Editorial
Menschenrechte und Menschenwürde sind an sich keine Erfindung der Moderne. Die Neuzeit hat sich mit diesen Begriffen intensiv auseinandergesetzt, und es war ein Verdienst der Moderne, dass sie die allgemeine Anerkennung der Menschenrechte erreicht hat. Dies kann gewiss als eine der großen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte betrachtet werden. Menschenrechte sind grundlegende Rechte mit universalem Gültigkeitsanspruch, die jedem Menschen als Menschen, unabhängig von seinem Ursprung und seinen Merkmalen und Eigenschaften zukommen. Gewiss entstehen die verschiedenen Menschenrechtsdeklarationen im politischen Konsensverfahren. Aber aus dem Menschenrechte legitimierenden Konsens ist selbst keine Begründung derselben auszumachen. Der Mensch selbst stellt wegen seiner unermesslichen und unaufgebbaren Würde unverhandelbare Rechtsansprüche. Die Begründung der Menschenrechte ist also bei der Menschenwürde zu suchen und nicht umgekehrt, wie in der letzten Zeit manche Philosophen behaupten.
Gerade in der Biopolitik zeigt sich, wie wichtig die Rückbindung jeder Argumentation an die Menschenwürde ist. Obwohl aus dem Begriff der unantastbaren Menschenwürde keine konkreten Handlungsanleitungen entstehen, werden aber doch die notwendigen und unverrückbaren Grenzen des Konsensspielraums abgesteckt. Ohne diese Grenzen stürzt der Konsens in die Beliebigkeit des Werterelativismus ab. Nicht zufällig sind jene, die den Begriff der Menschenwürde als unbrauchbar erklären, auch dieselben, die die Überschreitung einer biopolitischen Grenze nach der anderen fordern.
Der Konsens ist sehr wichtig: er ist ein notwendiges Instrument des politischen Ethos. Inhaltlich muss er aber aus einem ausreichend fundierten bioethischen Diskurs hervorgehen. Der Konsens soll das Ergebnis eines nachhaltigen Bemühens um die Wahrheit sein, die – so unzugänglich sie auch erscheinen mag – immer das Ziel der philosophischen Reflexion ist und bleiben muss. Zum politischen Ethos der Demokratie gehört der Respekt vor Mehrheitsentscheidungen, aber diese werden deshalb nicht zum Ermittlungsverfahren der Wahrheit erklärt, noch bekommen sie auf demokratischem Wege ihre moralische Legitimation. Man müsste umgekehrt darauf bestehen, dass die Mehrheit nur jene Entscheidungen trifft, die den Kriterien der Wahrheitsfindung am besten entsprechen und deshalb moralisch auch legitimiert werden können. Die Bemühung um die Wahrheit gehört ja unbedingt zum politischen Ethos.
Der von der unantastbaren Menschenwürde wegführende Trend ist auch derselbe, der zu Moralvergessenheit, Moralverdrängung und zuweilen sogar Moralverweigerung (A. Müller) führt, wie sie zunehmend in den Haltungen des heutigen Menschen zu beobachten sind. Der Verlust des Wertebewusstseins bei den Individuen unserer Gesellschaft kann nicht geleugnet werden. Es stechen zum Beispiel besonders das Abhandenkommen des wahren Familiensinns und der krasse Mangel an Schamhaftigkeit hervor. Aber auch in Wirtschaft und Politik wird der Verlust des Wertebewusstseins immer offensichtlicher. Aus der Perspektive der Menschenwürde wird die Moralvergessenheit zur schizophrenen Dramatik. Auf der einen Seite hat der Mensch nach wie vor eine klare Intuition seiner eigenen, nicht aufgebbaren und unermesslichen Würde. Auf der anderen Seite aber wird die selbstbeschämende Erfahrung, sich für das Böse entscheiden und es auch tun zu können, aus dem Bewusstsein ausgeblendet. Dies ist aber nur dann möglich, wenn Würde in erster Linie als eine Verpflichtung statt als unverlierbares, in gegenseitiger Anerkennung begründetes Privileg wahrgenommen wird. Das Bewusstsein, dass, wer eine „würdeverletzende“ Handlung begeht, sich selbst seine Würde nimmt, geht verloren.
Es bleibt die Hoffnung, dass unsere Kultur sich auf den Begriff der Menschenwürde besinnt, und damit der Mensch sein zum Teil verlorenes Moralbewusstsein wiedererlangt. Dazu will diese und die kommende Ausgabe von Imago Hominis einen Beitrag leisten. Warum die Menschenwürde nicht zur Diskussion steht, bringt W. Schweidler zur Sprache. Nicht jeder philosophische Exkurs ist in der Lage, die Menschenwürde so zu fundamentieren, dass die sich daraus ableitenden Konsequenzen nicht doch zu einem Verlust derselben führen. Dies wird eindrucksvoll in der Arbeit von J. Rosado über den Begriff der Menschenwürde in der Anthropologie von K. Wojtyła erläutert. Wie die bereits erwähnte Verknüpfung von Würde und Moralbewusstsein aus philosophischer Sicht erläutert werden kann, wird in den Beiträgen von T. S. Hoffmann und W. Kohlenberger aufgezeigt.
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