Schwerstkranke Patienten und ihre Angehörigen erleben auf Intensivstationen und in Notaufnahmen existenzielle Bedrohungen, die Leiden auf körperlicher, psychischer, sozialer und spiritueller Ebene hervorrufen. Auf spirituelle Nöte einzugehen, kann dabei helfen, mit Krisen besser umzugehen. Doch das Personal schätzt seine eigenen Kompetenzen dafür nur mäßig ein, wie eine in der Fachzeitschrift Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin (Oct 2024 https://doi.org/10.1007/s00063-024-01185-1) veröffentlichte Studie zeigt. Für eine wertschätzende Behandlung unter Einbeziehung von Spiritual Care müssten entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden, resümiert das interdisziplinäre Forscherteam um die Palliativmedizinerin Jacqueline Schwarzt des Universitätsklinikums Düsseldorf.
Ärzte und Pflegefachkräfte fühlen sich spirituellen Nöten nicht gewachsen
Die Wissenschaftler untersuchten die spirituellen Kompetenzen von Notfall- und Intensivpersonal mithilfe des Spiritual Care Competence Questionnaire (SCCQ). Insgesamt nahmen 465 Ärzte (50 Prozent Frauen, durchschnittlich 4 Berufsjahre) und 86 Pflegefachkräfte (80 Prozent Frauen, durchschnittlich 12,7 Berufsjahre) an der Studie teil. Das Ergebnis: Das Notfall- und Intensivpersonal schätzt die eigenen spirituellen Kompetenzen als eher niedrig ein. Die persönliche Spiritualität und Gläubigkeit bzw. Distanz dazu beeinflussten dabei ihre Spiritual-Care-Kompetenzen. Zeitmangel, Konzentration auf medizinische Befunde und „Unwohlsein“ wurde seitens des Gesundheitspersonals als Barrieren genannt.
Das Eingehen auf spirituelle Nöte kann sowohl den betroffenen Patienten als auch Angehörigen Erleichterung verschaffen: Studien zeigen, dass Spiritualität das Coping erleichtert, die Lebensqualität verbessert und psychische Belastungen mindert und negative psychologische Folgen vorbeugen kann. Spiritual Care sei deshalb „nicht bloß Sache der Krankenhausseelsorge, sondern auch eine Aufgabe des Gesundheitspersonals“, schreiben die Wissenschaftler. Angesichts der sinkenden konfessionellen Bindung in der Bevölkerung brauche es „verstärkte Schulungen im Bereich Spiritual Care“.
Ein Curriculum für spirituelle Pflege stärkt Mitarbeiter in ihrer Kompetenz
Die Diakonie und Caritas entwickelten 2020 ein interprofessionelles Fortbildungscurriculum namens „Spiritual/Existential Care interprofessionell“ (SpECi), das Pflegekräfte auf die spirituellen Bedürfnisse ihrer Patienten vorbereitet. Die vielversprechenden Auswirkungen dieses Kurses zeigte eine Begleitstudie der Universität Witten Herdecke unter der Leitung von Arndt Büssing, Inhaber des Lehrstuhls von Lebensqualität, Spiritualität und Coping. 85 Prozent der Teilnehmenden gaben an, nach der Schulung häufiger auf die spirituellen Anliegen ihrer Patienten einzugehen. Sie wünschten sich jedoch mehr Zeit für Gespräche über spirituelle Themen. Außerdem hätte der Kurs Mitarbeiter sicherer gemacht, auf die spirituellen Bedürfnisse der Schwerkranken einzugehen und zu einer höherer Zufriedenheit am Arbeitsplatz geführt (Bioethik aktuell, 2.10.2023).
Die Studienergebnisse bedeuten nach Büssing, dass die Berücksichtigung spiritueller Bedürfnisse im Gesundheitssystem nicht nur optional, „sondern unabdingbar“ sei. Es gehe um Wertschätzung für die Patienten. „Wer diese nicht berücksichtigt, verletzt die Würde der Begleiteten – und bleibt oft hinter den eigenen Ansprüchen an die Versorgungsqualität zurück.“ (Medscape, 19.6.2024)
Patienten sehnen sich nach tiefen Gesprächen
In den USA forscht Robert Klitzman, Professor für Psychiatrie an der Columbia University, an der Rolle von Seelsorgern im Gesundheitssystem. Die Ergebnisse seiner Studie erschien kürzlich unter dem Titel Doctor, Will You Pray for Me?: Medicine, Chaplains, and Healing the Whole Person (Oxford University Press, 2024) Auch er ermutigt Krankenhäuser und Pflegeheime, mehr in spirituelle Betreuung zu investieren.
Die meisten Menschen fürchten den Tod und haben in herausfordernden Momenten ein hohes Bedürfnis über ein mögliches Leben nach dem Tod, andere spirituelle Themen oder ihr eigenes Leben zu sprechen. „Angesichts neuer Technologien, schwindender Religionen, sich wandelnder Glaubensrichtungen, zerfallender Gesundheitssysteme, einer alternden Bevölkerung und des Burnouts des Gesundheitspersonals nach Covid sind Seelsorger wichtiger denn je. Aber sie werden oft nicht wertgeschätzt“, bedauert Klitzmann (StatNews, online, 14.11.2024).
Seelsorger – eine unterschätzte Ressource
Häufig seien Seelsorger die einzigen Mitarbeiter, die Zeit hätten, ausführliche Gespräche mit Patienten und Angehörigen zu führen. Dadurch gewinnen sie das Vertrauen der Patienten und erlangen tiefere Einsicht in deren körperliche, emotionale und spirituelle Bedürfnisse. Somit können sie als wertvolle Vermittler zwischen Ärzten und Patienten und Angehörigen wirken, betont Klitzman. Außerdem würden Seelsorger auch eine Stütze für das medizinische Personal sein, das mit körperlichen und moralischen Belastungen zu kämpfen hat, betont Klitzmann.
Höhere Lebensqualität durch Zuwendung von Seelsorgern
Die Forschung belegt die positive Wirkung von Seelsorgern auf Patienten. Eine Studie des Journals of Religion and Health aus 2017 zeigt, dass Menschen, die ursprünglich keinen Besuch eines Seelsorgers gefordert hatten, die Gespräche später als sehr wertvoll bezeichneten. In einer 2009 veröffentlichten Studie des Journals of Clinical Oncology zeigte sich, dass unheilbar krebskranke Patienten, die Unterstützung eines Seelsorgers erhielten, eine um 28 Prozent höhere Lebensqualität erlebten als diejenigen, die sie nicht erhielten. Eine weitere Studie des Journals of Health Care Chaplain des Jahres 2015 mit fast 9.000 Patienten im Mount Sinai Hospital ergab, dass Patienten, die Gespräche mit Seelsorgern hatten, ihren Aufenthalt im Krankenhaus besser bewerteten und es eher weiterempfahlen.