Schmerzen bei Kindern - ethische Aspekte und Behandlungskonzept

Imago Hominis (2014); 21(3): 183-192
Christiana Justin

Zusammenfassung

Schmerztherapie bei Kindern wurde lange Zeit aus verschiedensten Gründen deutlich vernachlässigt. Aus den Grundlagen ärztlichen Handelns ergibt sich ganz klar die Notwendigkeit, kindlichen Schmerzzuständen große Aufmerksamkeit zu schenken. Alle in die Patientenbetreuung eingebundenen Fachrichtungen bieten eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten an. Diese zu nutzen ist ein Gebot der Stunde und Ausdruck der Verantwortung für die heranwachsende Generation.

Schlüsselwörter: Kind, Schmerz, ethische Grundlagen, Schmerzmessung, Schmerztherapie

Abstract

For various reasons, pain management in children has been neglected for a long time. Based on the basic principles of medical practice, it is clear that pain in children is a serious and important challenge, which has to be treated carefully. The different specialists involved in patient care all offer a variety of treatment options. These have to be used now for the sake of the rising generation of tomorrow.

Keywords: children, pain, ethical principles, pain assessment, pain treatment


Einleitung

Schmerzempfinden und seine ethische Dimension, das damit verbundene Leid, ist in den letzten Jahrzehnten – wohl auch mit der immer geringeren Bereitschaft, vielfältige Formen des Leidens auszuhalten – zunehmend in den Blickpunkt gerückt. Während man früher den Schmerz nach einer Operation als unvermeidbares, notwendiges Übel annahm, bietet die moderne Medizin heute eine ausgeklügelte Schmerztherapie an, die auch immer mehr eingefordert wird. Das ist nicht nur ein Service am Patienten, sondern hat auch Auswirkungen im Sinne einer Stressminderung mit allen daraus resultierenden positiven Einflüssen auf die Befindlichkeit in physischer und psychischer Hinsicht. Deshalb führt ein gutes Schmerzmanagement zu einer besseren und rascheren Rekonvaleszenz.

Schmerz bei Kindern wurde lange Zeit zu wenig oder gar nicht wahrgenommen. Besonders bei jenen Altersgruppen, die das Unbehagen noch nicht adäquat äußern können – wie Ungeborene, Frühgeborene und Neugeborene, aber auch mental beeinträchtigte ältere Kinder und junge Erwachsene – wurde Schmerz bis vor wenigen Jahrzehnten negiert oder zumindest deutlich unterschätzt.1

Inzwischen weiß man, dass Ungeborene bereits im Laufe des 2. Trimenons der Schwangerschaft Schmerzen empfinden.2 Keine neonatologische Intensivstation kommt heute ohne adäquates Schmerzkonzept aus.

Schmerzdefinition – Schmerzursachen

Schmerz wird definiert als „… unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit den Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird“.3 Das Schmerzempfinden wird am deutlichsten verbal kommuniziert, jedoch ist es nicht an die verbale Kommunikation gebunden, sondern findet seinen Ausdruck in vielfältigen Formen nonverbaler Kommunikation.4 Es ist eine Errungenschaft und Entwicklung der letzten 30 Jahre, dieser Tatsache zunehmend Beachtung zu schenken und damit der Schmerztherapie bei Kindern jenen Stellenwert zu verschaffen, der unumgänglich notwendig ist.

Schmerz ist immer auch ein subjektives Erleben, das vor allem auch durch Schmerzerfahrungen in frühen Lebensphasen geprägt wird.5 Erst die Kombination von Nozizeption (objektiver physiologischer Vorgang, Schmerzreiz, Schmerzweiterleitung), Perzeption (subjektives Erfassen, Wahrnehmen) und subjektiver Bewertung machen das „Schmerzerlebnis“ und damit das Schmerz-
empfinden aus.


Schmerz kann nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden:

Nach der PathophysiologieNozizeptiver Schmerz
  • somatisch oberflächlich (Haut)
  • somatisch tief (Knochen)
  • viszeral (Bauch-, Brusthöhle)
    Neuropatischer Schmerz
    Störung der Funktion und/oder der Struktur der Nervenzelle
    Nach der LokalisationKopf-, Bauch-, Rückenschmerzen u.a.
    Nach der Schmerzdauer
    • akut (postoperativ, nach Trauma)
    • chronisch
    Tab. 1: Schmerzkriterien7

    Kinder erleiden Schmerzen zum einen im Rahmen von verschiedensten Erkrankungen. Zum anderen werden viele Schmerzsituationen im Laufe der Behandlung im stationären Krankenhausbereich oder auch im prähospitalen Bereich verursacht. Dazu gehören Schmerzen nach Operationen, aber auch viele oftmals vergessene oder unterschätzte „kleine“ Schmerzen wie Blutabnahmen, invasive Untersuchungen (z. B. Endoskopien), Legen von Venenleitungen oder Harnkathetern, Verbandswechsel, Gipsanlagen, und manche Untersuchungen, die für Kinder unangenehme Situationen mit sich bringen, wie langdauerndes Stillliegen.8

    Pathophysiologie

    Die Aufgabe des Schmerzes ist zunächst, Alarmsignal zu sein. Schmerz soll warnen und andererseits im Sinne einer Schutzfunktion die Unversehrtheit des Körpers erhalten. Ist diese Aufgabe jedoch erfüllt, bleibt nur mehr ein belastender Zustand, der eine Kaskade pathophysiologischer Reaktionen in Bewegung setzt.

    Muskeln werden durch den Schmerztrigger über Reflexbögen aktiviert, was zu Verspannungen und damit Funktionsstörungen einzelner Muskelgruppen führen kann. Betrifft diese Funktionsstörung die Bauchwand-, Brust- und Zwerchfellmuskulatur, kann sich daraus konsekutiv eine eingeschränkte Atemfunktion ergeben. Die Folge kann eine verringerte Belüftung der Lunge mit nachfolgender Atelektasen – und Dystelektasenentstehung sein, mit erschwerter Atemarbeit bis zum Sauerstoffmangel.

    Schmerz bedingt Stress und verursacht dadurch die Aktivierung des sympathikoadrenergen Systems sowie eine vermehrte Ausschüttung von Katecholaminen. Dies führt zu Steigerung des Blutdrucks, der Herzfrequenz und dadurch insgesamt zu einer Steigerung der Herzarbeit. Damit verbunden ist auch ein erhöhter Sauerstoffbedarf des Herzens. Wundheilungsstörungen durch Vasokonstriktion der peripheren Strombahn können die Folge sein wie auch Durchblutungsstörungen im Splanchnikusgebiet mit Funktionseinschränkungen des Magen-Darmtraktes.

    Aber auch das neuroendokrine System und damit Hormone wie Glucagon, Insulin, Testosteron u. a. werden beeinflusst, wodurch eine katabole Stoffwechsellage herbeigeführt beziehungsweise verstärkt wird.

    Nichtbehandelter Schmerz führt zu Angst und damit zu psychischer Beeinträchtigung mit der Gefahr der Schmerzchronifizierung. Angst als Stress-
    auslöser aktiviert ihrerseits das sympathiko-adrenerge System mit den oben geschilderten Folgen. Insgesamt wirken alle Faktoren zusammen, sodass bei unbehandeltem Schmerz eine Erhöhung der Morbidität und auch der Mortalität gegeben ist.9 Schmerz ist also ein ernst zu nehmendes, die Gesundheit belastendes Symptom.

    Ethischer Ansatz

    Liest man in der UN Konvention über die Rechte des Kindes nach, so wird klar, dass die Schmerztherapie bei Kindern jeder Altersstufe ein unabdingbares Muss ist. Gerade das Kind bedarf wegen seiner noch unvollständigen geistigen und körperlichen Reife und als Zukunftsträger jeder Gesellschaft eines besonderen Schutzes und besonderer Fürsorge.10

    Kinder leiden zu sehen und nichts zu unternehmen, widerspricht den Vorgaben der Nächstenliebe, wie sie auch im alten Prinzip der ärztlichen Kunst: „Salus aegroti suprema lex“ (Das Heil des Kranken ist oberstes Gebot) zum Ausdruck kommt.

    Die Forderung nach einem Recht auf Schmerztherapie wird daher zunehmend lauter und muss in besonderem Maß für die Schmerztherapie bei Kindern gelten.11

    Jahrelang war die Schmerztherapie bei Kindern aus mehreren Gründen stark vernachlässigt:

    • Die Schmerzeinschätzung ging vom Therapeuten aus. Schmerzmessung und damit Objektivierung des Schmerzes wurde nicht praktiziert. Die Angaben der Kinder wurden nicht ernst genommen. Man missinterpretierte die nonverbale Kommunikation von Schmerzen, die sich in erster Linie in Verhaltensänderungen ausdrückt, bei Neugeborenen, Säuglingen und kognitiv beeinträchtigten Kindern.
    • Angst vor Nebenwirkungen einer Schmerztherapie wie Atemdepression und Suchtgefahr durch Opiate bestimmten das eher zurückhaltende Eingreifen beim kindlichen Schmerz. Einerseits wurde das Risiko durch die Schmerztherapie überschätzt, das Risiko des unbehandelten Schmerzes jedoch nicht erkannt oder deutlich unterschätzt.
    • Es herrschte die Meinung, dass Schmerz zur Diagnosefindung notwendig ist. Er diente als Monitoring für den Zustand des Patienten.12 Bis vor wenigen Jahren wurde die Schmerztherapie bei akutem Abdomen hintangestellt, um eine Verschlechterung nicht zu übersehen. Das führte zu unnötigem Leiden unter dem Vorwand der Diagnosestellung an Hand des Schmerzaufkommens, frei nach dem Motto „Schmerz ist schlecht, aber nicht so schlecht wie das Risiko der Schmerzerleichterung“.
    • Es fehlte das Bewusstsein der Wichtigkeit der adäquaten Schmerztherapie, und es mangelte damals wie zum Teil auch heute noch an Studien zum Thema Schmerztherapie bei Kindern in Hinblick auf die medikamentöse, aber auch in Hinblick auf die nicht medikamentöse Schmerztherapie wie Ergo-, Physio-, Psychotherapie.13
    • Die psychologischen Auswirkungen des Schmerzes auf die Entwicklung und das zukünftige Schmerzempfinden des Kindes wie Angst vor Schmerz, Schmerzerwartung, Akzeptanz, vorhergegangene Schmerzerfahrungen, Interaktion zwischen ärztlichem Personal und Kind, Bewältigungsstrategien wurden unterschätzt.14

    Jeder, dem die Betreuung von Kindern anvertraut ist, wird notgedrungen auch mit Schmerzen unterschiedlichster Art und unterschiedlichsten Ursprungs befasst sein.

    Die Frage ist dann:

    • Ist der Schmerz nützlich im Sinn einer Alarm- und/oder Schutzfunktion?
    • Ist der Schmerz notwendig, um ein Ziel zu erreichen?

    Wenn ja:

    • Ist das Schmerzniveau so niedrig wie möglich?15

    Dem Patienten keinen Schaden zufügen zu wollen („Primum non nocere“ – Nonmaleffizienz) wird bei unterlassener Schmerztherapie jedenfalls nicht erfüllt. Schmerz schadet körperlich und psychisch, wenn er seine Warnfunktion nicht mehr erfüllt.

    Der Patientenwille und die damit verbundene Autonomie haben in den letzten Jahrzehnten deutlich mehr Beachtung gewonnen. Die Autonomie des Patienten kann jedoch nicht der alleinige Maßstab für die Durchführung oder auch Unterlassung einer Therapie sein. Immer müssen die anderen Kriterien ethischen Handelns wie Benefizienz, Nonmalefizienz und Gerechtigkeit miteinbezogen werden.

    Selbstverständlich können individuelle Werte und die Einstellung zum Leiden, das der Schmerz verursacht, das Schmerzempfinden beeinflussen. Schmerz jedoch ertragen zu wollen, liegt in der Autonomie des Patienten.

    Im Falle des Schmerzempfindens heißt das: „Was weh tut, bestimmt der Patient“ und die gerade bei Kindern oft lauthals eingeforderte Schmerzerleichterung verlangt von den Betreuenden rasche und effiziente Hilfe.

    Hier kommt die Autonomie des Patienten zum Tragen, in diesem Falle die Autonomie des Kindes. Dabei ist zu bedenken, dass die Fähigkeit, Situationen zu bewerten und dann adäquat Entscheidungen zu treffen, noch in Entwicklung begriffen ist. Kognitive Kompetenz und Selbstbestimmungsfähigkeit werden kontinuierlich erweitert. Der Wille ist mitunter emotional und wenig vernunftgesteuert. Diese Variabilität ist zusätzlich zu berücksichtigen und bedarf einer einfühlsamen, aber klaren Übernahme der Kompetenz durch Eltern und medizinisches Personal. Keinesfalls jedoch darf die Einschätzung der Befindlichkeit allein aus der Sicht der Betreuer – Eltern, Ärzte, Pflege – erfolgen. Ein kindzentrierter Ansatz, der das Mitspracherecht des Kindes gemäß seinen kognitiven Fähigkeiten berücksichtigt, muss der Maßstab sein.16 Dieses Konzept, das sich am Wohlbefinden des Patienten im weitesten Sinne orientiert, muss bereits auf Früh- und Neugeborene, aber auch auf Ungeborene angewendet werden. Auch kognitiv beeinträchtigte Kinder und Patienten insgesamt haben ein Recht darauf, in ihrem Schmerz ernst genommen zu werden. Für diese Patientengruppen bedarf es einer besonderen Schulung und Erfahrung des behandelnden Personals, um deren Bedürfnisse zu erfassen und entsprechend zu reagieren. Jedes ärztliche und pflegerische Tun muss sich letztlich am Patienten als eigenständige Person orientieren, unabhängig von seinen kognitiven Fähigkeiten. Die Expertise der Schmerzbewertung liegt jedenfalls beim Leidenden und nicht beim Therapeuten. Das erfordert zuerst Hören und Schauen, erst dann Bewertung und damit Diagnose. Daran anschließend bedarf es der adäquaten kindgerechten Schmerzbehandlung.17

    Aufgabe des ärztlichen und pflegerischen Handelns ist das Bestreben, dem Kind Gutes tun zu wollen (Benefizienz). Vorrausetzung dafür ist, das Kind nicht als Ansammlung von Diagnosen zu sehen, sondern als Person, die an einer Krankheit leidet und diese zu ertragen hat.18

    Eine Erleichterung von Schmerzzuständen aller Art ist dann eine logische Konsequenz. Schmerztherapie bei Kindern ist ein Dienst am Leben und an der Gesundheit und damit auch an der Lebensqualität.

    Schließlich ist es auch ein Akt der Gerechtigkeit, Kindern jeden Alters jene Therapie zukommen zu lassen, die ihnen zusteht.19

    Aufgrund der angeführten pathophysiologischen Belastungen des Kindes durch den Schmerz und aufgrund der ethischen Dimension des daraus resultierenden Leidens wird die Gesundheit und Unversehrtheit des Kindes beeinträchtigt.

    Schmerzerfassung - Schmerzmessung - Behandlungsziel

    Alle diese Überlegungen führen zu dem Schluss, dass kindlicher Schmerz behandelt werden muss.

    Dazu ist es notwendig, den Schmerz als Leidensursache zu erkennen. Es bedarf zunächst einer guten Anamnese und der Erhebung eines Status quo. Durch gezielte Fragen an das Kind oder an die Eltern über Verhaltensmuster, über Intensität und Periodizität der Schmerzen und deren Äußerung – verbal oder nonverbal – kann die Situation besser eingeschätzt werden. Ist eine verbale Kommunikation nicht möglich, muss der Patient in seinem Verhalten beobachtet und auf diese Weise versucht werden, die Situation zu beurteilen.

    Moderne Kinderschmerztherapie orientiert sich am Patienten. Das Maß aller Dinge ist auch hier die Frage:
    Wie geht es dem Betroffenen damit?

    Neben dieser subjektiven Einschätzung durch das betroffene Kind selbst beziehungsweise der Einschätzung durch die Beobachtung des Verhaltens des Kindes, ist es wichtig und für die weiteren Therapieschritte unumgänglich notwendig, den Schmerz zu erfassen und zu objektivieren.

    Dies erfolgt durch Schmerzmessung. Dazu stehen verschiedene Tools und Skalen zur Verfügung, von denen im Folgenden einige stellvertretend für eine Vielzahl angeführt und erklärt werden. Dabei ist zu beachten, dass die verwendeten Schmerzskalen für die entsprechende Patientengruppe aussagekräftige Werte liefern. Außerdem sollten diese Tools für das medizinische Personal in der Anwendung unkompliziert sein.20

    Säuglinge und Kinder bis 4 Jahre können eine Befindlichkeitsstörung noch nicht zuordnen und ausdrücken. Gerade im Kleinkind- und Säuglingsalter, kann der Grund für das Unbehagen mannigfaltig sein: Dies reicht von Hunger, Durst, ungewohnter Umgebung, Lärm, Licht, fremde Bezugsperson bis zu gestörtem Wärmeempfinden. Zunächst ist es nötig, diese möglichen Faktoren des Unbehagens zu eliminieren. Erst dann kann die Schmerzmessung erfolgen.

    Für diese Altersgruppe hat sich zur Schmerzmessung die Kindliche Unbehagen und Schmerz- (KUS) Skala bewährt (siehe Tab. 2).

    Diese beruht auf der Beobachtung des Kindes, ist also eine Fremdbeurteilungsskala, der jedoch Beobachtungen unmittelbar am Patienten zugrunde liegen. Es werden fünf Bereiche beurteilt:

    • Weinen
    • Gesichtsausdruck
    • Rumpfhaltung
    • Beinhaltung
    • Motorische Unruhe

    Diese einzelnen Kriterien werden mit Punkten zwischen 0 und 2 bewertet. Die Einzelergebnisse werden addiert und ergeben einen Wert zwischen 0 und 10 (= maximaler Schmerz).

    012Erhobener Wert
    Weinengar nichtStöhnen, Jammern, WimmernSchreien
    GesichtsausdruckEntspannt, lächeltMund verzerrtMund und Augen grimassieren
    RumpfhaltungNeutralUnstetAufbäumen, Krümmen
    BeinhaltungNeutralStrampelnd, tretendAn den Körper gezogen
    Motorische UnruheNicht vorhandenMäßigRuhelos
    Gesamt Score
    Tab. 2: KUS-Skala als Beispiel eines Instruments zur Schmerzerfassung bei Neugeborenen, Säuglingen und Kindern bis 4 Jahre nach Büttner 21 Bei einem Gesamt Score (Cut off Wert ≥ 4) ist eine Therapie angezeigt.


    Kinder ab dem vierten Lebensjahr können besser bildlich als verbal kommunizieren und sind imstande, ihr Befinden einzuordnen. Deshalb können sie bereits mit der Face Pain Scale revised nach Hick beurteilt werden. Dem persönlichen Empfinden ist eines von fünf möglichen Gesichtern von neutral bis maximal verzerrtem Gesichtsausdruck zuzuordnen. Dem entspricht ein numerischer Wert zwischen 0 und 10 (= maximaler Schmerz). In der Altersgruppe ab etwa 8 Jahren können auch andere Skalen wie die Visuelle Analogskala (VAS) oder auch die Numerische Rating Skala (NRS) für die Schmerzmessung angewendet werden.22

    Patienten mit intellektueller Beeinträchtigung leiden häufig an Schmerzzuständen. Diese sind oft schwer zu entdecken, und es besteht die Gefahr, gerade diesen, ohnedies sehr belasteten Kindern und Jugendlichen eine adäquate Schmerztherapie vorzuenthalten. Hier erfolgt die Schmerzmessung ebenfalls mit einer Fremdbeurteilungsskala. Eine anwenderfreundliche und gut in der Praxis verwendbare Skala ist die revised Face Leg Activity Crying Consolability (r-FLACC) Skala. Wie im Namen schon angedeutet, wird der Gesichtsausdruck beurteilt, außerdem die Haltung der Extremitäten, die motorische Aktivität des Patienten, eventuelles Weinen und das Reagieren auf Beruhigungs- und Tröstungsversuche. Die Ausdrucksweise bei kognitiv beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen betreffend Schmerzempfinden kann sehr unterschiedlich und individuell sein, wie z. B. Zähneknirschen, um sich schlagen, spitz schreien, den Kopf hin und her wälzen u. ä. Diese sehr individuellen Fremdbeobachtungen werden in die Beurteilung integriert und am Bewertungsbogen vermerkt. Wichtig ist es hier, die betreuenden Personen, die diese Kinder täglich begleiten und die deren Reaktionen und Verhaltensweisen am besten zuordnen können, in die Anamneseerhebung mit einzubeziehen. Die Bewertung erfolgt bei jedem Kriterium mit 0 – 2. Die Einzelwerte werden dann wiederum addiert und ergeben einen Wert von 0 – 10 (= maximaler Schmerz).23

    Bei Anwendung einer exakten Schmerzmessung in einer pädiatrischen oder kinderchirurgischen Abteilung empfehlen sich diese drei verschiedenen, an den Bedarf des jeweiligen Kindes angepassten Schmerzskalen. Die Ergebnisse aller hier vorgestellten Skalen liegen zwischen 0 und 10. Damit ergeben sich Zahlenwerte, die untereinander vergleichbar sind, und es wird möglich, einen Cut-off-Wert festzulegen. Dieser ist unabdingbar und bewährt sich vor allem für einen optimalen organisatorischen Ablauf der Schmerztherapie an pädiatrischen und kinderchirurgischen Abteilungen.24

    Gemessene Schmerzwerte sind zu dokumentieren, und die festgelegten Cut-off-Werte müssen als Richtschnur für die Schmerztherapie dienen. Wichtig ist dabei die Beurteilung des Schmerzes in Ruhe, aber auch unter Belastung (Pflege, Bewegung, Mobilisation, Physio- und Ergotherapie). Dabei ist die Einbindung aller medizinischen Fachbereiche sinnvoll und wichtig.

    An Hand der Beobachtungen und/oder der Selbstbeurteilung des Kindes muss ein Behandlungsziel definiert werden. Dieses Ziel muss ein ruhiger, zufriedener Patient sein. Das kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, den Schmerz, der allerdings oft nur einen Teil des Unbehagens ausmacht, so weit wie möglich zu reduzieren.

    Schmerztherapie

    Schmerz entsteht multifaktoriell. Deshalb lässt sich für den Schmerz das biopsychosoziale Krankheitsmodell sehr gut anwenden. Die drei Komponenten dieses Modells sind in Abhängigkeit von der biologischen, psychologischen und sozialen Dimension des Patienten unterschiedlich. Ziel und Aufgabe der verschiedenen Fachdisziplinen muss es sein, die Gewichtung dieser drei Kriterien im speziellen Fall zu bewerten. Hier sind neben medizinischen Fachbereichen auch Sozialarbeiter und Psychologen gefordert. Daran orientiert sich dann die Therapie, und es können entsprechende Schwerpunkte gesetzt werden. Der interdisziplinäre Ansatz der Schmerztherapie hat hierin seine Begründung.

    Ein schwieriges Elternhaus kann die soziale Dimension des Schmerzes durch schlechte Betreuung oder Vernachlässigung des Kindes bedingen, zugleich aber auch eine psychische Belastung darstellen. Rheumaschmerz kann neben seiner biologischen Grundlage, die meist einer medikamentösen und physio- und ergotherapeutischen Therapie bedarf, auch eine soziale Dimension bekommen, z. B. weil das Kind nicht mit Anderen Sport treiben kann. Das wiederum kann zu einer psychischen Belastung werden, weil es sich als Außenseiter fühlt.

    Entsprechend müssen in die Behandlung von akuten und chronischen Schmerzen bei Kindern alle speziellen Fachrichtungen, die die verschiedenen Dimensionen des Schmerzes abdecken können, eingebunden werden.25 Die Pflege als kontinuierlicher Begleiter des Patienten ist hier zuerst gefordert. Pflegepersonen sind dem Patienten am nächsten und können deshalb das Verhalten von Kindern und deren Verhaltensänderungen am besten mitverfolgen und dadurch auch einschätzen. Bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern bis zum Alter von 4 Jahren sowie bei Kindern und Jugendlichen, die an einer mentalen Retardierung leiden, sind die Personen, die sie tagtäglich begleiten, wichtige Informanten bezüglich der Kommunikationsweise von Unbehagen und Schmerz. Dazu zählen in erster Linie die Eltern, aber auch externe Betreuer, die viel Zeit mit dem Kind verbringen.

    Inzwischen besinnt man sich immer mehr auf das große Repertoire an nicht medikamentösen Maßnahmen zur Linderung der Schmerzsituation. Eine einfühlsame Kontaktaufnahme und Kommunikation schafft Vertrauen und gibt Sicherheit. Zur Ablenkung können kindgerechte Gespräche, aber auch Videos oder Computeranimationen und -spiele hilfreich sein. Lagerung, Umschläge, Wärme- und Kälteanwendungen, Bewegungstherapie, Lagerungsbehelfe, Stabilisierungsschienen können Schmerzen erleichtern. Besonders bei chronischen Schmerzzuständen ist eine begleitende Physio- und Ergotherapie von großer Wichtigkeit, um schmerzbedingte Bewegungsdefizite auszugleichen. Psychotherapeutische Begleitung ist oft unumgänglich.

    Früh- und Neugeborene profitieren zur Schmerzreduktion von allen jenen Dingen, die jede Mutter ohne medizinische Vorbildung durchführt: Stillen, in den Arm nehmen, warm einwickeln, Hautkontakt, beruhigender Zuspruch. Hochprozentige orale Zuckerlösungen (20 – 30%) haben erwiesenermaßen einen schmerzreduzierenden Effekt für Punktionen zur Blutabnahme, aber auch für Absaugmanöver bei längerer Beatmung auf Intensivstationen.26

    Auch alternative Therapieformen (Akupunktur, Akupressur, Traditionelle Chinesische Medizin u. a.) können zur Schmerztherapie angewendet werden.

    Im Falle akuter Schmerzzustände ist natürlich die medikamentöse Schmerztherapie Mittel der Wahl. Dazu zählt der postoperative Schmerz und jede akute Exazerbation, die das Kind so sehr beeinträchtigt, dass die akut belastende Situation unterbrochen werden muss. Für die systemische Schmerztherapie steht eine Vielzahl an Medikamenten zur Verfügung, die zwar häufig nicht für Kinder zugelassen sind, deren Anwendung jedoch als „good clinical practice“ den Früh- und Neugeborenen und Kindern nicht vorenthalten werden darf. Sie nicht zu verwenden widerspricht der ärztlichen Fürsorge- und Sorgfaltspflicht.27 Eine genaue Kenntnis der pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Besonderheiten in den verschiedenen Altersgruppen sowie auch das Wissen um Dosierungen, Dosierungsintervalle und spezifische Nebenwirkungen sind allerdings unumgänglich. Unter diesen Voraussetzungen ist auch die Gabe von Opiaten in allen Altersgruppen möglich und sinnvoll.28 Auch eine Reihe von rückenmarknahen und peripher regionalanästhesiologischen Verfahren steht für die Schmerztherapie von Kindern aller Altersstufen zur Verfügung.29 Sowohl in der Systemischen Schmerztherapie wie auch bei regionalanästhesiologischen Verfahren ist die Anwendung von Schmerzpumpen im Sinne einer Patient Controlled Analgesia (PCA) ein großer Fortschritt in der kindlichen Schmerztherapie.

    Schmerztherapie muss letztendlich ergebnisorientiert sein. Dazu bedarf es der Überprüfung der Schmerztherapie und ihrer Wirksamkeit. Das Erstellen von Behandlungsleitlinien allein führt zu keiner Verbesserung der Schmerztherapie. Erst aus der Evaluierung des Erfolges oder Misserfolges der durchgeführten Therapie können Fortschritte erzielt werden. Das weitere Vorgehen, das sich im Weiterführen der bestehenden Therapie, in deren Anpassung oder auch in der Beendigung derselben niederschlagen kann, wird sich an den Ergebnissen der durchgeführten Therapie orientieren.

    Schmerztherapie kann – wie jede andere medizinische Behandlung – Komplikationen verursachen, wenn auch sehr selten. Dieses Risiko mit den Behandelnden zu teilen, ist eine ethische Anforderung an die Eltern. Juridische und mediale Anklagen können dazu führen, dass schmerztherapeutische Maßnahmen nicht in adäquatem Ausmaß angewendet werden. Die Leidtragenden sind die Patienten, in diesem Fall die Kinder, die den Schmerz und die daraus resultierenden Nebenwirkungen zu ertragen haben.

    Negative Erfahrungen – und da gehört erlebter Schmerz dazu – tragen wir ein Leben lang mit. Kinder tragen diese Schmerzerfahrung über eine besonders lange Lebenszeit mit sich. Schmerz ist dabei meist nur Teil einer schwierigen Situation. Im Umgang mit Patienten und besonders mit jungen Patienten muss es unser Ziel sein, diese Gesamtbelastung möglichst gering zu halten. Schmerztherapie ist in diesem Sinn zumindest eine Teilentlastung, die den Weg unserer kleinsten, kleinen und jugendlichen Patienten erleichtern soll. Obwohl dem Schmerz als ernst zu nehmendes Symptom im Kindesalter in den letzten Jahren vermehrt Bedeutung beigemessen wird, ist es notwendig, das Thema weiterhin und verstärkt in das Bewusstsein all jener zu rücken, die Kinder betreuen und begleiten.30

    Wenn wir auch keine Schmerzfreiheit versprechen können, so muss es doch Anliegen aller sein, unseren Kindern ein möglichst schmerzfreies und unbeschwertes Leben als Grundlage für ein gutes Heranwachsen zu ermöglichen.

    Referenzen

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    Anschrift der Autorin:

    OA Dr. Christiana Justin
    Universitätsklinik für Anästhesiologie und
    Intensivmedizin
    Abteilung für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie
    Bereich Kinderanästhesie
    Medizinische Universität Graz
    Auenbruggerplatz 29, A-8036 Graz
    christiana.justin(at)medunigraz.at

    Institut für Medizinische
    Anthropologie und Bioethik
    Unterstützt von: