Religiosität in der modernen Psychiatrie
Zusammenfassung
Im Vergleich zu seiner gesellschaftlichen Bedeutung wird der Faktor Religiosität in der medizinischen Forschung vernachlässigt. Anhand der vorhandenen qualitativ hochwertigen Studien soll in diesem Artikel der Zusammenhang zwischen Religiosität und psychischer Krankheit untersucht werden. Während für eine Reihe von psychiatrischer Erkrankungen (wie Demenz, Schizophrenie, Manie, Essstörungen, Sexualstörungen und Persönlichkeitsstörungen) praktisch keine methodisch ausgereiften Studien vorliegen, ist für andere die Evidenz schon ausreichend, um eine Aussage zu treffen (Suchterkrankungen, Depression und Suizid), und für eine dritte Gruppe ist zwar einiges Material vorhanden, aber die Datenlage reicht noch nicht zu einem Urteil (Angststörungen, Zwangsstörungen). In der Tat scheint die Religiosität sowohl für Suchterkrankungen als auch für die Depression und den Suizid ein protektiver Faktor zu sein. Das behutsame, wertschätzende Einbeziehen der Religiosität des Patienten in die Psychotherapie erscheint ratsam.
Schlüsselwörter: Religiosität, Spiritualität, Psychiatrie, Depression, Suizidalität
Abstract
In comparison to its social impact, religiosity is widely underrepresented in scientific papers. We try to analyze the possible connection between religiosity and mental health. As result we present three groups of evidence: 1) psychiatric disorders widely lacking scientific evidence in this area (like dementia, schizophrenia, mania, eating disorders, and personality disorders); 2) psychiatric disorders, where reliable evidence can be concluded from the published material (i.e. substance addiction, depression, and suicide); and 3) psychiatric disorders with conflicting evidence (e.g. anxiety disorders and obsessive-compulsive disorder). Actually, religiosity is a protective factor for substance addiction, depression, and suicide. Carefully including this dimension into the psychotherapeutic setting seems to be advisable.
Keywords: religiosity, spirituality, psychiatry, depression, suicidality
Einleitung
Im Vergleich zu seiner gesellschaftlichen Bedeutung wird der Faktor Religiosität in der medizinischen (und besonders in der psychiatrischen) Forschung noch immer vernachlässigt1-3. Lange Zeit tabuisiert, ist das Thema jetzt vor allem in den USA wieder von wissenschaftlichem Interesse. Zahlreiche US-amerikanische Autoren3-6 propagieren die Integration der spirituellen Dimension in den medizinischen Heilungsprozess und sind sogar der Überzeugung, dass praktizierte Religiosität bewiesenermaßen gesundheitsfördernd sei. In Europa hingegen wird oftmals allein die Fragestellung schon als unwissenschaftlich abgelehnt. Den Proponenten der Integration der spirituellen Dimension in den Medizinalltag wird manchmal der Vorwurf gemacht, die vorgelegten Studien seien methodisch schwach und die Datenlage insgesamt widersprüchlich2. Kritische Stimmen meinen außerdem, die zunehmende Aufmerksamkeit der Ärzte für die Spiritualität ihrer Patienten könne zu Missbräuchen führen, da gerade kranke Menschen besonders anfällig für Manipulation seien7.
Tatsächlich ist bei genauerer Betrachtung das Thema bei weitem nicht unproblematisch. Man bekommt mancherorts den Eindruck, „religiöse Wissenschaftler“ stünden unter einem selbst-auferlegten Druck und apostolischen Eifer, in ihren Studien „glaubensfreundliche“ Ergebnisse zu erzielen, insbesondere beim Thema Gesundheitsförderung durch religiöses Leben. Kritiker sprechen hier von der Gefahr, dass die Religiosität instrumentalisiert und als Quasi-Medikament zur Lebensverlängerung eingesetzt wird, wie etwa ein Antibiotikum8. Religion hat ihr letztes Ziel aber außerhalb dieser Welt, darum muss sich nicht notwendigerweise ihr Benefit schon in dieser zeigen (es wäre andererseits auch nicht der Untergang der Wissenschaft, wenn dieser sich mit deren Methoden belegen lassen würde). Die Stimmung in der wissenschaftlichen Welt kann gut durch die durchaus emotional geführte Diskussion im New England Journal of Medicine veranschaulicht werden, in der kritische Stimmen7-9 den befürwortenden in etwa die Waage halten10-16.
Das Thema der Religiosität in Zusammenhang mit der Psychiatrie erzeugt eine starke Ambivalenz (vergleichbar mit Themen wie „Euthanasie“ oder „Intelligentes Design“), die sich letztlich in einer starken Spaltung auch unter den Wissenschaftlern äußert. Diese Ambivalenz könnte man mit der Angst nach einem neuen Konflikt Religion – Wissenschaft deuten, die mancherorts vielleicht Erinnerungen an den Fall Galileo Galilei wecken. In der Tat findet sich für fast jede Meinung in diesem Feld irgendein „wissenschaftlicher“ Beleg. Die Datenlage ist schier unüberschaubar: inzwischen finden sich etwa 33.800 wissenschaftliche Artikel zu diesem Themenkreis in der allgemeinen medizinwissenschaftlichen Datenbank Medline (Suchbegriffe „religio“, „spiritual“ und „pray“); bei Einschränkung der Suche dieser Begriffe im Titel der jeweiligen Papers sind noch immer 5.700 Arbeiten gelistet.
Da die vorliegende Arbeit keine religionspsychologische, religionssoziologische oder religionswissenschaftliche, sondern eine psychiatrische Abhandlung ist, kommen aus diesem Grund in erster Linie wissenschaftliche Publikationen aus dem psychiatrischen Bereich zur Sprache. In der Psychiatrie als medizinischer Wissenschaft kann man erfreulicherweise dank des peer review-Systems die medizinwissenschaftlichen Journale nach deren internationaler Relevanz (Impact) einteilen; dieses System erlaubt eine relativ genaue Einschätzung der Qualität einer Publikation (aufgrund der entsprechenden Strenge des peer review-Systems). In der Tat haben es recht wenige der psychiatrischen Studien mit dem Thema Religiosität geschafft, in entsprechend gewichtigen Zeitschriften publiziert zu werden. Das mag natürlich zum Teil am Desinteresse des wissenschaftlichen Feldes liegen (das Thema liegt mit Sicherheit nicht im Zentrum der heutigen Mainstream-Psychiatrie), zum Teil aber auch an einer mangelhaften Methodik mit schwärmerisch-überzogenen Schlussfolgerungen. In diesem Übersichtsartikel sollen in der Folge die besagten Studien aus internationalen Top-Journalen (Top 10%; Impact factor > 4) vorgestellt werden, um den Bias einer intentionsgeleiteten Wissenschaft zu vermeiden. Auch ist besonderes Augenmerk darauf gelegt worden, hochrangige Studien beiderlei Resultats einzubeziehen, sofern solche entsprechend publiziert wurden.
Religion, Religiosität und Spiritualität
In der Psychiatrie herrscht heute kein Konsens über die Definition dieser drei Begriffe, wenngleich sie vielfach Verwendung finden. Zwischen den genannten Termini finden wir einerseits verschwimmende Grenzen, andererseits bezeichnen sie bei verschiedenen Autoren schlichtweg unterschiedliche Realitäten. So wird gerade der Terminus „Spiritualität“ in verschiedenen Disziplinen vielfach andersartig definiert. Theologisch ist Spiritualität der gemeinsame Geist eines Ordens oder einer Bewegung, in psychologisch-wissenschaftlichen Publikationen eher etwas die Subjektivität des religiösen Lebens Betonendes, während Religiosität mehr die Nähe zu einer organisierten Religion andeutet. Im Anschluss folgen Definitionsansätze aus der Psychiatrie, die sich nicht notwendigerweise mit denen anderer Disziplinen (etwa der Religionswissenschaft) decken müssen.
Religion ist nach Sigmund17 „ein Glaubenssystem der Beziehung des Menschen zum Übernatürlichen, das Gottesdienste, heilige Schriften und eine organisatorische Struktur für Glaubenspraxis und Zusammenhalt der Mitglieder beinhaltet“. Der US-Psychiater David B. Larson, Vorreiter einer wissenschaftlichen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Religiosität und Gesundheit, definiert Religion als „organisiertes System von Glauben, Praxis und Symbolen, das helfen soll, einer höheren Macht näherzukommen; Religion fördert die Beziehung zum und die Verantwortung für den Nächsten in einer Gemeinschaft“18. Eine weitere, mehr religionspsychologische und soziologische Definition bezeichnet Religion als ein „überindividuelles System transzendierender Werte von unterschiedlichem Organisations- und Institutionalisierungsgrad“19. Den großen christlichen Konfessionen würde hier ein hoher Organisations- und Institutionalisierungsgrad zuzusprechen sein. Die bloße Zugehörigkeit zu einer Religion wurde in manchen psychiatrischen Studien erhoben, doch ist die psychiatrische Verschiedenheit spezifischer Religionszugehörigkeiten nicht Thema dieser Abhandlung. Denn nicht jedes Mitglied einer Religionsgemeinschaft verfügt aufgrund seiner Mitgliedschaft auch schon über messbares religiöses Verhalten; dies ist offensichtlich das soziologische Schicksal der großen Religionsgemeinschaften in allen Kulturen (Stichwort „Taufscheinchristen“).
Religiosität wird manchmal als „Sammelbegriff für religiöses Bewusstsein, Erleben und Verhalten“ definiert, wobei der Begriff „auf eine gewisse persönliche Einstellung zur Religion“ abzielt19. Die Religiosität hat enge Verbindung zur Religion; eine entsprechende Praxis, die ohne sie nicht in dieser Form gegeben wäre (d. h. konkretes Gebet, moralische Standards), ist Voraussetzung. Ein folgenloser Glaube an ein „höheres Wesen“ wäre nach dieser Definition nicht religiös. Die weitere Unterscheidung mancher englischsprachiger Autoren zwischen „religiosity“ und „religiousness“ (etwa Religiosität und Religiös-sein, oder auch öffentliche und innerliche Glaubenspraxis) würde auf soziales (z. B. Messbesuch) bzw. innerliches (persönliches Gebet) Ausüben der Religion abzielen. Hier erscheint uns wichtig anzumerken, dass sich zwar Religiosität (und nicht nur die öffentliche Form) prinzipiell außerhalb einer Religionsgemeinschaft entfalten kann, in der Praxis diese sich jedoch großteils innerhalb dieser organisierten Grenzen findet (nahe liegend, da die Religion die Religiosität schützt, fördert und organisiert). Meist erfolgt der Austritt aus der Religionsgemeinschaft nach Verlust der Religiosität, und nicht aufgrund finanzieller Engpässe oder religiöser Streitfragen.
Die Quantifizierung und Unterteilung der Religiosität ist ein breites Feld der Forschung geworden. Kendler und Mitarbeiter20 verwendeten 1997 für ihre Studie zehn Fragen: Zahl der Gottesdienstbesuche; Wichtigkeit des Glaubens; religiöse Motivation; Frequenz der Gespräche mit dem Seelsorger; Frequenz des privaten Gebetes; Zufriedenheit mit dem religiösen Leben; Glaube an Gott; Glaube, dass Gott belohnt und bestraft; Glaube, dass man wiedergeboren ist und wörtlicher Glaube an die Bibel. Deutlich merkt man an diesen Fragen den freikirchlichen Hintergrund der USA. Sechs Jahre später erfolgte von derselben Arbeitsgruppe eine bahnbrechende Spezifikation mit 78 Fragen, die in sieben Faktoren eingeteilt sind: allgemeine Religiosität, soziale Religiosität, Gottesbeziehung, Vergeben/Liebe, Gottesgericht, Rachelosigkeit und Dankbarkeit. Jede einzelne Frage hat im Original zwischen 4 und 6 Antwortmöglichkeiten. Dieser Fragenbogen ist bemerkenswert ausführlich und vollständig, auch in Anbetracht der Tatsache, dass es in der Zwischenzeit wohl mehr als 140 Fragebögen zur Evaluation der Religiosität gibt21. Aus diesem Grunde ist er im Originaltext in Liste I reproduziert.
Factor 1: General religiosity
Factor 2: Social religiosity
Factor 3: Involved God
Factor 4: Forgiveness/love
Factor 5: God as judge
Factor 6: Unvengefulness
Factor 7: Thankfulness
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Spiritualität wird im Lexikon der Psychologie definiert als „vom Glauben getragene geistige Orientierung und Lebensform, die im Gegensatz zur vorherrschenden materialistisch-mechanistischen Weltanschauung steht“22. Nach dieser Definition wäre die Spiritualität der Religiosität gleichzustellen, was einige Autoren auch tatsächlich tun23. Andere meinen, Spiritualität sei „charakterisiert durch den Versuch, des Lebens letzte Fragen und dessen Sinn zu verstehen“18. Es hat sich allerdings in den letzten Jahren vorwiegend in der europäischen psychiatrischen/psychotherapeutischen Literatur eine Tendenz gebildet, „nicht-religiöse Spiritualitäten“ anzuerkennen und zu erfassen. In diesem Sinn meinen Möller & Reimann19, Spiritualität hätte „transzendierende Selbstreflexion zum Gegenstand und schließt insoweit religiöses Denken ein, beschränkt sich aber keineswegs auf dieses“. Hier kann, aber muss keine persönliche Verbindung mit Religion vorhanden sein. Man könnte Spiritualität auch als „persönliche, sinnstiftende Grundeinstellung“ sehen, der es um die „Ausrichtung auf allgemeine, sinnlich nicht erfassbare, sondern für die Einstellung zur materiellen Wirklichkeit maßgebliche Konzeptbildung“ geht19. Die „Erfahrung der Transzendenz“ steht hier im Mittelpunkt, ohne das Konzept eines personalen Gottes und die Beziehung des Menschen zu ihm (Gebet) notwendigerweise zu beinhalten, ohne praktische Folgen dieser „Erfahrung“ im täglichen Leben (Glaubenspraxis). Weniger blumig könnte man dieses Konzept der Spiritualität als den Versuch der säkularisierten Welt ansehen, einen Rest von Innerlichkeit und Transzendenz zu bewahren, zu behaupten oder zu rekonstruieren. Dieser Begriff beinhaltet keine persönliche Konkretisierung im täglichen Leben und ist ein wissenschaftlich schwer fassbares Konstrukt (konnte z.B. in einer qualitativ hochrangigen Studie nicht von Religiosität abgegrenzt werden, da es an geeigneten Messinstrumenten mangelt20). Wenige Studien mit so verstandener Spiritualität liegen vor; von ihr ist in dieser Abhandlung nicht weiter die Rede.
So kann, um zusammenfassend ein Beispiel aus unserem Kulturkontext zu bemühen, jemand aus einer Kirche (Religion) austreten, und noch zum Gott der Bibel beten (Religiosität), oder aber nicht mehr an diesen Gott glauben, aber doch eine „höhere Macht, die uns alle leitet“ für wahr halten (Spiritualität). Meist findet man Religiosität jedoch innerhalb der Glaubensgemeinschaften, außerhalb verdünnt es sich sehr schnell zur nicht-religiösen „Spiritualität“. Der praktische Deismus (Gott ist der große Uhrmacher, der sich nicht für uns interessiert; d. h. man lebt als gäbe es ihn nicht) würde unter Spiritualität und nicht unter Religiosität fallen.
Religiosität in der Medizin
Nicht nur manche Kollegen, sondern auch viele Patienten wünschen sich ein Thematisieren der Religiosität von ihrem behandelnden Arzt. Die US-Amerikaner Maugans und Wadland24 berichten, dass 40% der Patienten in ihrer Studie den Wunsch geäußert hätten, mit ihrem Arzt über spirituelle Themen zu sprechen. Nach Ehman et al.25 würden zwei Drittel der Patienten es wünschen, im Falle einer schwereren Krankheit von ihrem Arzt auf ihren Glauben angesprochen zu werden. Ja, der Arzt kann am Bett Schwerkranker (und nicht nur dort) mit der Bitte um Gebet konfrontiert werden26, eventuell sogar mit der Bitte um gemeinsames Gebet27. Selbstredend, dass solche Berichte aus dem Land der unbeschränkten Möglichkeiten kommen. King und Bushwick28 berichten sogar, dass 48% der Patienten (die sie interviewt haben) angaben, dass sie ein gemeinsames Gebet mit ihrem Arzt wünschen würden.
Ein konkreter Vorschlag lautet nun, insbesondere bei schwerkranken Patienten eine „spirituelle Anamnese“ zu erheben29. Eine Task Force des American College of Physicians schlägt von offizieller Seite (American Society of Internal Medicine) vier einfache Fragen vor, um dies bei Schwerkranken zu thematisieren: „Ist der Glaube (Religion, Spiritualität) wichtig für Sie in dieser Krankheit? War der Glaube (Religion, Spiritualität) in manchen Zeiten Ihres Lebens wichtig für Sie? Haben Sie jemanden, mit dem Sie über religiöse Belange sprechen können? Würden sie hier gerne mit jemandem über den Glauben reden?”30. Die weitere Vorgangsweise würde, wie in der Medizin allgemein üblich, sehr von den Antworten des Patienten abhängen. Wenn der Patient religiöses Desinteresse kundgetan hätte, würde der Arzt dann sonstige Coping-Strategien mit dem Patienten erörtern. Wenn aber der Patient seine religiöse Welt als hilfreich in der Krankheitsverarbeitung erlebt, würde der Arzt diese entsprechend unterstützen. Auch könne mit diesen Informationen ein Seelsorger eingebunden werden10.
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist wegen ihren klinischen Besonderheiten (die Patienten sind bis zum letzten Atemzug bei vollem Bewusstsein, meist relativ jung und kognitiv nicht beeinträchtigt) im Bezug auf Lebensqualität und Religiosität von verschiedenen Forschungsgruppen besonders gut untersucht31-35. Diese Studien zusammenfassend konnte Religiosität bei ALS Patienten zwar nicht das Leben verlängern, aber die Lebensqualität signifikant heben.
Doppelblindes Gebet (christlich, moslemisch, jüdisch und buddhistisch) hatte keinen Einfluss auf die Nebenwirkungen eines perkutanen Koronarkatheters in einer prominenten, rezent im Lancet veröffentlichten Studie mit 748 Patienten36. Allerdings kann man sich aus religiöser Sicht fragen, welcherart ein Gebet ist, das nur (doppelblind!) gesprochen wird, um vor der Welt als wirksam dazustehen. Vorausgegangene Studien ohne doppelblindes Design bei vergleichbarem Patientengut ergaben jeweils positive Ergebnisse37-39.
Zwei, auch von kritischen Stimmen8 als ausgesprochen reliabel eingeschätzte Studien haben den Besuch der Sonntagsmesse (oder deren jeweiligen Äquivalentes) als lebensverlängernd bezeichnet40,41. Es erscheint heute in der Tat wissenschaftlicher Konsens zu sein, dass religiöses Engagement und längere Lebenszeit korrelieren42, da spätere Studien die Ergebnisse bestätigen konnten43,44. Über die Gründe desselben gibt es allerdings breiten Dissens. Manche Studien fanden einen kürzeren stationären Aufenthalt nach Koronarbypassoperation45, längere Wegstrecken nach Hüftoperationen46und weniger stationäre Aufenthaltstage auf Geriatrien47; obwohl auch negative Ergebnisse vorliegen48. In einer Studie von 811 geriatrische Patienten23 konnte Religiosität die Anzahl der stationären Tage auf einer Akutaufnahme zwar nicht reduzieren, allerdings doch die Aufenthaltstage in einer Langzeiteinrichtung.
Religiosität in der Psychiatrie: die Datenlage
Die großen Krankheitsbilder der Psychiatrie sind in der WHO Klassifikation49 vereinfacht ausgedrückt die Demenzen, Suchterkrankungen, Schizophrenie, Depression/Suizid, Manie, Neurosen (Phobien, Panik, generalisierte Angst, Zwang), Essstörungen, Sexualstörungen und die Persönlichkeitsstörungen. Für eine Reihe dieser Erkrankungen (wie Demenz, Schizophrenie, Manie, Essstörungen, Sexualstörungen und Persönlichkeitsstörungen) liegen praktisch keine methodisch ernstzunehmenden Studien in Bezug auf die Religiosität vor, für andere ist die Evidenz durch hochrangige Studien schon ausreichend, um eine Aussage zu treffen (Suchterkrankungen, Depression und Suizid), für eine dritte Gruppe ist einiges Material vorhanden, aber die Datenlage reicht nicht zu einem Urteil, weil sie einerseits widersprüchlich und andererseits qualitativ nicht ausreichend ist (Angststörungen, Zwangsstörungen).
Die wohl umfangreichste und methodisch sauberste Studie wurde 2003 vom renommierten Psychiater Kenneth S. Kendler und Mitarbeitern im American Journal of Psychiatry veröffentlicht50. Bei 2.616 Männern und Frauen wurde ein 78 Fragen beinhaltender Fragebogen appliziert (siehe Liste I). Signifikant waren Geschlecht (Frauen religiöser als Männer), Alter (Ältere religiöser) und Bildungsstand (höhere Bildung religiöser) mit der Religiosität assoziiert. Interessanterweise waren Frauen in sechs von sieben Faktoren religiöser, nur beim Faktor „Gottesgericht“ zeigten sich die Männer eifriger. Die sieben Faktoren der Religiosität wurden nach statistischer Korrektur für Geschlecht, Alter und Bildungsstand gegen das Lebensrisiko von neun verschiedenen psychiatrischen Krankheiten hochgerechnet. Fünf Diagnosen wurden als internalisierende (Depression, Phobien, Angststörung, Panikstörung, Bulimie) vier externalisierenden Krankheitsbildern (Nikotinsucht, Alkoholsucht, Tablettensucht, antisoziale Verhaltensstörung) gegenübergestellt. Von den sieben Faktoren der Religiosität zeigen sich zwei protektiv gegen beide Krankheitsgruppen (soziale Religiosität und Dankbarkeit), vier Faktoren zeigen sich protektiv nur gegen externalisierende psychische Krankheiten (allgemeine Religiosität, Gottesbeziehung, Vergeben/Liebe und Gottesgericht) und ein Faktor reduzierte das Risiko für die internalisierende Gruppe (Rachelosigkeit). Die Tabellen I und II zeigen die Risikoreduktion der einzelnen religiösen Faktoren auf die einzelnen psychiatrischen Krankheitsbilder.
internalisierende psychiatrische Krankheiten | |||||
Depression | Phobien | Angststörung | Panikstörung | Bulimie | |
Allgemeine Religiosität | # | ||||
Soziale Religiosität | **** | ** | ** | ||
Gottesbeziehung | |||||
Vergeben/Liebe | |||||
Gottesgericht | |||||
Rachelosigkeit | *** | * | *** | ** | |
Dankbarkeit | **** | **** | **** | *** |
Reduziert Risiko: * p < 0,05; ** p < 0,01; *** p < 0,001; **** p < 0,0001; Erhöht Risiko: # p < 0,05
externalisierende Krankheiten | |||||
Nikotinsucht | Alkoholsucht | Tablettensucht | antisoziales Verhalten | ||
Allgemeine Religiosität | **** | **** | **** | * | |
Soziale Religiosität | **** | **** | **** | * | |
Gottesbeziehung | ** | **** | *** | ** | |
Vergeben/Liebe | ** | * | * | ||
Gottesgericht | * | * | |||
Rachelosigkeit | |||||
Dankbarkeit | *** | *** | *** |
Reduziert Risiko: * p < 0,05; ** p < 0,01; *** p < 0,001; **** p < 0,0001
Es liegt nahe, dass der Faktor der sozialen Religiosität bei Kendler el al. über die soziale Einbindung der Gläubigen in eine Gemeinschaft mit der konsekutiv reduzierten Einsamkeit protektiv wirkt51. Die bei Kendler gefundene Risikoreduktion der Suchterkrankungen im Allgemeinen (Alkohol, Nikotin, Tabletten, Drogen) durch Religiosität findet sich durchgängig in fast allen durchgeführten Studien52-56. Bemerkenswert ist die Risikosteigerung der Panikstörungen durch die allgemeine Religiosität, ein Aspekt, der bislang noch in keiner namhaften Studie untersucht wurde. Für die Analyse der Schizophrenie, der bipolaren Störung und Anorexie reichte bei dieser Studie die Datenlage nicht. Eine Studie der Spiritualität (weniger der Religiosität) im Vergleich zur seelischen Gesundheit bei ausschließlich Männern in Vietnam fand wenig ameliorativen Effekt der Spiritualität55. Aber auch hier zeigte sich eine Korrelation mit weniger Alkoholsucht.
Bekanntermaßen ist die Suizidrate in religiösen Ländern niedriger57-60. Das könnte allerdings laut Kelleher auch mit einem durch Tabuisieren verursachten Minderberichten zusammenhängen61. Eine rezent im American Journal of Psychiatry publizierte Arbeit untersuchte bei 371 depressiven Patienten die Selbstmordgefahr; die Hälfte dieser Patienten hatte bereits einen Selbstmordversuch hinter sich. Beide Patientengruppen (religiöse und areligiöse Patienten) wiesen in dieser Studie denselben Depressionsgrad, dasselbe Ausmaß der Hoffnungslosigkeit und dieselbe Zahl sowie Qualität von belastenden Life-events auf. Trotzdem neigten areligiöse Patienten signifikant häufiger zu Selbstmordgedanken und Selbstmordversuchen als die religiöse Vergleichsgruppe62. Nicht-religiöse Patienten waren signifikant aggressiver, impulsiver und wiesen einen höheren Prozentsatz an Suchterkrankungen auf. Sie fanden weniger Gründe um zu leben und hatten weniger moralische Bedenken gegen den Selbstmord. Sie waren jünger, seltener verheiratet, hatten weniger Kinder und weniger Kontakt mit ihrer Familie. Diese Studie wird von einer Reihe von anderen Arbeiten inhaltlich unterstrichen63-69. Auch das schwächere soziale Netz von Atheisten70 und die Aggressionsreduktion durch Religiosität71 wurden bereits in früheren Studien beschrieben. Verwandte und Freunde derselben Denomination scheinen der stärkste protektive Faktor zu sein71. Zusammenfassend gibt es heute eine starke Evidenz, dass depressive religiöse Patienten aufgrund einer niedrigeren Aggression und höherer moralischer Bedenken vor Selbstmordgedanken, Selbstmordversuchen und dem tatsächlichem Selbstmord geschützt sind, wobei weniger die konkrete Religionszugehörigkeit als vielmehr das Ausmaß der Religiosität eine Rolle spielt. Dieses statistische Faktum lässt natürlich keinen Schluss auf den jeweils konkreten Patienten zu: ein protektiver Faktor ist keine Garantie.
König und Mitarbeiter72 verfolgten den Verlauf von Depressionen bei 87 körperlich kranken älteren Patienten über annähernd ein Jahr, die bei der Hälfte der Patienten im Laufe dieser Zeit auch verschwand. Die Remission (Ende) der Depression trat bei den religiösen Patienten signifikant früher ein, allerdings nur assoziiert mit der intrinsischen Religiosität, und nicht mit der Zahl der Kirchenbesuche oder der privaten Frömmigkeit (Gebet, Meditation, Bibelstudium). Einige Studien erhielten ähnliche Ergebnisse bei gleicher Fragestellung73-76, eine andere fand eine Assoziation mit extrinsischer Religiosität77. Vergleichbare Ergebnisse wurden bei mütterlicher Religiosität gefunden, die sich sowohl bezüglich der kindlichen wie auch der mütterlichen Depression protektiv auswirkt78,79. Religiöse Bewältigungstrategien (Coping) bei 850 körperlich kranken Patienten waren negativ mit depressiven Symptomen assoziiert80, d. h. trugen zum Wohlbefinden bei. Kendler publizierte 1997 mit seinen Mitarbeitern20 eine weitere Studie mit 1.902 weiblichen Zwillingen: je frömmer die untersuchten Frauen („personal devotion“), umso weniger neigen sie zum Alkoholismus und zum Rauchen, und mit einer schwächeren statistischen Assoziation auch zur Depression. Persönliche Frömmigkeit zeigte sich signifikant protektiv vor depressiogenen Life-events. Andererseits wurde kein Zusammenhang mit Angststörungen oder Essstörungen gefunden. Die Beziehung zwischen Angststörungen und Religiosität ist laut einer rezenten Metaanalyse81 letztlich ungeklärt: es gibt sowohl Studien, die eine Angstreduktion durch Religiosität fanden wie auch solche, die eine Steigerung beobachteten, wie auch Studien, die keinen Effekt wahrnehmen konnten. Sichtlich ist hier die genaue Definition von Religiosität entscheidend.
In einer Metaanalyse der wissenschaftlichen Literatur für ältere Menschen82 zeigte sich, dass ältere religiöse Menschen generell über eine höhere Befindlichkeit verfügen (d. h. sich besser fühlen) als ihre nicht-religiösen Altersgenossen. Es zeigte sich weiter eine negativ proportionale Relation der Religiosität mit Depression und Suizid. Auch eine (schwache) negative Korrelation zwischen religiösen Aktivitäten und kognitiver Funktion wurde gefunden. Der Zusammenhang mit Angststörungen war widersprüchlich. Insgesamt fanden die Autoren Religiosität als schwach protektiven Faktor für die psychische Gesundheit älterer Menschen.
Psychiatrie und Religiosität: eine ambivalente Beziehung
Pikanterweise sind gerade Psychiater im Vergleich zu ihrer unmittelbaren sozialen Umgebung (und damit auch zu ihren Patienten) signifikant weniger religiös83,84. Bemerkenswert ist die fast schamhaft betriebene Trennung dieser Welten, die oftmals von beiden Seiten gefördert wird. Andererseits leiden religiöse Patienten öfter unter einer latent aggressiven Einmischung ihrer Therapeuten in ihr Innenleben. Zum Topos geworden ist das Bild des weltoffenen, aufgeklärten Psychiaters (dann als Prototyp des positivistisch-objektiven Naturwissenschaftlers hingestellt) im Gegensatz zum wissenschafts- und fortschrittsfeindlichen Dorfpfarrer, der, ängstlich besorgt um das Seelenheil seiner Schäfchen und um seine intellektuelle Reputation, den Dialog verweigert. Oder, aus der anderen Warte gesehen, der Konflikt zwischen dem ewiggültigen transzendenten Weltbild und dem platten glaubensfeindlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts. „Der Psychiater ist der Priester-Ersatz der säkularen Welt“ ist eine häufig anzutreffende Meinung in religiösen Kreisen; oftmals als Abwehr einer fremden und als bedrohlich erlebten Gesellschaft formuliert.
Aber die Ambivalenz ist, fernab dieser Klischees, eine tatsächlich spürbare. So hält einer der wenigen deutschsprachigen Übersichtsartikel der letzten Jahre über das Thema Religiosität es für notwendig, „Spiritualität konsequent aus ihrer scheinbar zwingenden Nähe zur Religiosität zu lösen und in die Nähe anderer Begriffe wie ‚Sinnerfüllung’ oder ‚Selbstakzentuierung’ zu setzen“, um sie in Psychiatrie und Psychotherapie „wissenschaftlich hoffähig“ zu machen19. Den Grund des notwendigen Ablösens für die Hoffähigkeit bleiben die Autoren schuldig, da sie ihn offensichtlich für evident halten. Es ist nahe liegend, dass die Autoren Religion als Gegensatz zur Wissenschaftlichkeit erleben. Den ganzen Review-Artikel durchzieht ein Faden von Poor-Impact-Zitaten, mit deren Hilfe die Zusammenhanglosigkeit von Religiosität und psychischem Wohlbefinden gezeigt werden will, in ausgeprägtem Neglect (Neglect = neurologische Bezeichnung für eine oft halbseitige Vernachlässigung des eigenen Körpers od. der Umgebung) der hochklassigen Top-Publikationen mit gegenteiligem Ergebnis. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch der Versuch einer schwedischen Forschungsgruppe85, ihre Ergebnisse mit PET und Persönlichkeitstest als Beweis der materiellen Ursache alles Religiösen zu interpretieren, was durch andere Autoren kritisch hinterfragt wurde86.
In der Tat wird die Religiosität des Patienten vielfach in Psychotherapien nicht berührt, auch wenn sie einen wesentlichen Faktor seiner Innerlichkeit darstellt. Der systemimmanente Hintergrund dieses blinden Flecks ist die so genannte „wertefreie“ (oder auch „wertneutrale“) Psychotherapie, bei der der Therapeut versucht, sein Weltbild nicht in die Therapie einfließen zu lassen (ein andere Psychotherapie-Jargon wäre die „strikte weltanschauliche Abstinenz des Therapeuten“). Es würde den Umfang und Rahmen dieser Arbeit sprengen, diese „therapeutische Wertefreiheit“ kritisch zu hinterfragen (ist denn eine tiefere menschliche Kommunikation ohne Bewertung überhaupt möglich?) In der Praxis allerdings übernimmt der Patient schnell diesen scheinbaren oder tatsächlichen Religions-Neglect des Therapeuten für die Stunden und Themen der Therapie. Damit induziert die Therapie ein Doppelleben der Seele: eine Lebenswirklichkeit kann vom Patienten nicht thematisiert werden, weil sie scheinbar „hier nicht hergehört“. Insbesondere Patienten in der Psychotherapie sind sehr sensibel auf das, was in der Therapie „keinen Platz hat“. Dieses Schweigen aber macht gewisse psychotherapeutische Lösungsmodelle unmöglich. Denn bei religiösen Menschen sind diese beiden Lebensrealitäten (Psyche und Religiosität) eng verwoben, ja untrennbar verbunden.
In den Konflikt kommen diese beiden – scheinbar so säuberlich getrennten – Welten in der Psychotherapie durch praktische Implikationen der Religiosität, vor allem im moralisch-ethischen Bereich. Diese werden von religiös unsensiblen Therapeuten bei aller Wertschätzung der Patientenwelt manchmal als verdrehte, neurotische, zwanghafte Symptome fehlgedeutet, die eben dadurch „objektiv“ seiner Behandlung bedürfen. Dass diese Behandlung nicht durch Befehle und/oder Vorschläge, sondern durch („Hinter-“)Fragen geschieht, ändert wenig an der Suggestibilität derselben. Otto Kernberg, prominenter zeitgenössischer Repräsentant einer aufgeklärten psychoanalytischen Therapierichtung, sieht zum Beispiel die Aufgabe der Psychotherapie darin, religiöse Patienten („Klienten mit formaler religiöser Ausrichtung“) auf die derart gegebene Rationalisierung selbst- und fremddestruktiver Tendenzen hinzuweisen. Im englischen Originalwortlaut87: „Psychotherapy also has to help certain patients to free themselves from the use of formal religious commitments as a rationalization of hatred and destructiveness directed against self or others“. Andererseits sieht er „reife Religiosität“ auch als möglichen Aspekt psychischer Heilung und Entwicklung – eine Religiosität, die eher Richtung Spiritualität geht. Es kann im religiösen Patienten zu dramatischen Zuständen kommen, wenn der Therapeut ihm helfen will, eine seines Erachtens „reifere Religiosität“ zu erreichen. Hier ist die „wertfreie“ Therapie verlassen worden.
Psychotherapie sollte Religiosität als positive Kraft verwenden, ohne sie zu manipulieren. Sie kann bei religiösen Patienten aus meiner persönlichen Sicht in drei Punkten ihre Kompetenz übertreten und die Religiosität problematisch tangieren: die Psychologisierung der Schuld, bei der die persönliche Verantwortung verloren geht; die Mechanisierung der Sexualität, nach dem Freudianischen Prinzip der Neuroseninduktion durch sexuelle Repression und Verdrängen; sowie die Dogmatisierung des Gefühls, bei dem Werte und Bindungen an Bedeutung verlieren zugunsten einer subjektiven Befindlichkeit. Diese drei Punkte, sowie den Unterschied zwischen gesunder und ungesunder Religiosität, die Themen Aggression und Fanatismus, Versündigungswahn, Skrupel, physiologische und pathologische Schuldgefühle, angstbesetzte und angstmachende Religion sollen in einer späteren Arbeit weiter ausgeführt werden.
Der seelsorgliche Dienst wird in „psychotherapeutisch geschulten“ Sozietäten gerne (den Selbstwert hebend) - meist unterschwellig-nonverbal - als bemühter, unschuldig-hilfloser oder revisionistischer Dilettantismus abwertend belächelt. Das geht oftmals soweit, dass Seelsorger in der Identitätskrise zur Ich-Stärkung eine Psychotherapieausbildung beginnen, um nunmehr vor sich und der Welt (gleichfalls trickreich unterschwellig aber doch recht selbstzufrieden) zu verlautbaren, dass sie keinesfalls „nur“ Seelsorger sind, sondern vielmehr „echte Therapeuten“. Das halte ich aus dem Grund bedenklich, weil in solchen Konstellationen oftmals vor lauter Psyche die Seele außer acht bleibt. Meist ist das in der Psychotherapieausbildung Gelernte im Kopf des Seelsorgers ein mit seinem religiösen Leben schwer kompatibles Konstrukt, ein innerer Konflikt, der dann eben auch in seinen seelsorglichen Gesprächen Ausdruck findet. Es besteht hier die Gefahr, den Glauben zu psychologisieren, das Übernatürliche zu verweltlichen, das Nicht-Messbare abzuwerten. Die Methode der Seelsorge ist nicht die Psychotherapie; psychotherapeutisches Agieren verbessert die Seelsorge nicht, sondern verfälscht sie. Der Seelsorger soll in der Lage sein, psychisch auffällige Menschen an den Fachmann weiterempfehlen, statt zum „umfassenden Heiler“ werden zu wollen.
Konklusionen
Die Religiosität ist mit der menschlichen Psyche und dem täglichen Leben natürlicherweise eng verwoben, was – auch durch ihre Intimität – eine hohe Vulnerabilität durch psychotherapeutische Interventionen zur Folge hat. Diese Verletzlichkeit des religiösen Lebens bedarf eines in religiösen Fragen sensiblen Psychiaters, da praktisch alle psychischen Probleme bei religiösen Patienten eine religiöse Dimension besitzen. Da es nunmehr deutliche naturwissenschaftliche Hinweise gibt, dass Religiosität einen positiven Einfluss auf den psychiatrischen Krankheitsverlauf hat, scheint die Wertschätzung dieser Dimension noch dringender geraten.
Die besagte Sensibilität kann in der Praxis durch einen persönlich dem Glauben entfremdeten Facharzt nur selten aufgebracht werden. Der Therapeut muss allerdings nicht unbedingt derselben Glaubensgemeinschaft angehören, obwohl dies oftmals einen gewissen Vertrauensvorschuss gewährleistet. Auf der anderen Seite kann auch der Seelsorger ohne psychologisches Feingefühl schweres Leid verursachen: Auch mit noch so viel Gebet und verbissenem asketischen Kampf verschwindet keine Depression, von einer Schizophrenie ganz zu schweigen. Psychiatrische Symptome können zwar manchmal durch Schuld ausgelöst sein, oftmals jedoch treten sie ohne Zusammenhang mit dem moralischen Leben auf. Dieses Faktum ist besonders religiösen Patienten häufig schwer näherzubringen. Psychiatrie/Psychotherapie und Seelsorge haben verschiedene Aufgabenbereiche. Dem Seelsorger geht es gemäß seinem Auftrag in erster Linie um das „Seelenheil“ des Patienten, das heißt, um eine gelungene Gottesbeziehung (mit entsprechenden Implikationen in der Glaubenspraxis und im moralischen Bereich). Ein Seelsorger, der sich nur oder primär um die Befindlichkeit seiner Klienten sorgt, vernachlässigt einerseits den wichtigsten Teil und überschreitet andererseits seine Kompetenz. Es ist für psychiatrische Patienten durchaus gefährlich, wenn der Seelsorger sich als Psychiater-Ersatz versucht. Die Trennung dieser beiden Kompetenzen ist wesentlich, ohne einen der beiden Realitäten auszublenden. Aus diesem Grund sind Seelsorger mit psychotherapeutischem Schwerpunkt eine ungesunde (weil für den Patienten und auch für den Seelsorger verwirrende) Mischung an Kompetenzen.
Die Erlangung des Seelenheils für den Patienten ist andererseits nicht die Aufgabe des Psychiaters, auch nicht des religiösen Psychiaters. Seine Aufgabe besteht in der psychischen Gesundung, prinzipiell fernab einer übernatürlichen Dimension. Der Arzt darf dem religiösen Patienten nicht zum Seelsorgerersatz werden (er kann keine Sünden vergeben, spricht nicht im Namen der Glaubensgemeinschaft, muss nicht „pastoral“ sein,…), auch wenn das der Patient manchmal durchaus wünschen kann. Offen diskutiert wird in der Literatur die Frage der Intervention in psychiatrisch-moralischen Grenzbereichen: So ergab eine Studie, dass etwa die Hälfte religiöser (evangelikaler) US-Psychiater ihren religiösen Patienten von einer Abtreibung, von homosexuellen Akten oder von vorehelichen Sexualkontakten abraten würde; etwa ein Drittel würde sogar nicht-religiösen Patienten davon abraten84. In diesen Punkten wird in Europa mit Sicherheit mehr Zurückhaltung geübt; ich persönlich halte solch eine Stellungnahme im therapeutischen Kontext für bedenklich. Eine enge Zusammenarbeit mit dem Seelsorger bewahrt den Psychiater vor der vielleicht manchmal bestehenden Versuchung, selber seelsorgliche Funktion zu übernehmen88.
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Univ.-Doz. Dr. med. et scient. Raphael M. Bonelli
Univ.-Klinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Graz
Auenbruggerplatz 31, A-8036 Graz