Sinnhaftigkeit von Therapieentscheidungen in der Intensivneonatologie
Zusammenfassung
Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium der Sinnhaftigkeit enthält medizinische, indiviual-persönliche und soziökonomische Aspekte, die vor jeder schwierigen Entscheidung genau abgewogen werden müssen. Eine Entscheidung über das Abbrechen therapeutischer Maßnahmen soll in der Intensivneonatologie möglichst konsensuell zwischen dem beteiligten Betreuungsteam und den Eltern getroffen werden, wenn die dafür notwendigen Bedingungen erfüllt sind. Im Zweifelsfall müssen alle notwendigen lebenserhaltenden und lebensqualitätssichernden Maßnahmen so lange aufrechterhalten werden, bis eine eindeutige Entscheidung gefällt werden kann. Eine einmal getroffene konsensuelle Entscheidung sollte ebenfalls nur konsensuell und nur bei Vorliegen neuer Fakten bzw. Behandlungsmöglichkeiten erfolgen, um Schädigungen des Patienten durch Therapieversäumnisse zu vermeiden. Die Durchführung palliativer Therapie sollte ebenfalls standardorientiert mit Berücksichtigung der Schmerzempfindlichkeit der kleinen Patienten und der psychischen Belastung der Eltern erfolgen.
Schlüsselwörter: Frühgeborene, Ethik, Verhältnismäßigkeit, Sinnhaftigkeit, Behandlungsabbruch
Abstract
Proportionality as criterion for the sensibleness contains medical, individual-personal and social-economical aspects which must be exactly weighed and plumbed before making difficult decisions. The intensive neonatology decisions to discontinue therapeutic measures should be made consensual between the team carrying out treatment and the parents of the patient when all the necessary conditions have been fulfilled. Where there is still some doubt about the decision, all the necessary vivifying and life quality measures must be kept up until a final decision is made. In order to avoid the patient being harmed by lack of proper therapy, once a consensual decision has been made then a change of mind due to the presentation of new facts or therapeutic possibilities must also be consensual. Carrying out a palliative therapy should also be done under consideration of the pain sensitivity of the tiny patient and the psychical burden for the parents.
Keywords: ethic, proportionality, sensibleness, withdrawal of treatment
0. Fallbeispiele
- Ein Zwillingsfrühgeborenes (Geburtsgewicht 650g) erleidet am 7. Lebenstag nach einem septischen Kreislaufschock eine Totalnekrose des Darmes. Da ein Überleben mit ausschließlich parenteraler Ernährung nur vorübergehend bzw. befristet möglich ist, der Tod absehbar unvermeidlich ist, wird die Entscheidung zur palliativen Therapie konsensuell getroffen, das Frühgeborene stirbt einige Tage später in den Armen der Eltern.
- Ein sehr kleines Frühgeborenes Geburtsgewicht 550g erleidet im Rahmen einer Sepsis eine schwere Hirnblutung (Grad IV, einseitig). Die neurologische Prognose wird mit >70% Wahrscheinlichkeit als beeinträchtigt klassifiziert und mit den Eltern besprochen. Diese möchten das Kind nicht verlieren und sprechen sich gegen einen Therapieabbruch aus. Das Kind überlebt kognitiv beeinträchtigt und mit einer mittelschweren Cerebralparese. Der hohe pflegerische Aufwand wird von den Eltern, die sich über jeden Fortschritt freuen, weiterhin gerne getragen.
- Bei einem Frühgeborenen (Geburtsgewicht 1200g) mit M. Down und Dünndarmatresie, das von den Eltern nicht akzeptiert wird, stellt sich die Frage der Operationseinwilligung, die die Eltern verweigern. Da das Kind keine weiteren Probleme aufweist, entscheidet das Team, die überlebensnotwendige Operation mit Einverständnis des Jugendgerichts gegen den Willen der Eltern durchführen zu lassen. Die Operation verläuft problemlos, die Eltern, die weiterhin Schwierigkeiten haben, ihr Kind zu akzeptieren, bestehen auf einer Verlegung in ein anderes Krankenhaus, da sie das Vertrauen in das Betreuerteam verloren haben. Das Kind verstirbt einige Monate später unter unklaren Umständen.
- Die Eltern eines kleinen Frühgeborenen (Geburtsgewicht 800g), das bis auf ein Atemproblem keine größeren Probleme bietet, wollen keinesfalls ein behindertes Kind und geben es nach mehreren Versuchen, das Team zu einem Therapieabbruch zu überreden, zur Adoption frei. Das Kind wird schließlich von einer Krankenschwester adoptiert und entwickelt sich in der Folge motorisch normal. Kognitiv ist es etwas beeinträchtigt und besucht einen Integrationskindergarten.
1. Einleitung
Die Fortschritte auf dem Gebiet der Intensivneonatologie haben in den letzten 20 Jahren das Überleben immer kleinerer Frühgeborener ermöglicht. Ein relativ konstanter Anteil dieser Kinder ist aber – bedingt durch die besondere Empfindlichkeit des Zentralnervensystems, vor allem in den ersten Lebenstagen – von schweren neurologischen Schäden und Störungen der Entwicklung der intellektuellen und motorischen Funktionen bedroht.1 Differenzierte klinische Untersuchungen wie die Darstellung des Gehirns mittels Ultraschall oder die Beurteilung der General Movements2 erlauben die Voraussage einer schlechten neurologischen Prognose mit großer Wahrscheinlichkeit. Solche Untersuchungsergebnisse stellen Eltern und Betreuungspersonal vor besonders schwierige ethische Fragen, Entscheidungen und Interessenskonflikte, für deren Lösung es kaum allgemeingültige Richtlinien gibt. Die vorliegende Arbeit versucht, vor allem die Probleme, die im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Sinnhaftigkeit einer Therapie entstehen können, aus medizinethischer Sicht zu definieren und Lösungsansätze zu erarbeiten. Die Fragestellung wurde in fünf Abschnitten behandelt:
- Der Begriff der Sinnhaftigkeit
- Spezifische Aspekte der Sinnhaftigkeit in der Neonatologie
- Verhältnismäßigkeit in der Neonatologie
- Entscheidungsfindung in der Neonatologie
- Behandlungsabbruch und weiterbegleitende palliative Maßnahmen
2. Der Begriff der Sinnhaftigkeit
Bei jeder Behandlung stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Therapie: welche Therapie ist für den Patienten nützlich, d.h. sinnvoll, und welche Therapie soll vermieden werden, weil sie für den Patienten schädlich, sinnwidrig ist? Sinnhaftigkeit ist eine anthropologische Kategorie, die Entscheidungen und Handlungen ganzheitlich betrachtet und in Beziehung zur Sinnstruktur des Menschen setzt. Normativ gesehen führt der Begriff Sinnhaftigkeit zum ethischen Prinzip: „Tue Sinnvolles und unterlasse Sinnloses“, das sich mit dem Grundprinzip der Ethik „Tue Gutes und unterlasse Böses“ deckt. Sinnvolles tun heißt somit, das Gute und Richtige tun.
Sinnhaftigkeit ist also auch ein ethisches Kriterium, das medizinische Entscheidungen und Handlungen ganzheitlich als das Gute und Richtige betrachtet und deshalb als sinnvoll qualifizieren lässt. Sinnhaftigkeit bestimmt, ob eine Maßnahme im Kontext der gesamten Sinnstruktur des konkreten Patienten und der sonst beteiligten Personen kohärent und angemessen ist.
Entscheidungen im medizinische Alltag sind aus medizinethischer Sicht entweder klar, weil die Sinnhaftigkeit dessen, was zu tun ist, keine Fragen aufwirft. Dort aber, wo Unsicherheit über die Wirksamkeit und Effektivität einer Therapie oder in der Einschätzung ihrer Sinnhaftigkeit besteht bzw. wo es Unstimmigkeiten und Interessenkonflikte gibt, setzt die Entscheidung einen medizinethischen Diskurs voraus. Dies ist gerade bei intensivneonatologischen Patienten in lebensbedrohenden Situationen relativ häufig der Fall: einerseits möchte man alles Denkmögliche tun, um das beginnende Leben zu retten und damit die Hoffnungen der Eltern nicht zu enttäuschen, anderseits muss man unbedingt alles Sinnwidrige vermeiden, d.h. alle Handlungen, die das Leiden des Neugeborenen kostspielig, nutzlos und unzumutbar verlängert. Die Entscheidung über die Sinnhaftigkeit3 einer Therapieentscheidung ergibt sich also aus dem Ergebnis eines Abwägens zwischen vielen Faktoren, letztlich also aus dem Abwägen der Verhältnismäßigkeit oder Angemessenheit einer Maßnahme.
Verhältnismäßigkeit als Kriterium für das Sinnvolle
Die Verhältnismäßigkeit ist kein medizinisches sondern ein ethisches Kriterium, das die Qualifizierung einer Handlung als sinnvoll erlaubt. Gerade weil die ethische Kompetenz eine alle anderen Kompetenzen (ökonomische, medizinische, wissenschaftliche, lebensweltliche usw.) integrierende ist, wird sie hier besonders gebraucht. Sie berücksichtigt Dimensionen wie Würde der Person, Selbstbestimmungsrecht, Gemeinwohl, Verteilungsgerechtigkeit, Individualität u.dgl. Sinnvoll wird demnach das Verhältnismäßige und sinnlos das Unverhältnismäßige sein. Tugendethisch ist die Verhältnismäßigkeit als Bestandteil der Klugheit einzuordnen. Jeder Betroffene muss zunächst für sich, aber auch im Diskurs mit den anderen Beteiligten an einer medizinischen Entscheidung dieses Kriterium anwenden.
3. Spezifische Aspekte der Sinnhaftigkeit in der Neonatologie
Die Feststellung der Sinnhaftigkeit in der neonatologischen Intensivtherapie bedingt eine Reihe von Problemen und Konflikten, die einerseits im raschen medizinischen Fortschritt, andererseits in der Abhängigkeit und Entscheidungsunfähigkeit des Neugeborenen und der Doppelrolle der Eltern als Entscheidungsträger und vom Schicksal des Neugeborenen jetzt und auch künftig Betroffenen begründet sind.
Der rasche medizinische Fortschritt gerade auf dem Gebiet der Neonatologie bringt es mit sich, dass es bei vielen auch durchaus üblichen Therapien noch wenig Evidenz über Effektivität und Schädigungspotential gibt (z.B. Beatmungsstrategien, Hirnprotektion). Dabei erscheint vor allem die unkritische Generalisierung eigener Erfahrungen gefährlich. Auch die EBM (evidence based medicine), die Behandlungsrichtlinien nach der Qualität und Sicherheit der zu einem Thema publizierten Studienergebnisse beurteilt, liefert nur bedingt verwertbare Hinweise, da einerseits vor allem prospektive multizentrische Studien aufwendig und langwierig sind und andererseits unterschiedliche allgemeine Behandlungsstrategien an den verschiedenen Zentren auch signifikante Ergebnisse relativieren. Probleme entstehen auch durch unkritische Übernahme von Studienergebnissen (z.B. Ineffizienzvermutung bei fehlender Beeinflussung der in der Intensivneonatologie im Vergleich zur Erwachsenenintensivmedizin relativ niedrigen Mortalität). Die Maxime effizienter Therapie muss daher das permanente kritische Infragestellen aller therapeutischen Möglichkeiten (kontinuierliche Evaluation, Überprüfen der Nachvollziehbarkeit, Erfahrungsvernetzung durch internationale Kontakte) verbunden mit stets wachsamer eigenkritischer Analyse des möglichst standardisierten Therapieplans mittels Methoden des Qualitätsmanagements sein.
Ein weiteres Thema sind die noch spärlich vorhandenen allgemeinen Strategien für die Beurteilung und Therapie von Schmerzen, für palliative Therapie bzw. für das Beenden einer kurativen Therapie. Diese Fragen können derzeit ebenfalls nur mit hoher Sensibilität für das Wesentliche, rekursiver Therapieplanung und laufender kritischer Überprüfung eigener und fremder Erfahrungen in einem möglichst kontinuierlichen Konsensprozess gelöst werden.
Bei Früh- und Neugeborenen kann der Patientenwille nur vermutet werden, die Beachtung der Patientenrechte beruht dann auf Intuition, Good will, wenig reflektierten „Prinzipien“, Vorstellungen usw. Dabei entstehen auch Interessenskonflikte zwischen Kind, Eltern und medizinischem Betreuungspersonal bzw. durch das Verfolgen individueller Ziele auch innerhalb des Elternpaares bzw. auch innerhalb des Intensivteams. Als Beispiele für solche Konflikte zwischen Eltern bzw. Eltern und Kind können das unbedingte Recht auf Überleben gegenüber dem Vermeiden von sinnlosem Schmerz und Leid, die Belastung durch die lebenslange Sorge um ein schwer behindertes Kind gegenüber dem Interesse am Überleben des Kindes „um jeden Preis“, als Beispiele für Konflikte innerhalb des Therapieteams das Erreichen möglichst niedriger Mortalitätsraten, das „Durchbringen“ im Dienst, Angst vor dem Überbringen einer schlechten Nachricht, Interessen innerhalb von Therapiestudien bzw. -protokollen, Verschleiern von Therapiefehlern u.a.m. dienen. Eine Möglichkeit, derartige Konflikte sichtbar zu machen, zu vermeiden oder sogar zu lösen, könnte in einem formalen Verfahren bestehen, das eine „zweite Meinung“ im Sinn einer beratenden Begutachtung durch einen oder mehrere unabhängige neonatologische Experten, eventuell ergänzt durch weitere Fachgutachten (z.B. Patientenanwalt) ähnlich dem Anhalteverfahren in der Psychiatrie, verpflichtend einführt. Die Vorteile eines derartigen beratenden, nicht handlungsverpflichtenden Verfahrens bestünden in größerer Objektivität und Transparenz und in der besseren Gewährleistung der Patientenrechte durch unabhängige Personen, der Nachteil in einer Bürokratisierung und Verzögerung des ohnehin schwierigen Entscheidungsprozesses.
4. Verhältnismäßigkeit in der Neonatologie
Die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit setzt das Abschätzen des qualitativen Nutzens einer Maßnahme, d.h. das Abschätzen ihrer Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit voraus: medizinisch muss belegt sein, dass die Maßnahme eine nützliche Wirkung im Sinne des Erreichens eines geforderten Zieles haben kann. Damit steht der Nutzen fest. Weiters muss dieser Nutzen unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen zumindest grob quantifiziert werden können (Relevanz), d.h. man muss abschätzen, ob der Nutzen größer ist als der mögliche Schaden. Lebensverlängerung allein wäre ungenügend, um die Relevanz einer Maßnahme zu beurteilen, es kommt auch wesentlich auf die Beeinflussung der Lebensqualität (des Outcome) an.
Diese drei Kriterien – Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit, Relevanz – sind rein medizinischer Natur und können nur von Experten, d.h. vorwiegend von Ärzten, richtig angewandt werden. Sie reichen aber zur Beurteilung, ob eine medizinische Maßnahme bei einem konkreten Patienten sinnvollerweise angewendet werden soll, nicht aus. Sinnvoll ist, was für den konkreten realen Menschen in seiner Ganzheit (nicht nur medizinisch-biologisch) und unter Berücksichtigung aller persönlichen – auch der ökonomischen – Umstände angemessen ist. Es geht also darum, nicht nur die Ergebnisse der drei Kriterien sondern auch die Erfahrungen, die geltenden Normen und Richtlinien und ganz besonders auch die persönlichen Umstände des konkreten Menschen, der immer mehr ist als nur eine statistische Größe, zu erfassen! Zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit gilt es, neben den oben erwähnten normativen Kriterien der EBM – Wirksamkeit und Zweckdienlichkeit – auch die Relevanz und individuelle sowie auch sozioökonomische Faktoren miteinander bzw. gegeneinander abzuwägen. Die Verhältnismäßigkeit ist somit das praktische Kriterium, das letztlich die Gesamtheit der zu berücksichtigenden Faktoren einbezieht und die Brücke zwischen der allgemeinen normativen und der konkreten partikulären Ebene schlägt. Auf dieser Ebene müssen die individuellen und die sozialen situationsbedingten Gegebenheiten, in denen sich der neonatologische Patient, seine Eltern und alle an der Entscheidung beteiligten Personen befinden, berücksichtigt werden.
Die individuellen Faktoren der Verhältnismäßigkeit: die Zumutbarkeit
Es geht dabei eigentlich darum, die Zumutbarkeit für den Patienten bzw. für seine Angehörigen in den Abwägeprozess einzubeziehen. Bei neonatologischen Grenzfällen, in denen sich die Frage nach dem Behandlungsabbruch stellt, können anhand der Kriterien von Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Relevanz einer Maßnahme nicht viel mehr als statistische Wahrscheinlichkeiten über Lebenserwartung, künftige Lebensqualität und Risiken angegeben oder abgeschätzt werden. Die eigentliche Frage der Verhältnismäßigkeit besteht darin, ob aus heutiger Sicht, also ausgehend vom derzeitigen Zustand, die Verlängerung des Zustandes, die Behandlung und das zu erwartende Ergebnis überhaupt zumutbar sind. Die Zumutbarkeit ist eine individuelle subjektive Größe, die sich bei Erwachsenen durch Äußerungen des Betroffenen feststellen bzw. mutmaßen lässt, bei Neugeborenen nur von außen bestimmt werden kann. Die Zumutbarkeit für das Neugeborene wird meist von den Eltern vertreten und deshalb von ihrer eigenen Zumutbarkeit bestimmt. Dies erweist sich daher nicht selten als eine Quelle von Konflikten zwischen Eltern und Betreuungspersonal.
Die Fragen der „Zumutbarkeit“ von aktuellem und künftigem Leid sowie Fragen der Grenzen der Lebensfähigkeit bzw. der prinzipiellen „Behandlungswürdigkeit“ von kleinen Frühgeborenen werden in der medizinischen und medizinethischen Literatur ausführlich behandelt.4 Es geht darum, Objektivierungskriterien und Richtlinien der Zumutbarkeit zu finden, die zur Lösung der oben erwähnten Konflikte beitragen können. Absehbar unvermeidbarer tödlicher Ausgang, schwerste irreversible neurologische Schädigung sowie derzeit bzw. künftig unzumutbares Ausmaß an Leid, Schmerz und Belastungen als Entscheidungskriterien für ein „vorzeitiges Beenden der notwendigen Therapiemaßnahmen“ werden angeführt.5 Solche Richtlinien erleichtern im klinischen Betrieb die konsensuelle Beurteilung des medizinethischen Problems. Die Kritik an diesem Ansatz bezieht sich dabei außer im Trivialfall auf die notwendige Berücksichtigung individueller Faktoren bzw. Toleranzgrenzen und den Grad an Informiertheit insbesondere über die nicht explizit vermittelten bzw. vermittelbaren künftigen Folgen schwerer, vor allem geistiger Behinderung und die meist nicht angesprochenen Konflikte im Rahmen der Beachtung der Patienten- und Elternrechte.
Der Begriff der Zumutbarkeit ist allerdings problematisch. Es geht darum, das Leben eines Menschen beenden oder nicht beenden zu lassen. Aber das menschliche Leben ist ein Gut, das unermessliche Würde besitzt und daher nicht mit anderen Gütern abgewogen werden darf. Was hier mit dem Begriff der Zumutbarkeit beschrieben werden soll, ist, dass niemand verpflichtet ist, sein ohnehin schon zu Ende gehendes Leben mit unzumutbaren Mitteln zu verlängern, und dass niemand berechtigt ist, leidvolles terminales Leben bei Bewusstlosen eigenmächtig zu verlängern. Die terminale Situation des Patienten und die therapeutische Ausweglosigkeit müssen allerdings als medizinisches Faktum feststehen, bevor die Zumutbarkeit in der Entscheidung berücksichtigt wird. Der Abbruch einer medizinisch sinnvollen Maßnahme würde sonst in den Bereich der Sterbehilfe fallen und ethisch eine ganz andere Qualität erhalten.
Die soziökonomischen Aspekte der Verhältnismäßigkeit
Die zwei wichtigsten Faktoren der Verhältnismäßigkeit bei intensivneonatologischen Entscheidungen sind soziale Integration (Bereitschaft der Familie bzw. gesellschaftliche Bereitschaft, für Behinderte aufzukommen) und ökonomische Faktoren.
Die soziale Integration
Bereits vor einer Schwangerschaft, aber ganz besonders während dieser entstehen zwischen Eltern und Kind emotionale Bindungen, die für das Neugeborene und sein Umfeld, d.h. seine Familie, nicht nur medizinisch ebenso bedeutend sein können wie in späteren Phasen des Lebens. Während bei den obigen medizinischen Erwägungen die Lebensqualität eine entscheidende Rolle spielte, ist bei der ganzheitlichen Betrachtung, die bei den Abwägungen der Sinnhaftigkeit angestellt wird, die soziale Integration d.h. das Vorhandensein von tiefen emotionalen Beziehungen besonders wichtig. Diese Beziehungen sind eine wesentliche Komponente der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensqualität des Neugeborenen. So wird man Eltern oder Verwandten von Neugeborenen, die bereits starke emotionale Beziehungen zum Kind entfaltet haben, in der Entscheidung um einen Behandlungsabbruch möglicherweise größere Opferbereitschaft zumuten, als Angehörigen, die das Kind immer als Belastung empfunden haben. Man wird auch mehr Rücksicht darauf nehmen, wenn im ersteren Fall die Familie mit ihren Anforderungen über die Grenze der Möglichkeiten geht und ihr soweit als möglich entgegenkommen. Im Gegensatz dazu wird niedrigerer Integrationsgrad – z.B. es gibt keine Angehörigen oder nur schwache Bindungen zu Angehörigen – eine starke Beeinträchtigung der gegenwärtigen und künftigen Lebensqualität des Neugeborenen bedeuten, die zwar auf keinen Fall einen leichtfertigen Behandlungsabbruch legitimiert, aber die eine solche Entscheidung leichter bzw. den Einsatz zusätzlicher Maßnahmen als weniger angemessen erscheinen lassen wird.
Der ökonomische Faktor
Ressourcenknappheit zwingt die immer aufwendigere Medizin zu einer gerechten Verteilung der nicht unbegrenzten Mittel. Das subjektive Wohl eines einzelnen Patienten kann nicht ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl verwirklicht werden. Man wird nicht von der Allgemeinheit bzw. Gesellschaft Ressourcen bzw. Opfer für einen einzelnen Patienten einfordern können, die nicht in einem gewissen Verhältnis zu dem stehen, was für diese Gesellschaft ökonomisch zumutbar ist. Es gibt eine soziale Zumutbarkeit, die von zwei Prinzipien getragen werden muss: Solidarität und Gerechtigkeit. Auf der einen Seite verlangt die Solidarität, dass jeder Patient, eine sinnvolle medizinische Behandlung bekommt. Die Gerechtigkeit allerdings fordert eine richtige Verteilung der Mittel, mit einer Abwägung der Kosten und Nutzen, sodass vermieden wird, dass an einem Patienten kostspielige Mittel verwendet werden, die einerseits bei ihm mit sehr großer Wahrscheinlichkeit keinen Nutzen bringen würden, aber dann zur Behandlung von Patienten mit besseren Chancen fehlen würden. Dieses Prinzip, das zur Lösung von Triageproblemen weitgehend akzeptiert6 ist, muss auch eine Rolle bei der Zuteilung von Ressourcen spielen.
Die Einbeziehung von ökonomischen Überlegungen mag etwas theoretisch erscheinen, vor allem, weil sie sich nicht in eine bestimmte mathematische Formel fassen lassen. Die heutigen Methoden der Kosten-Nutzenanalysen7 sind stark von den fiktiven Annahmen abhängig, auf denen sie basieren. Sie bringen für die konkreten Behandlungsabbruchentscheidungen wenig praktische Hilfe. Dennoch hat jede Behandlungsabbruchentscheidung einen ökonomischen Aspekt, der meist keine große Rolle spielt, manchmal aber doch, z.B. wenn es um die Frage geht, eine kostspielige aber medizinisch nicht mehr sinnvolle Maßnahme nur deswegen fortzusetzen, weil damit die Verwandtschaft beruhigt wird. In der Regel gilt, dass bei aller gebotenen Sparsamkeit der einzelne Patient und der einzelne Arzt alle legalen Möglichkeiten ausschöpfen muss, bevor ein Behandlungsabbruch letztlich mit einem Mangel an Ressourcen begründet werden kann.8
Die Entscheidung über einen Behandlungsabbruch kann anhand eines Flussdiagrammes verdeutlicht werden: Nach Feststellung der Diagnose muss nach einer Therapie gesucht werden. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Therapie kann nicht immer sofort mit „Ja“ beantwortet werden und erfordert ein Abwägen der verschiedenen oben erläuterten Faktoren. Das Ergebnis dieser Abwägung wird entweder „Ja“ sein, d.h. man befindet, dass eine bestimmte Therapie sinnvoll ist oder „nein“, d.h. man findet keine und geht zur palliativen Behandlung über.
5. Entscheidungsfindung in der Neonatologie
Klinische Entscheidungen sollen auch aus verschiedenen (rechtlichen, emotionalen, psychologischen bzw. gruppendynamischen usw.) Gründen möglichst konsensuell (Team/ Eltern), medizinisch, ethisch und emotional bestmöglich abgesichert und nachvollziehbar getroffen werden. Dabei spielen unter Umständen Wissen bzw. Nichtwissen, unterschiedliche Informiertheit, psychologische, soziologische, ökonomische, religiöse, gefühlsorientierte sowie biographische Faktoren eine entscheidende Rolle, die vor allem dann weniger bedeutsam sind, wenn sie explizit angesprochen bzw. noch während des Entscheidungsprozesses analysiert werden. Das Einbinden externer Personen (Theologen, Juristen, Laien, Gutachter) wird – außer in angeforderter beratender Funktion – ebenfalls kontroversiell beurteilt, da einerseits bei klaren Entscheidungen die Hinzunahme solcher Personen verzichtbar erscheint, bei unklaren Entscheidungen die relevante Information meist vom Betreuerteam getroffen werden muss bzw. von anderen, nicht fallrelevanten Faktoren (Sympathie, Autorität etc.) beeinflussbar erscheint. Außerdem wird bei einer Entscheidung gegen die Meinung des Betreuerteams dieses wenig motiviert sein, die Entscheidung zu exekutieren. Andererseits stellt die Einbindung externer Personen auch einen gewissen Schutz gegen einseitige Prinzipentscheidungen und eine gewisse externe Kontrolle dar, vor allem, wenn diese Einbindung beratenden Charakter hat.
Wenn die Entscheidung nicht eindeutig für die Weiterführung der notwendigen medizinischen Maßnahmen und auch nicht eindeutig für die Einleitung palliativer Maßnahmen getroffen werden kann, muss die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Maßnahmen unter den Aspekten erwarteter Ausgang bzw. Voraussage schwerster Schädigung oder schrecklichen Leids, Irreversibilität von Veränderungen, Therapiemöglichkeiten und -risiko, Lebenserwartung und sozioökonomische Faktoren etc. von allen Beteiligten so lange gestellt werden, bis sie möglichst konsensuell eindeutig beantwortet werden kann (s. Graphik). Bis zur endgültigen Entscheidung müssen natürlich alle notwendigen Maßnahmen in vollem Umfang weitergeführt werden, da Schädigungen durch Therapieversäumnisse unbedingt vermieden werden müssen. Eine einmal getroffene konsensuelle Entscheidung für ein Abbrechen der notwendigen therapeutischen Maßnahmen sollte – außer bei einer unerwarteten Änderung der Sachlage (z.B. unerwartete therapeutische Möglichkeit) oder der Einstellung der Betroffenen – möglichst nicht geändert werden, da wechselnde Entscheidungen dem Patienten mehr schaden als eine ununterbrochene Fortsetzung der Therapie und die psychische Belastung eines Hin-und-her vor allem den Eltern aber auch dem Team möglichst nicht zugemutet werden soll.
In diesem Zusammenhang stellen sich auch Fragen der Verbindlichkeit von „Regeln“ oder Entscheidungen bzw. Fragen des Timings und der Zuständigkeit bei Entscheidungen, etwa wer wann was entscheidet. Priorität haben dabei natürlich die Betroffenen, deren Willen aber – mit teilweiser Ausnahme des Betreuungsteams – entweder nur erahnbar ist bzw. aus der Sicht entweder des Betreuungsteams oder im Falle von „Außensteuerung“ von externen, meist schlecht informierter Personen geprägt ist. „Chefentscheidungen“ und Entscheidungen von außen haben zwar den möglichen Vorteil einer gewissen (nicht unbedingt zweifelsfreien) Objektivität, Autorität und einer geringeren Involviertheit, jedenfalls aber die entscheidenden Nachteile einer geringeren Informiertheit und vor allem im Dissensfall das Problem der negativen Teammotivation bedingt durch das Gefühl von Bevormundung und „Außensteuerung“.
6. Wie bzw. mit welchen begleitenden Maßnahmen soll eine als nicht (mehr) sinnvoll erachtete Therapie vorzeitig beendet werden?
Wenn die Entscheidung zum Beenden der Therapie bzw. zum Nichteinsetzen von als sinnlos erscheinenden Maßnahmen getroffen wurde und möglichst konsensuell von allen Beteiligten getragen wird, tritt zunächst ein Paradigmenwechsel im klinischen Planen und Handeln von einem kurativen zu einem palliativen Therapieansatz ein. Dieser Paradigmenwechsel fällt zunächst vielen Beteiligten, vor allem aber den weniger erfahrenen, also zumindest den Eltern, schwer. War vorher praktisch jedes Mittel recht, das Genesung, Restitution oder zumindest eine Verbesserung (oder Nichtverschlechterung) der Vitalfunktionen, das Vermeiden des Einflusses schädigender Noxen, Förderung des Aufbaustoffwechsels usw. versprach, steht jetzt ein Behandlungskonzept im Zentrum der klinischen Überlegungen, das genau jene Handlungen vermeidet bzw. ein möglichst rasches und leidfreies, wenn nicht „glückliches“ Ende ermöglicht. Beiden Behandlungsplänen ist einerseits die Sorge um das Vermeiden überflüssiger köperlicher und psychischer Belastungen, andererseits das Beachten der Grundsätze von Menschlichkeit, Professionalität und Behandlungsökonomie gemeinsam.
Praktisch sieht ein Konzept zur Begleitung, Erleichterung und evtl. Verkürzung des Todeskampfes eine stufenweise Rücknahme der lebenserhaltenden Therapien bis zum Erreichen eines Minimalsupports, der vor allem das Erleben von Angst, Schmerz, Hunger und Atemnot vermeidet. Dabei ist einerseits das Ausmaß des Minimalsupports, andererseits das großzügige Verwenden von Schmerz- und Beruhigungsmitteln an dieser Richtlinie zu messen. Zielvorstellung ist ein möglichst angenehmes „Hinübergleiten“ in den unvermeidlichen Tod, etwa wie es Franz Werfel in „Stern der Ungeborenen“ beschrieben hat.
Nicht nur auf den Patienten sondern auch auf das Erleben der Eltern, Familienmitglieder und Freunde ist besondere Rücksicht zu nehmen. Diesen soll beim Akzeptieren des Unvermeidlichen in einer Atmosphäre emotionaler Wärme und Sicherheit, in angstfreier Umgebung und durch das Akzeptieren von Emotionalität jede erdenkliche Unterstützung gegeben werden. Konkret wird dies vor allem durch besonders für diese Situationen geschultes Personal („Sterbebegleitung“), das auch über die entsprechende intellektuelle und empathische Kompetenz verfügt, ermöglicht. Die individuelle Betreuung mit entsprechend professioneller, unaufdringlicher, ja selbstverständlich erscheinender Rücksichtnahme soll von möglichst wenigen kompetenten Betreuern (möglichst den Bezugsbetreuern), die jede Art von Übertreibung, besondere Sachlichkeit oder besonderes Mitgefühl, vermeiden, übernommen werden. Dabei sollen die sonstigen Stationsaktivitäten nicht verändert, beeinträchtigt oder der besonderen Situation untergeordnet werden, da gerade durch das Betonen der Kontinuität des Lebens das traurige Geschehen relativiert bzw. die Vorstellung der „Normalität" des Sterbens symbolisiert und vermittelt werden kann. Jede Unterstützung, die den Eltern den endgültigen Abschied von ihrem Kind und eine positive Erinnerung an die letzten Stunden und Tage ermöglicht, erscheint wichtig und gut.
Zusammenfassend: Die Feststellung ob eine intensivneonatologische Maßnahme sinnvoll oder sinnwidrig ist, kann manchmal schwierig sein. Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium der Sinnhaftigkeit enthält medizinische (Effizienz, Wirksamkeit und Relevanz), indiviual-persönliche (Zumutbarkeit) und sozioökonomische Aspekte, die vor jeder schwierigen Entscheidung genau abgewogen werden müssen. Eine Entscheidung über das Abbrechen therapeutischer Maßnahmen soll möglichst konsensuell zwischen dem beteiligten Betreuungsteam und den Eltern getroffen werden, wenn die dafür notwendigen Bedingungen erfüllt sind. Im Zweifelsfall müssen alle notwendigen lebenserhaltenden und lebensqualitätssichernden Maßnahmen so lange aufrechterhalten werden, bis eine eindeutige Entscheidung gefällt werden kann. Externe Ratgeber sollten nur in beratender Funktion und möglichst in einem formalen Verfahren in die Entscheidungen eingebunden werden. Eine einmal getroffene konsensuelle Entscheidung sollte ebenfalls nur konsensuell und nur bei Vorliegen neuer Fakten bzw. Behandlungsmöglichkeiten erfolgen, um Schädigungen des Patienten durch Therapieversäumnisse zu vermeiden. Die Durchführung palliativer Therapie sollte ebenfalls standardorientiert mit Berücksichtigung der Schmerzempfindlichkeit der kleinen Patienten und der psychischen Belastung der Eltern erfolgen.
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Prof. Dr. Christian Popow, Univ.-Klinik f. Kinder- und Jugendheilkunde
Währinger Gürtel 18-20, A-1090 Wien
Prof. Dr. Enrique H. Prat, IMABE-Institut
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien