Macht Stress krank?
Zusammenfassung
Die Stressforschung unterscheidet Eustress von Disstress. Eustress beflügelt, macht kreativ, neugierig, problemlösungsstark und verbessert die geistige, aber auch körperliche Leistungsfähigkeit. Ob Disstress krank macht, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Einerseits ist die Art und Intensität der Belastungen durch die Umwelt ausschlaggebend, andererseits sind innerpsychische Faktoren entscheidend. Angeführt wird eine Reihe von Schutzfaktoren, die den krankmachenden Anteil von Disstress neutralisieren können. Beschrieben werden auch die Bewältigungsmöglichkeiten bei Vorliegen von Disstress.
Schlüsselwörter: Eustress, Distress, Somatisierungstheorie, Risikofaktoren
Abstract
Stress research differentiates between positive stress and negative stress, or distress. Positive stress lets one take wing and increases creativity and curiosity. It also increases the ability to solve problems and enhances mental productivity and physical ability. Whether distress causes illness or not depends on a number of factors. On the one hand, the kind and intensity of the environmental burdens are decisive; on the other hand, subjective factors might be more influential. A number of protective factors are listed which are possibly capable of neutralizing the factors of distress which cause illness. There is also a description of the possibilities for treating the aspects of distress which cause illness.
Keywords: eustress, distress, theory of somatization, risk factors
Definition
Hüther schreibt in seinem Buch „Biologie der Angst“:1 „Die historische Entwicklung der Stressforschung ist geprägt von faszinierenden Ergebnissen einerseits und konzeptueller Verwirrung andererseits – bis heute existiert kein allgemein akzeptiertes Stressmodell. Der Stressbegriff ist so vielfältig gebraucht worden und in die Umgangssprache eingegangen, dass es heutzutage unerlässlich ist der Verwendung des Begriffs eine Betrachtung seiner Entstehung und Konzeptualisierung voranzustellen.“
Eustress und Disstress
In der heutigen stressreichen Zeit wird Stress durchwegs mit negativen Empfindungen verbunden. Stress fördert aber auch Entwicklungsmöglichkeiten, bedeutet im richtigen Ausmaß eine Verstärkung von seelisch-körperlichen und geistigen Funktionen.
Der große Schmerzforscher Hans Selye definierte Stress als „unspezifische Reaktion des Körpers auf jegliche Beanspruchung“.2 Er unterscheidet zwischen den beiden Begriffen Eustress und Disstress.
Eustress bedeutet Herausforderung, Auseinandersetzung, wird gespeist durch Neugierde, fördert die Kreativität und bringt eine deutliche Erweiterung der Möglichkeiten auch schwierige Situationen zunehmend besser meistern zu können. Die positive Veränderung kann durch die modernen Mittel der Hirnforschung nachgewiesen werden. In einer positiven Weise wird das Wachstum der Nervenzellen gefördert, die Synapsendichte zwischen den einzelnen Nervenzellen wird deutlich erhöht, das Nervenwachstum wird stimuliert, es kommt zu einer Verbesserung von Lern- und Gedächtnisleistung und zu einer verstärkten Durchblutung. Im übertragenen Sinn können wir davon ausgehen, dass das Gehirn genauso trainiert werden kann wie ein Muskel. Es kann stärker, funktionstüchtiger und wendiger werden. Das bewirkt Eustress.
Unter Disstress verstehen wir die chronische Überforderung, das Missverhältnis zwischen der Anforderung und der Möglichkeit darauf zu reagieren. Disstress beinhaltet einen krankmachenden Konflikt. Einen Konflikt zwischen leisten wollen oder leisten können und leisten müssen.
Selye unterscheidet 4 Phasen:
- Das allgemeine Adaptationssyndrom.
- Die Alarmphase.
- Die Phase des Widerstandes.
- Die Phase der Erschöpfung.
Das allgemeine Adaptationssyndrom (Anpassungsphase)
Auf der biochemischen Ebene können wir, sehr vereinfacht, Stress auf 2 Achsen verstehen, auf der Achse des Neurotransmittersystems Serotonin/ Noradrenalin (Nervenbotenstoffe Serotonin und Noradrenalin) und auf der Hypophysen – Cortisolachse. Das serotonerge und noradrenerge System, das Neurotransmittersystem, ist für Aufmerksamkeit, Antrieb, Kraft, Elan, Vital, Libido aber auch für Schlafen und Entspannen zuständig und versetzt den Menschen in die Lage adäquat auf psychische Belastungen zu reagieren (Eustress).
Die Alarmphase
Durch weitere Belastungen, bzw. durch die Heftigkeit eines Ereignisses entsteht eine Überforderung, die sich auf der ersten Schiene als Serotonin/Noradranalinmangelsyndrom darstellt. Das Serotonin/Noradrenalinmangelsyndrom ist gekennzeichnet durch Antriebsarmut, Konzentrationsschwierigkeiten, Libidoverlust, Aufmerksamkeitsstörungen, Gedächtnisstörungen, Schmerzen am ganzen Körper, Depression und Angst, Gereiztheit.
Die Phase des Widerstandes
Wird dieser Zustand nicht durch Gegenmaßnahmen ausgeglichen, sprich Entspannung, Erholung, Zuwendung, Liebe, Freude, Konfliktbereinigung etc., wird zunehmend ein zweites System zugeschaltet, das ACTH-Cortisolsystem (ACTH = Adenocorticotropes Hormon ist das Steuerungshormon der Hypophyse, der Hirnanhangsdrüse, die die Ausschüttung von Cortisol aus der Nebenniere steuert). Mit diesem System in Kombination mit der Restfunktion des Neurotransmittersystems, können einige Zeit Stresssituationen kompensiert werden, allerdings schon auf Kosten der Substanz. Die Auswirkungen des Distresses sind messbar. Die Produktion von Sexualsteroiden, die eine nervenwachstumsfördernde Wirkung haben, wird unterdrückt, es kommt zu einer Verminderung der Nervenzellenfortsätze, sowohl in der Großhirnrinde, als auch in anderen Gehirnregionen und führt zu einer Verschlechterung von Denk- und Gedächtnisleistungen. Zusätzlich entsteht eine Reduktion des lymphatischen Systems, ein Abbau des Immunsystems und daraus resultierend eine Infektanfälligkeit. Zusätzlich wird durch den hohen Cortisolspiegel die Gefäßinnenwand belastet und die Cholesterinbildung verstärkt.3 Der entstehende Bluthochruck bewirkt eine weitere Schädigung der Gefäßwand und eventuell auch eine Stenose der Koronararterien.
Die Gründe, warum nicht rechtzeitig auf Erholung und natürliche Gegenregulation geachtet wird, sind vielfältig: Leistungsdruck aufgrund äußerer Umstände, unlösbare Konflikte und Überforderungen in der Familie, am Arbeitsplatz, durch die Pflege erkrankter Angehöriger, neurotische Fehlentwicklungen mit übermäßigem Leistungszwang und viele andere mehr.
Auf der psychischen Ebene ist eine Regression zu beobachten. Einerseits eine Regression im Verhalten, z. B. werden orale Mechanismen betont: Der Zigarettenkonsum steigt, weil Zigaretten angeblich beruhigen, das Gewicht steigt, weil der Stressesser sich immer wieder etwas einverleiben muss bzw. sich damit beruhigen oder belohnen muss. Durch Substanzmissbrauch mit Koffein, Nikotin, Alkohol und Drogen werden das Schlaf- und Erholungsbedürfnis sowie die normalen Warnsignale, die der Körper sendet, übertüncht oder außer Kraft gesetzt.
Es entsteht auch eine Regression auf der sozialen Ebene. Es steigt der Angstpegel, Mitmenschen werden nicht mehr als Entlastung oder Freunde erlebt, sondern als Belastung oder sogar Bedrohung. Die Folge ist sozialer Rückzug, man versucht mit sich selbst alleine klar zu kommen, das Verhalten wird immer absonderlicher.
Die Stimmung wird zunehmend gedrückt und verfärbt sich ins depressive. Auch hier wieder gibt es einen Gleichklang von Psychologie und Physiologie.
Die Erschöpfungsphase
Der Serotonin/Noradrenalinmangel ist durch vermehrte Cortisolausschüttung eine zeitlang kompensierbar, bei weiterem Anhalten der Überlastung kommt es zur Erschöpfungsphase, in der sowohl der Cortisolspiegel, als auch die Neurotransmitter deutlich absinken. Auf der psychischen Ebene kann eine Depression oder Angststörung entstehen und auf der körperlichen Ebene ein Erschöpfungszustand mit Infektanfälligkeit und verschiedensten körperlichen Erkrankungen. Aufgrund des Abbaus des Immunsystems und des Cortisolmangels werden viele Erkrankungen begünstigt, die in der Akutbehandlung wiederum das Einsetzen von Cortison als Medikament erforderlich machen, wie: Asthma bronchiale, Neurodermitis, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen.
Auswirkung des Stresses
Die Auswirkungen des Stresses sind sehr stark durch subjektive Faktoren geprägt. Was für den einen Menschen schon heftigen Disstress bedeutet, bedeutet für den Anderen angenehmen Eustress. Der wichtigste Faktor ist das Training, das Bemühen des Einzelnen, sich mit neuen Situationen neugierig, mutig und kreativ auseinanderzusetzen und sich diese vertraut zu machen. Es gibt auch eine Reihe von Schutzfaktoren, die es den Einzelnen ermöglichen, Disstress besser zu verkraften. Schutzfaktoren, die im Weiteren noch genauer beschrieben werden. Auch genetische Faktoren spielen eine große Rolle.
Bei der Analyse der Stressverarbeitungsfaktoren sind zwei Ebenen zu berücksichtigen: Die innerseelische Bühne und die äußere Bühne.
Die innerseelische Bühne
Die innerseelische Bühne ist stark geprägt durch frühe kindliche seelische Erfahrungen, vorrangig durch die Beziehung zu den frühen Bezugspersonen, seien es die Eltern und andere Personen.
Schon vom frühesten Säuglingsalter an und schon vor der Geburt ist die Psychodynamik mit zu berücksichtigen. Der Ungeborene und der Säugling werden mit Botschaften konfrontiert, die transzendenten Rollen entsprechen: „Wir freuen uns, dass du kommst, wir freuen uns, dass es dich gibt". Hier sehen wir also die tiefste Stufe der Somatisierung, das prinzipielle willkommen sein, die prinzipielle Botschaft des „ich freue mich, dass Du da bist, ich bin stolz auf dich, du bist o.k., du bist gesund, ich habe Zeit für dich“, verbunden mit primärer Liebesfähigkeit, primär Vertrauen finden, Entspannung und einem sehr frühen Sich-selbst-wohl-Fühlen.4
Damit wird dem Kind die existentielle Berechtigung des Lebens auf der Rollenebene gegeben. Auf der Ebene des Rolleninventars werden Rollen aktiviert, die im Kind als Botschaften ankommen: „Ich bin willkommen, ich bin gewollt, ich bin geliebt“. Dies sollte die früheste Rolleninduktion von der Umgebung in dem Kind sein. Das Urvertrauen als wichtigster innerseelischer protektiver Faktor für Disstress wird aufgebaut.
Die De- und Re-Somatisierungstheorie nach Max Schur
Protektive Faktoren beschreibt auch Max Schur in seiner De- und Re-Somatisierungstheorie. Er zeigt, dass in der Entwicklung des Menschen zu unterschiedlichen Zeiten bestimmte Organsysteme im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. In der Zeit des Säuglings stehen die Haut und die Organe zur Nahrungsaufnahme im Mittelpunkt des Interesses. Schon Freud hat von der oral-dermatalen Phase gesprochen. In dieser Zeit ist es besonders wichtig, dass diese Organsysteme in ausreichendem Maß Beachtung finden, so zu sagen „beseelt“ werden. Durch streicheln, liebkosen, salben etc. wird die Haut widerstandsfähig und ist für kommende Stressanforderungen gerüstet.
Es ist ganz faszinierend wie Eltern intuitiv erfassen, wie wichtig der Hautkontakt für Kinder ist. Sie herzen und küssen, streicheln und salben die Kinder, sie kitzeln und spielen „krabbelt ein Mäuschen übers Häuschen…“, sie spielen Bauch blasen und Zehen knabbern und erreichen so ein hohes Maß an positiver Energie, Ausgelassenheit, Freude, Verbundenheit, Herzlichkeit und Vertrauen. So wird dieses Organsystem mit positiver Energie, mit positiven Bildern und Szenen aufgeladen und abgesichert, die frühesten innerseelischen Schutzfaktoren gegen Disstress. Nach einer gewissen Zeit lässt die Aufmerksamkeit in Bezug auf dieses Organ nach, Max Schur spricht von Desomatisierung. In der oralen Phase sind Mund, Magen und Verdauungsorgane im Mittelpunkt. Es folgen der Bewegungs- und Stützapparat. So werden alle Organe „beseelt“.
Sind Organe nicht ausreichend positiv libidinös besetzt und damit nicht stressresistent, kann es in Phasen besonderer psychischer Belastungen zur Resomatisierung kommen, d. h. dass sich das defizitäre Organsystem in Form einer psychosomatischen Erkrankung „zu Wort“ meldet.
Auch das „Organgedächtnis“ oder das „Schmerzgedächtnis“ sind auf diese Weise verstehbar.
Aber auch wenn Menschen nicht auf positive Erfahrungen in der Kindheit zurückgreifen können, haben sie positive Szenen von Natur aus in sich gespeichert. Sie können aktiviert werden durch Filme, positiv berühren, Bilder. Der Mensch hat von Natur aus eine Vorstellung von guten Eltern und guten Szenen mit den Eltern. Auch dies ist ein wichtiger innerseelischer Schutzfaktor gegen Distress. So ist es gut erklärbar, dass Menschen, die eine triste Kindheit erlebt haben, durchaus liebevolle Eltern zu ihren eigenen Kindern sein können. Diese Fähigkeit ist aber nicht nur auf die Mitmenschen anzuwenden, sondern es ist notwendig die eigenen inneren Szenen zu korrigieren, um auch für sich liebevoll sorgen zu können, was Menschen mit einer belasteten Kindheit oft deutlich schwerer fällt.
Bowlby hat in seiner Bindungstheorie die Wichtigkeit des erfüllten Bindungsbedürfnisses betont. „Das Bindungsbedürfnis des Menschen ist Teil seines evolutionären Erbes. Was aus diesem genetisch determinierten Bindungsbedürfnis eines Neugeborenen wird, entscheidet sich ganz wesentlich in der Beziehung zur primären Bezugsperson. Deren Feinfühligkeit, d. h. prompte und in Bezug auf die Entwicklungsphase angemessene Reaktionen auf die Signale des Säuglings, bedingt wesentlich, ob sich nach 12 bis 18 Monaten ein sicheres oder eine Form unsicheren Bindungsverhaltens entwickelt.“5
Egle et al. schreiben dazu weiter:6 „Danach ist es für die frühe Entwicklung ganz offensichtlich bedeutsam, dass neue Stimuli im Hinblick auf das Entwicklungsstadium des Säuglings bzw. Kleinkindes adäquat präsentiert werden. Schon bei Säuglingen und Kleinkindern geht eine sichere Bindung mit einer besseren, eine unsichere Bindung mit einer schlechteren Stressverarbeitung einher. Trifft das biologisch determinierte Bindungsbedürfnis des Neugeborenen auf mütterliche Verfügbarkeit und Feinfühligkeit (z. B. responsive Mimik der Mutter), so aktiviert dies nach den Ergebnissen psychobiologischer Studien dopaminerge Fasern (Dopamin ist ein Nervenbotenstoff) im Hirnstamm.7 Es kommt zu einer Ausschüttung von Endorphinen, welche den Säugling soziale Interaktionen und soziale Affekte als angenehm erleben lassen. Daraus entwickelt sich ein sicheres Bindungsverhalten, welches das Gehirn, vor allem den Hippocampus (eine Gehirnregion, die in besonderer Weise in das Gefühlsleben involviert ist) und orbitalen Cortex präfrontalis vor Schädigungen als Folge von Stresshormonausschüttungen (Glucocorticoide wie z. B.Cortisol bzw. Noradrenalin/Dopamin) schützt. Auf diesem Wege führt eine sichere Bindung also zu einer Erhöhung der Stressschwelle, d. h. einer besseren Dämpfung der Stressantwort über Hypophysen-Nebennierenrinden (HPA)- und Locus Coeruleus-Norepinephrine (LC-NE)-Achse (Nervenbotenstoffregelsystem).“
Tierexperimentell kann ein postnatales Fürsorgeverhalten (besonders intensives Lecken) seitens der primären Bezugsperson die Folgen genetisch determinierter Stressvulnerabilität ebenso wie embryonaler Stresseinwirkung im Hinblick auf erhöhte Ängstlichkeit und Aktivität der HPA-Achse sowie Einschränkungen von Körpergewicht, -größe und Nahrungsverhalten wieder kompensieren.8
Den chronischen Belastungsfaktoren, die die innere Bühne mitbestimmen, haben die ACE-Forscher, allen voran Felliti und Egle, Schutzfaktoren gegenübergestellt:9
- Dauerhafte gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson
- Sicheres Bindungsverhalten
- Großfamilie, kompensatorische Elternbeziehungen
- Entlastung der Mutter (v. a. wenn alleinerziehend)
- Gutes Ersatzmilieu nach früherem Mutterverlust
- Überdurchschnittliche Intelligenz
- Robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament
- Internale Kontrollüberzeugungen, self-efficacy
- Soziale Förderung (z. B. Jugendgruppen, Schule, Kirche)
- Verlässlich unterstützende Bezugsperson(en) im Erwachsenenalter
- Lebenszeitlich spätere Familiengründung (i. S. von Verantwortungsübernahme)
- Geringe Risiko-Gesamtbelastung
- Geschlecht: Mädchen weniger vulnerabel
Die vegetative oder Organ-Neurose nach Franz Alexander
Für die unterschiedlichen Formen der Stressverarbeitung führte Franz Alexander die Begriffe vegetative Neurose bzw. Organneurose ein.10
Jede Emotion bewirkt im Körper eine vegetative Reaktion und Mitbeteiligung. Angst wirkt sich auf den Herzschlag, auf die Atmung, auf die Schweißsekretion, auf die Verdauung etc. aus. Ebenso wirkt sich Ärger auf Herzschlag, Blutdruck etc. aus. Diese vegetative Beteiligung ist äußerst wichtig, um auf die Anforderungen der Umwelt körperlich reagieren zu können. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch, dass keine Stauungsprozesse entstehen. Emotionen, die nicht abgebaut werden können, die in sich hineingefressen werden, die nicht durch positive Gefühle unterbrochen und abgelöst werden, bewirken chronischen Distress mit den Folgen wie Blutdrucksteigerung, Durchblutungsstörungen und in verschiedener Weise psychosomatische Erkrankungen.
Nach Ansicht Franz Alexanders führt ein unbewusster Konflikt im Zuge einer neurotischen Fehlentwicklung dazu, dass eine auf Außenobjekte gerichtete Handlung unterlassen wird. Die emotionale Spannung kann so nicht abgeführt werden, während die begleitenden vegetativen Veränderungen aufrecht bleiben. Durch den nicht bearbeiteten unbewussten Konflikt entsteht eine klassische Distresssituation.
Im zweiten Schritt könne es dann auf der Basis eines Dauersympathikotonus (Sympathikus = Teil des vegetativen Nervensystems) mit Engstellung der Gefäße, Vergrößerung des Herz-Minuten Volumens zur Hypertonie zu Gewebsveränderungen und irreversiblen organischen Erkrankungen kommen.
Im Wissen um diese Phänomene ist es notwendig zwischendurch wieder zur Ruhe, zur Entspannung, zu Freude zu kommen, Emotionen im Zusammensein mit anderen Menschen abbauen, Sorgen und Wut mitteilen zu können, das Herz auszuschütten und so zu einer Entlastung zu finden. Auch das körperliche Abreagieren sollte neu überdacht werden. Bei Kindern ist der Zusammenhang zwischen Fühlen und Bewegen augenscheinlich. Im Laufe des Erwachsenwerdens unterdrücken wir immer mehr die körperlichen Möglichkeiten Stauungsprozessen entgegen zuwirken.
Die äußere Bühne
Der überfordernde Stress, der auf einen Menschen einwirkt, kann von verschiedener Seite her bedingt sein: Durch akute Ereignisse, die oft schicksalhaft sind:
- Verlust von Familienmitgliedern durch Katastrophen, Unfälle, Lawinen, Erdbeben, etc.
- Verlust des Arbeitsplatzes, berufliches Scheitern
- Existenzielle finanzielle Bedrohung
- sexueller Missbrauch und andere Gewalterfahrungen
- psychogene Faktoren wie: Emotionales Desinteresse, chronische familiäre Disharmonie,
- Scheidung,
- Missverhältnis zwischen Leistungsanforderung und Leistungsvermögen etc., aber auch körperliche Überforderung können zu Distress führen wie z. B. Operationen,
- chronische körperliche oder psychische Krankheit
Für die Kindheit hat Egle eine Reihe von Risikofaktoren als Ergebnis aus den Langzeitstudien erkannt:11
- Niedriger sozioökonomischer Status
- Schlechte Schulbildung der Eltern
- Arbeitslosigkeit
- Große Familien und sehr wenig Wohnraum
- Kontakte mit Einrichtungen der sozialen Kontrolle (z. B. Jugendamt)
- Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils
- Chronische Disharmonie in der Primärfamilie
- Mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr
- Unsicheres Bindungsverhalten nach 12./18. Lebensmonat
- Psychische Störungen der Mutter/des Vaters
- Schwere körperliche Erkrankungen der Mutter/des Vaters
- Chronisch krankes Geschwister
- Alleinerziehende Mutter
- Autoritäres väterliches Verhalten
- Verlust der Mutter
- Längere Trennung von den Eltern in den ersten 7 Lebensjahren
- Anhaltende Auseinandersetzungen infolge Scheidung bzw. Trennung der Eltern
- Häufig wechselnde frühe Beziehungen
- Sexueller und/oder aggressiver Missbrauch
- Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen in der Schule
- Altersabstand zum nächsten Geschwister < 18 Monate
- Hohe Risiko-Gesamtbelastung
- Jungen vulnerabler als Mädchen
Soziale Faktoren stellen Stressfaktoren dar, die zunehmend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. War früher der Herzinfarkt eine Managererkrankung, so betreffen heutzutage Erkrankungen im Herz-Kreislauf-System zu einem überwiegenden Prozentsatz Menschen aus sozialen Schichten, die mit Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Unterdrückung zu kämpfen haben, die also mit chronischem Distress konfrontiert sind.
Rose und Marmot konnten nachweisen, dass ein niedrigerer sozioökonomischer Status mit bis zu dreifach erhöhter Koronarer Herzkrankheit-Inzidenz und -Mortalität belastet ist.12
Hier treffen meist mehrere Faktoren zusammen:
- Eine weniger große Möglichkeit ihre Arbeitsbelastung aktiv zu steuern
- Chronische Belastung durch finanzielle Nöte
Ungesunde Lebensweise in Form von Nikotinkonsum, Alkoholmissbrauch und ungesunde Ernährung kombiniert mit einem fatalistischen Weltbild: „Irgend etwas muss man ja von seinem Leben haben“.
Karasek et al. und Theorell et al. konnten zeigen, dass Menschen mit hohen Anforderungen im Berufsleben mit geringerer Kontrollmöglichkeit im Zeitraum von 10 Jahren eine 5fach höhere Inzidenz (Anzahl der neuen Erkrankungsfälle in der Zeiteinheit) zeigten, an einer koronaren Herzkrankheit zu erkranken.13
Interessant ist es Herz-Kreislauf-Erkrankungen unter dem Titel der Stresstheorie zu beachten. Depressive Menschen erleiden deutlich mehr einen Herzinfarkt, und zwar ist die Rate um das Dreifache höher. Auch hier ist die erste Phase der Neurotransmitterveränderung nicht das ausschlaggebende Moment. Entscheidend erscheint die 2. Phase zu sein, in der durch Cortisol organische Veränderungen herbeigeführt werden, die auch die Blutzusammensetzung und die Endothelien, die Innenhaut der Gefäße, negativ verändern.
Soziale Isolation
Nach einer 15-Jahresuntersuchung an 1.368 koronaren Herzkranken haben unverheiratete Alleinlebende ein dreifach erhöhtes Sterberisiko innerhalb von 5 Jahren.14
Nach der Alameda country Studie, die 6.928 Frauen und Männer einschloss, waren Isolierte 2- bis 3mal so stark gefährdet an einem Herzinfarkt oder an anderen Todesursachen zu sterben, als sozial integrierte Menschen.
Interessant ist auch eine Untersuchung von Nerem et al., die von einer Tierstudie berichtet.15 Kaninchen wurden mit einer stark cholesterinhaltigen Nahrung gefüttert. Die Kaninchenkäfige waren an einer Wand gestapelt. Als sich nach dem Beobachtungszeitraum zeigte, dass die Kaninchen in den unteren Etagen weniger ausgeprägt an einer koronaren Herzkrankheit erkrankt waren als jene aus den oberen Etagen, war die Verwunderung groß.
Als Lösung stellte sich heraus, dass die Tierpflegerin in ihrer Tierliebe die Kaninchen in den unteren Etagen regelmäßig beim Füttern gestreichelt hatte und zu den oberen Etagen aufgrund der Unerreichbarkeit nicht gekommen ist. Dies zeigt, wie sehr Zuwendung und Hautkontakt das Untersuchungsergebnis beeinflusst.
Auch die Ernährung hat als Stressor eine enorme Bedeutung, da der physiologische Ablauf in einem normal funktionierendem Körper nicht auf die durchschnittlichen Essgewohnheiten eines Mitteleuropäers eingestellt ist.
Auch von der Umwelt droht deutliche Belastung und Gefahr durch Luftbelastung, karzinogene Stoffe, Strahlen etc.
Die Auswirkungen von chronischem Distress
Egle et al. schreiben in dem Artikel „Früher Stress und Langzeitfolgen für die Gesundheit“16 „Dass früh einwirkende biologische und psychosoziale Stressfaktoren Langzeitfolgen hinsichtlich der Vulnerabilität für eine Reihe psychischer und auch körperlicher Erkrankungen haben, wurde in einigen prospektiven Longitudinalstudien und zahlreichen retrospektiven Erhebungen belegt. Forschungsergebnisse der letzten Jahre belegten auch jene emotionalen, verhaltensbezogenen und psychobiologischen Faktoren, welche für die Vermittlung dieser Langzeitfolgen verantwortlich sind. Sie bewirken eine verstärkte Neigung zu Somatisierung und weiteren psychischen Störungen. Vor allem Angst, Depression und Persönlichkeitsstörungen führen dann zu Risikoverhaltensweisen, welche auch die Wahrscheinlichkeit für bestimmte körperliche Erkrankungen wie koronare Herzerkrankung, Schlaganfall, Virushepatitis, Typ 2-Diabetes, obstruktive Lungenerkrankungen ebenso wie für Gewaltverhalten erhöhen.“ Menschen mit schlechten Kindheitserfahrungen neigen auch signifikant häufig zu Substanzmissbrauch, vorrangig Nikotin und Alkohol oder auch zu übermäßigem Kalorienverbrauch infolge von Essstörungen und daraus resultierend zu Adipositas (BMI > 35) sowie zu Depressivität und Suizidversuchen.17
Beeinflussungsmöglichkeiten
Stressreaktionen sind unbewusste Reaktionen, die automatisch ablaufen. Geschichtlich gesehen haben sie viel mit dem Überleben des Menschen zu tun. Durch die Stressreaktionen ist der Mensch in Zehntelsekundenschnelle auf Flucht bzw. Kampf eingestellt. Trotzdem sind Stressreaktionen durch mentales Training beeinflussbar. Notwendig dazu ist es, den inneren Dialog, den ein jeder Mensch in sich führt, zu verstehen. Menschen mit schwierigen Erlebnissen in der Kindheit neigen gern zu Selbstbeschimpfungen, wenn sie in Stresssituationen geraten, und haben eine geringere Fähigkeit sich selbst zu beruhigen, Mut zuzusprechen und aufzumuntern. Dies sind Fähigkeiten, die im Rahmen einer Psychotherapie erarbeitet werden können (Selbstbeobachtungsfähigkeit). Die belastenden negativen, strafenden, elterlichen Repräsentanzen müssen ergänzt werden durch liebevolle aufbauende, trostspendende stützende und haltende Repräsentanzen. Daraus resultiert die Grundhaltung des positiven Optimismus, und unrealistische Ängste können abgebaut werden.
Es ist ein grundsätzlicher Unterschied, ob ein Mensch sich einer Panikreaktion prinzipiell öffnet oder prinzipiell in jeder Situation lösungs- und auswegorientiert ist. Dazu ist es notwendig verschiedene belastende Situationen im Kopf durchzuspielen, um so für den Ernstfall gerüstet zu sein und auch in schwierigen Situationen gelassen zu bleiben (Problemlösefähigkeit). Ebenso muss die Fähigkeit, durch Entspannungsverfahren und Bewegung bzw. sportliche Betätigung regelmäßig gezielt das Nervensystem auf „Erholungsreaktion“ umzuschalten, gelernt werden (Entspannungsfähigkeit).
Ein Thema, das immer wieder zur Sprache kommen wird, ist das Thema der leistungsunabhängigen Liebe. In unserer Leistungsgesellschaft sind wir gewohnt uns über Leistung zu definieren. Nur beim Kleinkind ist das anders. Es wird geliebt, auch ohne dass es Leistung erbringen muss. Im Laufe des Lebens tritt die leistungsunabhängige Liebe immer mehr in den Hintergrund. Bei Erkrankungen ist es jedoch notwendig, diesen Teil einer Beziehung wieder aufzuspüren, wieder zu beleben.
Auch die Forderung nach relativer Autonomie, die in dem Satz: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ steckt, ist zu bearbeiten. Menschen in der Krise, Menschen mit einer körperlichen oder psychischen Erkrankung erzählen oft, dass sie für andere gerackert haben und sich für sie aufgeopfert haben. Das wird ein Thema in der Psychotherapie sein müssen. Pflicht jedes Einzelnen ist, für sich selbst zu sorgen, sich selbst zu lieben und auch auf sich selbst aufzupassen. Hier haben die Männer in unserer Gesellschaft einen besonderen Nachholbedarf (siehe Wiener Männergesundheitsbericht 1999 von Schmeiser-Rieder und Kunze).
Uexküll u. Wesiack beleuchten das Maschinenmodell in der Medizin und fordern ein Umdenken im Sinne der Erweiterung und Öffnung hin zum biopsychosozialen Modell.18 Der Psychoonkologe LeShan führt ein sehr praxisorientiertes Bild ein, indem er dem Bild des Mechanikers das Bild des Gärtners zur Seite stellt.19 Sowohl der Mechaniker, der repariert und in kurzer Zeit erfolgsorientiert handelt, ist zur Gesundung notwendig, als auch der Gärtner, der beachtet unter welchen Bedingungen mehr Kraft, Entwicklung, Wachsen, Gedeihen und Blühen möglich ist.
Auf diesem Gebiet haben wir in unserem System doch einen deutlichen Nachholbedarf. Hierin besteht auch ein Teil der Psychotherapie: Mit dem/r PatientIn gemeinsam ein Konzept zu erstellen, wie die Lebensumstände und der Lebensstil geändert werden müssen, um genau dieses Paradigma zu erfüllen.20
Entscheidend ist das Wissen und die Notwendigkeit des sozialen Eingebundenseins der Familie und des Freundeskreises sowie Organisationen wie zum Beispiel kirchliche. Auch der Glaube vermittelt Schutz und Geborgenheit sowie Trost und Anerkennung.
Durch das Wissen um transzendente Fragestellungen wie der Klärung der Frage, dass es eine Existenz nach dem Tod gibt, können große, verunsichernde und damit Disstress verursachende Faktoren gemildert werden.
Im Kontakt mit den PatientInnen ist es für den Arzt notwendig auf Antistressoren hinzuweisen und diese mit ihnen zu erarbeiten.
- Psychosomatisches Verständnis der Gesamtzusammenhänge
- Lebensstiländerungen
- Entspannung
- Freundeskreis
- Lernen, besser auf sich selbst zu achten
- Psychotherapeutische Maßnahmen bei neurotischen Fehlentwicklungen oder Abhängigkeitsverhalten
- Ernährungsumstellung
- Nikotinstop
- Bewegung
- Pharmakologische Behandlung, Serotonin und Noradrenalinregulatoren
Nach dem Stressmodell von Hüther spielt das Neurotransmittersystem eine zentrale Rolle.21 Danach sind sowohl medikamentöse-psychopharmakologische Behandlungen leicht nachvollziehbar, aber auch psychologisch-psychotherapeutische Beeinflussungsmöglichkeiten werden leichter verstehbar.
Antidepressiva
Mittel der Wahl sind Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, wobei mehrere Studien die Besserung des Serotonin-Mangelsyndroms und damit die Verbesserung der Lebensqualität bestätigen.22
Bei der Substanz Paroxetin wurde darüberhinaus eine Thrombozytenaggregationshemmung (Thrombozyten sind Blutplättchen, die eine wichtige Rolle bei der Blutgerinnung spielen) nachgewiesen, die noch auf einer zweiten Schiene Anlass zur Hoffnung gibt, dass auch aufgrund der Verringerung der Thromboseneigung ein Infarkt bzw. ein Reinfarkt verhindert werden kann.23
Die praktische Erfahrung deckt sich mit den Studien. Immer wieder sehen wir Menschen, die auf Grund von chronischem Distress von Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit, Konzentrationsschwäche und stimmungsmäßiger Gedrücktheit gequält werden. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer bewirken, dass sie wieder Energie, Lebensfreude und Kraft spüren und die Farben wieder sehen und genießen können. PatientInnen sind froh und dankbar über die positive Wirkung dieser Medikamente. Dabei muss man jedoch immer beides bedenken. Einerseits bewirkt die Verbesserung des Serotoninhaushaltes ein besseres Gefühl, andererseits ändert sich dadurch aber noch lange nicht der Lebensstil. Lebensstiländerungen sind nicht so leicht zu erreichen. Oft ist ein guter Teil Resignation damit verbunden. Aus Sprüchen wie: „Wenn ich sonst schon nichts habe, dann möchte ich wenigstens…“ und hier kann man das Gläschen Wein oder die Zigarette oder den Schweinsbraten einsetzen. Oft ist das Wechselspiel zwischen Betäuben mit Alkohol und Aufputschen mit Nikotin im Sinne eines Selbstzerstörungsprozesses deutlich sichtbar.
Es ist die Aufgabe des Psychiaters oder des Psychotherapeuten gemeinsam mit den PatientInnen die Hintergründe dieser Grundhaltung zu erkennen und alternative Bewältigungsstrategien zu erarbeiten.
Referenzen
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Prim. Dr. Manfred Stelzig, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie
Leiter des Sonderauftrages für Psychosomatische Medizin, Landeskrankenhaus Salzburg
Paris-Lodron-Straße 17/22, A-5020 Salzburg