entscheidungsablauf stattgefunden hatte, ist es unbedingt notwendig, die prozedualen Abläufe der Entscheidungsprozesse genau zu dokumentieren. Vor allem die Tatsache, dass solche Entscheidungen im Team getroffen wurden und nach Beratung von mehreren kompetenten Persönlichkeiten im Sinne des „Besten Interesses" des Patienten entschieden wurde, sollte klar aus den vorhandenen Aufzeichnungen hervorgehen. Eine oberflächliche Dokumentation aus eventueller Angst vor rechtlicher Verfolgung ist erstens ethisch-moralisch entschieden abzulehnen, wird aber auch im Falle einer rechtlichen Verfolgung ein schlechtes Bild („Vertuschungsabsicht“) auf den Entscheidungsträger werfen.
9. Sterbebegleitung
Nach dem Beschluss die Therapie einzuschränken, ist die Pflicht zur ärztlichen und pflegerischen Obsorge nicht zu Ende! Was sich jedoch ändert, ist die Qualität und Zielsetzung der Betreuung. Da der konkrete Heilauftrag nicht mehr im Vordergrund steht, geht es in erster Linie um die basalen Bedürfnisse des Patienten nach Wärme, Hautkontakt, Schmerzfreiheit und Ruhe. Durch spezielle Lagerungsmethoden, sanfte Massagen (evtl. mit warmen Ölen), Abdämpfung des Lichtes und – soweit als möglich Achtung – auf ausreichende Ruhephasen (auf der Intensivstation herrscht oft sehr viel Lärm und eine grelle Lichtatmosphäre) kann dem Patienten in seinen letzten Stunden eine möglichst stressarme Zeit geboten werden, sodass ein Sterben in Würde und Ruhe ermöglicht wird. Eine ausreichende medikamentöse Schmerz- und Sedierungstherapie sollte selbstverständlich sein. Durchaus unterschiedliche Ansichten bestehen zum Thema parenterale Ernährung von sterbenden Kindern. Wichtig ist meiner Ansicht nach durch Infusionen, in welchem Ausmaß und welcher Zusammensetzung auch immer, sicherzustellen, dass das Kind weder an Durst noch Hunger leidet.
Sollte das Kind zum Zeitpunkt des Entschlusses, auf weitere intensivtherapeutische Maßnahmen zu verzichten, nicht intensivpflichtig sein, so kann zusammen mit den Eltern überlegt werden, ob nicht in einem Mutter-Kind-Zimmer eine geignetere Atmosphäre für das sterbende Kind geschaffen werden kann, als es auf der Intensivstation möglich ist. Natürlich hängt so eine Überlegung sehr stark von der Bereitschaft der Eltern ab, in den letzten Stunden bei ihrem Kind sein zu wollen und es selbst zu versorgen. Die Intimität eines Mutter-Kind-Zimmers würde allerdings ideale Voraussetzungen bieten, dass Eltern in einer abgeschirmten Privatsphäre in Ruhe von ihrem Kind Abschied nehmen können.
Immer wieder wird auch überlegt, ob es nicht auch sinnvoll wäre, sterbende Kinder den Eltern mit deren Einverständnis nach Hause mitzugeben – dies scheint mir aufgrund der in dieser Hinsicht weitgehend fehlenden Infrastruktur in Östereich derzeit nicht möglich zu sein.
Wichtig ist in dieser für die Eltern sehr schweren und belastenden Zeit, eine ausreichende Betreuung in Form von Gesprächen (sowohl mit ÄrztInnen, Pflegepersonal, als auch wenn möglich und gewünscht Psychologen oder auch Geistlichen) bereit zu stellen und ihnen Unterstützung und Ermutigung bei der Pflege ihrer sterbenden Kinder zu bieten. Das Angebot und die Abhaltung religiöser Rituale (Taufe, letzte Ölung u. a.) sollte auf Wunsch der Eltern jederzeit auch auf einer Intensivstation möglich sein.
Sehr wertvoll für die Trauerarbeit der Eltern, als auch der Geschwister des verstorbenen Kindes ist die Entwicklung von Trauerritualen – Anfertigung eines letzten Fotos, eines Hand- oder Fußabdruckes u. a. des verstorbenen Kindes – diese Erinnerungsstücke können allen Familienmitgliedern eine wichtige Hilfe sein, um die Trauer um das so früh verstorbene Kind/Schwester/Bruder zu bewältigen, denn je mehr wir uns erinnern, desto leichter können wir mit Trauer umgehen. Auch wenn die Eltern zunächst ausdrücklich keine Erinnerungsstücke an ihr verstorbenes Kind haben wollen, ist es dennoch sinnvoll, unaufgefordert Fotos des toten Kindes anzufertigen und aufzuheben, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass manche Eltern erst lange Zeit nach dem Tod ihres Kindes spüren, dass sie das nochmalige Anschauen ihres toten Kindes zur vollständigen Verarbeitung dieser schmerzlichen Erfahrung brauchen.14
Ist das Kind schließlich verstorben, sollte mit den Eltern in einem abschließenden Gespräch die Problematik der Obduktion (kann eventuell im Sinne einer endgültigen Diagno-sestellung wichtig sein) besprochen werden und ihnen vor allem die Möglichkeit für weitere Gespräche angeboten werden.
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass das Sterben eines Kindes, insbesondere unter Therapieeinschränkung nicht nur für die Eltern, sondern auch für das gesamte medizinische Personal eine große emotionale Belastung darstellt. Es ist daher für das medizinische Personal sehr wichtig, auch nach dem erfolgten Beschluss des medizinischen Procedere ausreichend Zeit für gemeinsame Besprechungen aufzuwenden, um auftretende Spannungen im Team oder zwischen Eltern und Team rechtzeitig und ausreichend zu bearbeiten. Sehr hilfreich ist hier eine Unterstützung durch psychologisches Fachpersonal im Sinne einer Supervision. Manchmal wird es auch notwendig und sinnvoll sein, nach dem Tod eines Kindes im Team bestehende Unklarheiten, Schuldzuweisungen und Sorgen zu bearbeiten.
Referenzen
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- Lennert, C., „Gesetzliche Regelungen zur Sterbehilfe in verschiedenen Ländern Europas und in den USA – eine Übersicht“, Erwachsenenbildung „EB“ (1994), 40. Jahrgang , Heft 3, Patmos Verlag, Düsseldorf
- Bauer, G., „Gebot, Zulässigkeit und Grenzen der Sterbehilfe“, Fortbildungsbrief Nr. 49 aus dem Referat für Fort- und Weiterbildung der Wiener Ärztekammer
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- Campbell, A.G.M., „Which infants should not receive intensive care?”, Arch. Dis. Child. (1982) 57: 569-571
- Ulsenheimer, K., „Kompetenzprobleme bei der Entscheidung über die Behandlung oder Nichtbehandlung schwerstgeschädigter Neugeborener“. In: MedR, „Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen“, Springer-Verlag Berlin Heidelberg (1987), S.111-122
- Lothrop, H., „Gute Hoffnung – Jähes Ende“, Kösel Verlag, 7. aktualisierte Auflage (1998)
Weiterführende Literatur
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- Duff, R.S., Campbell, A.G.M., „Moral and ethical dilemmas in the special care nursery“, N. Engl. J. Med. (1973) 289: 890-894
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- Chiswick, M.L., „Withdrawal of Life Support in Babies: Deceptive Signals“, Arch. Dis. Child. (1990) 65: 1096-1097
- Hiersche, H.D., Hirsch, G., Graf-Baumann, T., „Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen“, Med R, Springer-Verlag Berlin Heidelberg (1987)
- „Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen“, Ethik Med (1992) 4: 103-104
Dr. Alfred Dilch, G. v. Preyer'sches Kinderspital
Interdisziplinäre Intensivstation und Neonatologie
Schrankenberggasse 31, A-1100 Wien