Public Health: Suizide und Wirtschaftskrise
Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist der Suizid eines der großen Probleme unserer Zeit. In den letzten 45 Jahren sind die Suizidraten (d. h. Selbsttötung im Verhältnis zur Bevölkerung) um 60% gestiegen,1 was ein alarmierendes Zeichen für die Verschlechterung der psychischen Gesundheit der Weltbevölkerung ist. Suizid trägt derzeit mit 1,5% zu den weltweiten Todesfällen bei und ist damit die zehnthäufigste Todesursache und die dritthäufigste unter den Menschen zwischen 15 und 44 Jahren: Fundierten Schätzungen nach sterben demnach jährlich rund eine Million Menschen durch Selbsttötung.
Diese Zahlen können niemand kalt lassen. Jeder Selbstmord stellt eine fürchterliche Tragödie dar. Für den, der ihn begeht, geht der Tat eine harte, höllische Zeit voraus. Die Bezeichnung „Freitod“ ist nicht mehr als ein zynischer Euphemismus, der Wesen und Sinn der Freiheit völlig verkennt. In Wirklichkeit ist der Suizid die Folge eines hoffnungslosen Nicht-Mehr-Könnens und ein sich endgültig und unwiderrufliches Aufgeben. Für das Umfeld ist die Zeit vor und nach der Tat ebenfalls eine ganz schlimme Tragödie. Der Schock hinterlässt Monate und manchmal das ganze Leben lang eine bedrückende Spur.
Die WHO hat das Thema Suizid auf ihre Agenda genommen und vertritt den Standpunkt, dass eine wirksame Prävention möglich ist. Seit Jahren hat sie große Programme zur weltweiten Sensibilisierung gestartet. Eng verbunden mit der WHO veranstaltet seit Jahren die International Association for Suicide Prävention (IASP) am 10. September jedes Jahres den World Suicide Prevention Day und jedes zweite Jahr einen Kongress zu diesen Thema. Der Welttag 2009 stand unter dem Motto „Suizidprävention in verschiedenen Kulturen“.
Für die relativ neue sozialmedizinische Disziplin Public Health ist der Suizid einer ihrer wichtigsten Forschungsgegenstände. Allerdings kann die Medizin, wenn man von der Psychiatrie absieht, nur wenig dazu beitragen, um diese Tragödien zu verhindern. Die Prävention der Selbsttötung erfordert einen interdisziplinären Ansatz, in dem Psychologie, Anthropologie, Soziologie, Statistik und Medizin zusammenwirken. Um diese Zusammenarbeit ist Public Health nun sehr bemüht.
Auch medizinische Journals nehmen sich zunehmend des Themas an. Erst im April 2009 brachte The Lancet einen Übersichtsartikel über die Ausbreitung, Risikogruppen und mögliche Präventionsstrategien gegen Selbstmord.2 In der letzten Ausgabe von Imago Hominis wurde kritisch darüber berichtet. Die Studie listet zwar eine Vielzahl von Faktoren auf, die das Suizidrisiko anheben – darunter männliches Geschlecht, frühere Selbstverletzungen, psychiatrische Störungen und/oder Alkohol-/Medikamentenmissbrauch, körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch in der Kindheit, Selbstmorddarstellungen in den Medien und Rauchen. Aber auf tiefer liegende Ursachen, die für Präventionsstrategien ausschlaggebend sein sollten, geht die Studie erstaunlicherweise nicht ein. Die Wurzeln der Entscheidung, der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, müssen doch viel tiefer liegen. Leben bedeutet immer den Versuch, sinnvoll zu leben. Menschen, die sich geliebt, gebraucht und angenommen wissen oder auch Vergebung bei eingestandener Schuld – etwa bei Beziehungs- und Ehekrisen – erfahren, begehen keinen Selbstmord. Die hohen Selbstmordraten sind mitunter eine Folge der Entsolidarisierung, Fragmentierung und der Atomisierungstendenzen in der Gesellschaft quer durch alle Strukturen, leider auch ganz besonders in den Familien. Eine wirksame Prävention müsste diese Mängel und Strategien miteinbeziehen. Es wäre sehr sinnvoll, bei der Familienpolitik nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Familie der erste Faktor bei der Sinngebung der einzelnen Menschen ist.
Ein Risikofaktor für Suizidalverhalten ist die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenzbasis und der damit verbundene Verlust des gesellschaftlichen Ansehens eines Menschen und seiner Familie. Man könnte somit annehmen, dass in Zeiten von Wirtschaftskrisen das Risiko besonders hoch sein kann. Die WHO hatte vor diesem Effekt bereits Ende 2008 gewarnt. Ende Juli 2009 veröffentlichte The Lancet eine Studie über den Einfluss der Wirtschaftskrise auf die Gesundheit,3 die angesichts der jetzigen Krise große Aktualität besitzt. Die Autoren haben in der Korrelationsanalyse von Wirtschafts- und Gesundheitsindikatoren unter anderem die Entwicklung der Suizidzahlen als Indikator für die psychologische Gesundheit genommen. Die Ergebnisse sind bedrückend: Mit jedem Prozent mehr an Arbeitslosigkeit steigt die Zahl von Selbstmorden – übrigens auch jene von Morden – an. Die Daten stammen aus den gegenwärtig 26 EU-Staaten über den Zeitraum von 37 Jahren, nämlich zwischen 1970 und 2007. Es zeigte sich, dass sich mit jedem Anstieg der Arbeitslosigkeit um 1% die Selbstmord-rate von den unter 65-Jährigen um 0,8% erhöhte, was für den gesamten EU-Raum bis zu 500 Suizide pro Jahr bedeutet. Der Effekt der Arbeitslosigkeit wird dramatischer, wenn sie um mehr als 3% steigt. Die Selbstmordanzahl erhöhte sich in diesen Fällen um 4,5%, statistisch hochgerechnet bedeutet dies im Untersuchungszeitraum durchschnittlich 3.000 Selbstmorde mehr pro Jahr.
Natürlich gibt es auch andere Indikatoren, die auf einen schweren Einfluss der Wirtschaftslage auf die Gesundheit hinweisen: Die Korrelationsanalyse ergab zum Beispiel auch, dass, wenn die Arbeitslosigkeit mehr als 3% stieg, sich die Anzahl der Todesfälle wegen Alkoholmissbrauch um 28% und wegen Diabetes um 6% erhöhte.
Die Studie bringt aber auch Ergebnisse, die positiv verwertbar sein könnten. Finnland und Schweden gelang es den Autoren zufolge, die Mord- und Selbstmordraten von der Arbeitslosenstatistik zu entkoppeln. In Finnland stieg zwischen 1990 und 1993 die Arbeitslosigkeit von 3,3% auf 16,6% und in Schweden zwischen 1991 und 1992 von 2,1% auf 5,7%. In beiden Fällen sank die Selbstmordrate kontinuierlich. Nach Ansicht der Autoren könnten die Abweichungen in beiden Ländern gegenüber dem gesamteuropäischen Trend auf die Sozialunterstützungen Finnlands und Schwedens im Rahmen ihrer jeweiligen Arbeitsmarktprogramme zurückgehen. Eine Langzeitstudie von Vuori und Silvonen bezüglich der Arbeitsmarktpolitik in Finnland zeigte einen sehr positiven Effekt.4 Allerdings müsste man die Zahlen eingehender analysieren, bevor man daraus allgemeingültige Schlussfolgerungen für eine präventive Strategie ziehen kann. Ein erster Blick auf die Suizidstatistik Finnlands5 lässt erkennen, dass die Suizidrate 1990 erstaunlicherweise sprungartig angestiegen ist (auf 30 je 100.000), wobei sie in den Jahrzehnten 1980/90 stabil bei rund 23 lag. Ab 1990 sank die Rate wieder allmählich und erst im Jahr 2000 kam sie auf das Niveau der 80er-Jahre zurück. Um die Schlussfolgerung der Autoren bestätigen zu können, müsste man die Gründe dieser Entwicklungen näher beleuchten. Es könnten auch verschiedene Effekte, die sich einander aufheben, zusammengewirkt haben. Eine eindeutige Aussage aufgrund der vorhandenen Datenlage ist deshalb nur schwer zu treffen. Auch in Schweden6 scheint der statistische Verlauf der Suizidrate nicht ganz die Schlussfolgerung der Autoren zu bestätigen, denn die Raten sinken seit den 80er-Jahren kontinuierlich. Richtig ist aber, dass dieser Trend nicht durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit unterbrochen wurde, was die These der Autoren für Schweden eher zu bestätigen scheint.
Diese und ähnliche Studien sowie die Bemühungen der WHO und der IASP zeigen, welche Anstrengungen im Gange sind, neue sozial- und arbeitsmarktpolitische Instrumente der kurzfristigen Prävention herauszufinden, die dem gesundheitsschädlichen Effekten durch Wirtschaftsschwankungen entgegensteuern könnten. Langfristig aber wird die psychische Gesundheit vor allem dadurch gefördert, dass man die Faktoren von Entsolidarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft auf allen Ebenen, vor allem aber in der Familie, einbremst. Für langfristige Programme fehlen allerdings in den nationalen wie auch internationalen politischen Instanzen konkrete, durchschlagende Konzepte.
Referenzen
- http://www.who.int/mental_health/prevention/suicide/suicideprevent/en/index.html
- Hawton K., van Heeringen K., Suicide, Lancet (2009); 373: 1372-1381
- Stuckler D. et al., The public health eff ect of economic crises and alternative policy responses in Europe: an empirical analysis, Lancet (2009); 374: 315-323
- Vuori J., Silvonen J., The benefits of a preventive job search program on re-employment and mental health at 2-year follow-up, J Occup Organ Psychol (2005); 78: 43-52
- http://www.who.int/mental_health/media/finl.pdf
- http://www.who.int/mental_health/media/swed.pdf
Prof. Dr. Enrique H. Prat, IMABE
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