Seit 11. November liegt ein Gesetzesentwurf vor, der die Mitwirkung an Selbsttötungen von „unheilbaren Kranken“ in Großbritannien legalisieren soll (Terminally Ill Adults (End of Life) Bill 59-01). Denkbar knapp, denn in bereits knapp zwei Wochen, am 29. November, sollen die Abgeordneten über den von der Labour-Abgeordneten Kim Landbeater erstellten Entwurf im britischen Parlament abstimmen. Die Verabschiedung des Gesetzes ist jedoch ungewiss, da Abgeordnete aus dem gesamten politischen Spektrum ihre Besorgnis über eine Gesetzesänderung geäußert haben. Der Fraktionszwang bei der Abstimmung wurde aufgehoben (LBC online, 12.11.2024). Ärztevereinigungen, Behindertenverbände und der britische Gesundheitsausschuss hatten im Vorfeld für eine Beibehaltung des Verbots des assistierten Suizids in Großbritannien plädiert (Bioethik aktuell, 19.3.2024).
Gesetz sieht „Beistandspflicht“ bei Ausführung des Suizids vor
Die Eckpunkte des Entwurfs sehen vor, dass Menschen mit einer Lebenserwartung von weniger als 6 Monaten sich bereits 21 Tage nach Anfrage mittels tödlichen Präparats das Leben nehmen können. Als Voraussetzungen werden die Aufklärung und Bestätigung des freien Entschlusses durch einen „koordinierenden Arzt“ und 7 Tage später durch einen „unabhängigen Arzt“ genannt. Wird der Tötungswunsch von Richtern als gesetzeskonform beurteilt und vom Patienten nach einer 14 Tage-Frist erneut bestätigt, muss laut Gesetzesentwurf „der Person, wenn sie wünscht, gemäß diesem Gesetz Beistand zur Beendigung ihres eigenen Lebens gewährt werden“. Die Frist soll in der terminalen Phase nach Einschätzung des Arztes auf 48 Stunden verkürzt werden können.
Auch bevollmächtigte Dritten soll es dem Gesetzesentwurf entsprechend möglich sein, stellvertretend für einen Betroffenen assistierten Suizid zu beantragen, wenn dies seinem Willen entsprach. Wer an einer psychischen Störung oder einer Behinderung leidet, falle noch nicht per se unter die Kategorie „unheilbar krank“, so der Gesetzesentwurf.
Menschen mit Behinderung sind alarmiert: „Besser tot?“
Behindertenverbände zeigen sich jedoch dadurch keineswegs beruhigt. Im Gegenteil: In einer BBC-Dokumentation Better Off Dead? (BBC Mai 2024) (YouTube) sprechen sich Menschen mit Behinderung mit Nachdruck gegen den Gesetzesvorschlag aus. So warnt die Aktivistin für Rechte für Behinderte, Jane Campbell, vor den Folgen eines solchen Gesetzes: „Überall dort, wo assistierter Suizid legalisiert wurde, werden die Kriterien für die Zulassung mit der Zeit ausgeweitet.“ Innerhalb kurzer Zeit würde dann auch für chronisch kranke, schwer behinderte und psychisch kranke Menschen ein „Recht auf Assistenz zur Selbsttötung“ gefordert. Dies bringe nach Campbell das Leben von vulnerablen behinderten Menschen in Gefahr.
Die international bekannte britische Schauspielerin und Produzentin der BBC-Dokumentation, Liz Carr, macht auf die Doppelmoral eines solchen Systems aufmerksam: „Viele von uns Menschen mit Behinderung empfinden, dass assistierter Suizid ein Zwei-Klassen-System schafft: Suizidprävention für die einen, Suizidbilligung für die anderen. Statt einer „Assistenz zum Sterben“ fordern die Behindertenverbände daher eine „Assistenz zum Leben“.
Vulnerable Gruppen sind häufiger betroffen
Auch Armut spielt eine Rolle in der Entscheidung für Selbsttötung. Ein im Oktober 2024 veröffentlichter Bericht der Associated Press (AP News, 16.10.2024) beleuchtet Fälle von bedürftigen Menschen in Kanada, die sich aufgrund von unzureichenden finanziellen Mitteln sorgen, keine angemessene medizinische Versorgung zu erhalten. So stammen 29 Prozent der Menschen in Ontario, die sich mittels "Sterbehilfe" das Leben nahmen, ohne todkrank zu sein, aus sozial benachteiligten Regionen. Die Angst aufgrund mangelnder Unterstützung stellt offenbar einen Faktor dar, sich ohne eine lebensbedrohliche Erkrankung für einen assistierten Suizid zu entscheiden, weil die Hilfe zum Leben fehlt. Besonders gefährdet sind zudem hochaltrige Menschen (Bioethik aktuell, 24.04.2024) und darunter insbesondere Frauen (Bioethik aktuell, 08.03.2022).
Prognosen zur Lebenserwartung sind unzuverlässig
Der Gesetzentwurf geht davon aus, dass die Genehmigung der Beihilfe zum Suizid, auf der verlässlichen Prognose zweier Ärzte beruht, wonach eine Person weniger als sechs Monate zu leben hat. Aus ärztlicher Sicht ist so eine Bedingung unhaltbar: „Ich habe mehr als 20 Jahre als NHS-Berater gearbeitet und es kam oft vor, dass meine Kollegen und ich bei der Vorhersage, wie viele Monate oder Jahre ein Patient noch zu leben hatte, hoffnungslos ungenau waren. In Wirklichkeit ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Patient, bei dem eine „unheilbare Krankheit“ diagnostiziert wurde, noch Jahre weiterlebt oder innerhalb weniger Tage stirbt", stellt John Wyatt, emiriterter Professor für Neonatale Pädiatrie, Ethik und Perinatologie am University College Londonso klar (The Critic, 17.10.2024). Die 6-Monats-Grenze könne zudem niemand überprüfen, da die Betroffenen inzwischen tot sind.
Keine Wahlmöglichkeit angesichts fehlender Ausbildung in Palliativ Care
Wyatt kritisiert, dass aufgrund fehlender Palliative Care schwerkranke Patienten im Vereinigten Königreich unterversorgt seien. Das medizinische und fachliche Wissen, um Menschen ein friedliches und würdiges Sterben zu ermöglichen, sei vorhanden. Doch „der Bereich Palliative Care ist deutlich unterfinanziert, da nur ein Drittel der Hospizmittel von der Regierung bereitgestellt wird. Daher gibt es viele Menschen, die ihr Leben unter unkontrollierbaren Schmerzen und ohne angemessene Versorgunge beenden. Die Palliativmedizin macht nur einen winzigen Bruchteil der Gesamtausgaben des NHS aus. Es geht um unsere Prioritäten bei der Zuweisung von Ressourcen im Gesundheitswesen“, so Wyatt in seiner 36-seitigen Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf (The Terminally Ill Adults (End of Life) Bill 2024. A Medical an Ethical Perspective on Assisted Suicide 2024).
Die 6-Monat-Frist ist reine Willkür
Es gäbe zudem keine rationale Begründung für eine Frist von weniger als 6 Monaten Lebenserwartung. Diese hat rein taktische Gründe: Durch die Einführung dieser willkürlichen Grenze möchten Aktivisten nach und nach jegliche Frist und Einschränkung aufheben, wie dies in Ländern wie Kanada, Niederlande oder Belgien zu beobachten ist. Das Argument der „Leidensverringerung“ wird nach und nach auch auf Kinder, psychische Kranke jegliche chronische Krankheitsbilder angewendet.
56 Prozent der Briten fürchten Normalisierung des Suizids
In der britischen Bevölkerung scheint die „Sterbehilfe“ weit weniger Rückhalt zu haben als die mediale Berichterstattung glauben lässt: Eine Umfrage des Whitespone Insight Institutes (Living and Dying Well) bei knapp 2.000 Briten im Juni 2024 ergab, dass für 70 Prozent die Gesetze zu assistiertem Suizid in Ländern wie der Schweiz und Kanada zu weit gehen. 56 Prozent äußerten die Befürchtung, dass die Legalisierung der Sterbehilfe zu einer Kultur führen würde, in der Selbsttötungen noch normaler wird als heute. Ebenso befürchten 43 Prozent, dass die Einführung der „Sterbehilfe“ angesichts des knappen Budgets im staatlichen Gesundheitswesen und der Sozialfürsorge zwangsläufig sozialen Druck ausüben würde, Menschen zu einem vorzeitigen Ende ihres Lebens zu ermutigen.
Verbesserungen im Gesundheitssystem sind dringend notwendig
Gordon Macdonald, Vorsitzender von Care Not Killing, appelliert in einem Statement an die Abgeordneten den Gesetzesentwurf zu überdenken: „Ich möchte die Regierung dringend auffordern, sich auf die Reparatur unseres kaputten Palliativversorgungssystems zu konzentrieren, anstatt diese gefährliche und ideologische Politik erneut zu diskutieren.“ (Care not Killing, 05.10.2024). Bis zu einem Viertel der Briten, die Palliative Care benötigen würden, hätten keinen Zugang dazu, so Macdonald.