Bioethik Aktuell

Pränataldiagnostik: UNO mahnt Belgien wegen hoher Rate von Abtreibungen bei Trisomie-Kindern

Negatives Bild von Menschen mit Behinderungen trägt zu höheren Zahlen von selektiven Abtreibungen bei

Lesezeit: 03:38 Minuten

Die Zahl der mit Trisomie geborenen Kinder geht stark zurück. Diese Entwicklung hängt auch mit der Einführung nicht-invasiver Pränataldiagnostik wie etwa Bluttests zusammen. In Belgien wird kaum mehr ein Kind mit Down Syndrom geboren. Die Vereinten Nationen prangern dort eine diskriminierende gesellschaftliche Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen an.

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Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) veröffentlichte einen Bericht über die menschenrechtliche Lage von Behinderten in Belgien gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention (CRPD/C/BEL/CO/2-3, 30. September 2024). Neben diversen Kritikpunkten stellt der Ausschuss in Punkt 16 „mit Besorgnis [...] fest, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung, wonach Menschen mit Down-Syndrom und anderen Behinderungen weniger wert sind als andere Menschen, zu der hohen Zahl selektiver Schwangerschaftsabbrüche nach pränataler Diagnose von Down-Syndrom oder anderen Behinderungen beiträgt.“

95 Prozent aller Kinder mit Trisomie werden in Belgien abgetrieben

Die hohe Rate von Schwangerschaftsabbrüchen bei Kindern mit Down-Syndrom steht laut dem European Institute of Bioethics (EIB) in engem Zusammenhang mit der weit verbreiteten Anwendung des NIP-Tests (nicht-invasiver Pränataltest). Dieser Bluttest ermöglicht die Diagnose von Down-Syndrom vor der Geburt und wird schwangeren Frauen in Belgien als Screening-Methode routinemäßig und kostenlos angeboten. Mehr als 95% der Kinder, bei denen durch NIPT-Verdacht auf eine Trisomie besteht, werden in Belgien abgetrieben. (European Institute of Bioethics, 25.09.2024). 

In vielen anderen westlichen Ländern zeichnet sich seit der Einführung des NIPT ein ähnlicher rasanter Rückgang von Geburten von Kindern mit Down-Syndrom ab. In Spanien, Dänemark und Frankreich zeigen die Statistiken, dass von den Eltern, die durch NIPT von der Trisomie ihres Babys erfahren haben, sich mehr als 90% für Abtreibung entschieden haben. (Die Welt, 10.04.2019)

UN-Ausschuss fordert objektive und umfassende Aufklärung

Angesichts der hohen Abtreibungsraten von Kindern mit Behinderung fordert der UN-Ausschuss Belgien auf, werdenden Eltern, die sich für eine pränatale Untersuchung entscheiden, umfassende Informationen und eine adäquate Beratung zum Thema Leben mit Trisomie zur Verfügung zu stellen. Diese Informationen sollten objektiv sein und keine stereotypen Urteile über Menschen mit Behinderungen enthalten, die ablehnenden Haltungen gegenüber Kindern mit besonderen Bedürfnissen Vorschub leisten. Neben einer diskriminierungsfreien Aufklärung über Trisomie müssen Familien über Unterstützungsmöglichkeiten informiert werden, heißt es in dem Report.

Vulnerable Gruppen müssen geschützt werden

Auch das magere Angebot von Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung in Belgien wird im UN-Bericht kritisiert. Das verweist darauf, wie wichtig es ist, um die Situation der betroffenen Kinder und Eltern zu verbessern, sie in der Gesellschaft aufzunehmen und zu unterstützen. Aufgrund der leichten Zugänglichkeit der NIP-Tests wächst laut dem EIB der Druck, dass Eltern die Geburt von Kindern mit Behinderung rechtzeitig durch eine Abtreibung “verhindern”. Sollten sich Eltern trotz Diagnosemöglichkeit für das Kind entscheiden, sei das ihre persönliche Angelegenheit, nicht die der Solidargemeinschaft. 

Eine solche Einschätzung diskriminiert Menschen mit Behinderung. Sie impliziert, dass Kinder mit Down-Syndrom eine unzumutbare Belastung für die Gesellschaft darstellen, die im Idealfall - bei frühzeitiger Kenntnis der Chromosomenanomalie - durch Abtreibung vollständig vermieden werden kann.

Verantwortung der Gesellschaft statt Schuldzuweisung an Eltern

Die Beobachtungen und Empfehlungen des UN-Ausschusses helfen dabei, individuelle Schuldzuweisungen gegenüber Eltern abzuweisen und dazu aufzurufen, als Gesellschaft solidarische Verantwortung für Menschen mit Down-Syndrom und anderen Behinderungen zu übernehmen. Jedes menschliche Leben ist wertvoll und besonders vulnerable Gruppen müssen geschützt werden. Auch politische Akteure, Sozialarbeiter und medizinisches Personal müssen ermutigt werden, die positive Aufnahme und Integration von Menschen mit Down-Syndrom von Beginn ihres Lebens an zu fördern und zu schützen, betont das EIB (European Institute of Bioethics, 25.09.2024).

Der NIPT führt häufig zu falschen Ergebnissen

Unter Fachleuten wird der NIP-Test aufgrund seiner Qualitätsmängel und Aussagekraft kritisch gesehen. So hat das Alter der Schwangeren einen entscheidenden Einfluss darauf, ob ein positives NIPT-Ergebnis mit hoher oder niedriger Wahrscheinlichkeit korrekt ist. Die Gefahr von falsch positiven Ergebnissen (der Test gibt fälschlicherweise eine Trisomie an) ist groß, wenn der Test flächendeckend eingesetzt wird. (Bioethik aktuell, 05.09.2022).

Information, Aufklärung und Austausch sind für Eltern unerlässlich

Nach NIPT fehlt oft eine angemessene Beratung der Eltern bei auffälligen Ergebnissen, wodurch Unsicherheit entsteht. Laut Inanna Reinsberger (AIHTA) mangelt es in der Praxis an Zeit und adäquater Beratung zu Trisomien 21, 18 und 13. Eltern fühlen sich unter Druck gesetzt, schnell Entscheidungen zu treffen, während negative Vorurteile und Ängste vor einem behinderten Kind die Situation belasten.  Eltern berichten sogar davon, dass sie sich zur Abtreibung gedrängt gefühlt haben. (Bioethik aktuell, 05.12.2022) Gute Beratung, neutrale Aufklärung, Zusicherung von Unterstützung und Austausch mit Eltern von Kindern mit Down-Syndrom sind in solchen Situationen essenziell (Bioethik aktuell, 01.08.2023).

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