Editorial
Seit dem 11. September hat sich vieles geändert. Aus der Perspektive von Imago Hominis kann man zunächst zwei Veränderungen wahrnehmen. Die erste ist, dass die Bioethikdebatte aus der Öffentlichkeit verschwunden ist. Nachdem rund ein Jahr lang vor allem in Deutschland eine intensive Diskussion geführt wurde, hört man plötzlich nichts mehr über Präimplantationsdiagnostik, Stammzellenforschung, Embryonenforschung, Gentechnologie und Klonen. Vielleicht ist es nun besser so. Es sind praktisch alle Argumente ausgetauscht worden. Jetzt muss jeder darüber nachdenken. Allerdings ging es von Anfang an weniger nur um Bioethik als um Biopolitik. Eigentlich ist die Bezeichnung „Bioethikdebatte“ eine Irreführung. Die Frage ist, wie wollen wir, wie will unsere Gesellschaft in der Zukunft mit menschlichem Leben umgehen? Und dies ist eine durch und durch politische Frage. Nur die Materie, die in Wahrheit zur Diskussion steht, nämlich die Einschränkung des Menschenrechtes auf Leben, ist so schwerwiegend, dass die Politiker sie gerne unter dem Titel der Bioethik behandelt wissen wollen. Eine politische Rechtfertigung für ein solches Ansinnen – Lebensrecht für die einen ja, für die anderen nein – würde immer der Moralvergessenheit verdächtigt werden. Die erwähnte Debatte ist in den Hintergrund getreten – vielleicht auch, weil die zweite erwähnte Veränderung die zum Greifen nahegekommene Bedrohung des Bioterrors ist. Ob nun mit Anthraxbakterien oder anderen Erregern, ist nicht wo wichtig; nach dem 11. September ist jedenfalls die Bedrohung weltweit präsent. In einer Zeit, in der wir uns immer sicherer fühlten scheint plötzlich niemand mehr sicher zu sein. Das Leben vieler unschuldiger Menschen ist plötzlich von Willkür bedroht. Wie schnell ein ganzes Land zu verunsichern ist, haben wir nun in den USA gesehen. Tag für Tag wird die Bevölkerung auf unabwendbare Katastrophen vorbereitet. Dagegen konnten eigentlich nur Alibihandlungen gesetzt werden. Die Frage, die sich viele verzweifelte Amerikaner stellen – aber auch andere, wie wir in Europa, die vorerst nur am Rande betroffen waren, lautet: wie wird hier mit menschlichem Leben umgegangen? Es ist also dieselbe Grundfrage, die vor dem 11. September die Biopolitik beschäftigte, diesmal aus einer ganz anderen Perspektive. Bei der biopolitischen Debatte haben wir letztlich darüber diskutiert, ob es legitim sei, das Menschenrecht auf Leben in manchen Fällen weiter einzuschränken. Auch hier sind Menschen bedroht, allerdings sind es nicht die Teilnehmer der Debatte, sondern bedenklicherweise, wie Jürgen Habermas vor kurzem in einem bemerkenswerten Vortrag es treffend formulierte, die Schwachen und Hilflosen, die nicht mitreden können.
Der 11. September war also eine Art „Denkzettel“, den die westliche Welt verpasst bekommen hat. Wir sollten nachdenken und uns überlegen, ob die Argumentation der „Starken“ in der bioethischen und -politischen Debatte im Lichte der neuen Situation eigentlich nicht präpotent, überzogen, ja sogar verantwortungslos war.
Wie konnte es passieren? Oft haben wir in Imago Hominis darauf hingewiesen, dass in der biopolitischen und -ethischen Argumentation es bedauerlicherweise üblich geworden ist, die Richtigkeit von Thesen durch ihre Konsensfähigkeit zu begründen. In der Politik mag der Konsens Staat und Gesetzgebung legitimieren, in der Moral ist er höchstens ein Zeichen für die soziale und politische Geltung der Norm, welche die moralische Legitimation letztlich von woanders beziehen muss. Wenn man das im politischen Bereich geltende demokratische Prinzip auf den moralischen Bereich überträgt und damit den Konsens als die moralisch-legitimierende Instanz statuiert, resultiert ein unbefriedigender moralischer Minimalismus und eine Pervertierung der Toleranz daraus.
Der Konsens ist sehr wichtig, er ist ein notwendiger Bestandteil des politischen Ethos, kann aber nicht das Ziel der Biopolitik sein, sondern ist eher die Folge ihres Bemühens um die Wahrheit, die – so unzugänglich sie auch erscheinen mag – immer das Streben der Reflexion ist. Die Wahrheit zu finden, wird manchmal nicht leicht sein, aber ein Konsens ohne Wahrheit führt sich selbst ad absurdum. Wenn vordergründig nur ein Konsens angestrebt wird, liegt die Versuchung nahe, im Umkehrschluss im Konsens selbst schon die Wahrheit zu sehen.
Konsensethische Ansätze liefern keine überzeugende Wahrheitslehre. Sie können es auch nicht, denn sie beschäftigen sich fast ausschließlich mit der sozialen Gerechtigkeit und klammern wesentliche anthropologische Aspekte aus. Die lange philosophische Tradition, die von Plato und Aristoteles ausgeht, zeigt, dass diese Verknüpfung zwischen Ethik und Anthropologie unersetzlich durch die Tugendlehre geleistet wird. Durch die wahre Tugend bleibt auch in der Praxis die Moral an die Wahrheit gebunden.
Im Imago Hominis haben wir in der letzten Zeit sehr viel Raum den Tugenden gewidmet, weil wir überzeugt sind, dass die biopolitische Debatte einer Korrektur bedarf, die nur in der Tugendend-ethik zu finden ist. Die vorliegende Ausgabe von Imago Hominis wird wieder dieser Thematik gewidmet. Es ist das dritte Heft über die Tugend. Vordergründig könnte man meinen, dass sie nichts mit den oben erwähnten Überlegungen zu tun hat. Bei näherem Hinsehen könnte die Tugendethik aber sehr wohl eine Antwort bieten. Wenn sich die menschlichen Beziehungen und das gesamte Sozialgefüge nach den Grundsätzen der Kardinaltugenden ausrichten würde, könnten wir die Grundfragen der Biopolitik mit Besonnenheit, ohne Präpotenz und Widerspruch lösen. Klugheit – Gerechtigkeit – Starkmut – Maßhalten, sind jene Haltungen, die bereits antike Denker zu Säulen der Sittlichkeit erklärten. Darüber hinaus gelten sie als Garanten für das Gelingen des Lebens. In dem Heft sind Ergebnisse einer Arbeitsgruppe nachzulesen: Notburga Auner, Oswald Jahn, Rupert Klötzl, Friedrich Kummer und Enrique H. Prat haben sich ein Jahr lang mit der Frage, welche Bedeutung diesen Tugenden im Alltag des Arztes zukommt, beschäftigt.
Da der Jahreswechsel vor der Tür steht, wollen wir allen Lesern ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest wünschen und hoffen, dass Ihnen ein gutes, arbeitsreiches Jahr 2002 beschert sein möge.
Die Herausgeber