Editorial
Ethik ist viel mehr als das bloße Wissen über Gebote und Verbote. Sie ist die Kunst des richtigen Handelns und des Gelingens des Lebens. Eine Kunst, die nicht nur für die Mächtigen und Reichen, sondern auch besonders für die Schwachen, Kranken und Betagten notwendig ist. Wenn man beachtet, dass nach der WHO-Gesundheitsdefinition alle Menschen praktisch immer krank sind (weil nicht auf allen Ebenen ihres Lebens „gesund“) und dass sie selbst nach einer realistisch-ausgewogeneren Definition immer wieder krank werden, ist es wichtig zu klären, worin die Ethik des Patienten besteht.
Das in der hippokratischen Tradition stehende fürsorgliche Ethos des Arztes verpflichtet diesen zur Bereitschaft, die ganze Verantwortung für die Gesundheit des Patienten zu übernehmen. Das Ziel ist klar vorgegeben: heilen, lindern und trösten. In dieser Tradition war die Ethik des Patienten kaum ein Thema.
Die moderne medizinische Ethik stellt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in den Vordergrund und will damit die klassische Maxime „salus aegroti suprema lex“ in „voluntas aegroti suprema lex“ umwandeln. Nicht mehr die Gesundheit, sondern der Wille des Patienten soll im Vordergrund des Arzt-Patient-Verhältnisses stehen. Wenn der Patient in dieser Konstellation Verantwortung übernimmt, braucht er die Kunst des richtigen Entscheidens, die Ethik.
Doch die Bioethik, Rädelsführerin der modernen medizinischen Ethik, beschäftigt sich bis jetzt kaum mit Pflichten und Tugenden des Patienten. Sie verpflichtet den Arzt zum Autonomieprinzip – das Hauptprinzip der Bioethik – und damit zum Respekt des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Das ist natürlich auch richtig so. Aber damit gibt sie nur der einen Seite des Behandlungsvertrags, dem Arzt, konkrete Anleitungen, nicht aber dem Patienten.
Hat aber die hippokratische Ethik die Autonomie zu wenig beachtet? Das corpus hippocraticum ist ganz besonders von der Achtung der Menschenwürde geprägt. Die Menschenwürde basiert auf der Freiheit des Menschen und seiner Autonomie, die nichts anderes ist als die Fähigkeit der Person, sich für das Gute zu entscheiden oder, nach Kant, die Selbstgesetzgebung der Vernunft. Die in der hippokratischen Tradition stehende medizinische Ethik ist eine Ethik von Ärzten für Ärzte. Sie ist eine Ethik der ersten Person, in der sich der Arzt selbst vor der konkreten Situation in der ersten Person die Frage stellt, was er tun soll. Sie ist also auch eine Tugendethik.
Die Bioethik hat sich immer mehr zu einer Ethik von Philosophen und Juristen entwickelt, für Ärzte, die sich die Frage stellen, was er, der Arzt, zu tun habe. Sie ist also eine Ethik der dritten Person, die immer mehr die Nähe zur realen Situation verliert. Deshalb ist es im Mainstream der Bioethik in seiner weiteren Entwicklung zu einem überzogenen Verständnis von Autonomie gekommen, zu einer radikalen Autonomie, die denjenigen, mit dem man sie beglückt, ziemlich überfordert. Über das Autonomieprinzip aus der Perspektive des Patienten schreibe ich in dieser Ausgabe von Imago Hominis, die dem Thema „Ethik des Patienten“ gewidmet wird, und versuche die in der Verfasstheit des Menschen liegenden Grenzen der Selbstbestimmung zu erläutern. Das Problem der Autonomie in Zusammenhang mit der eigenen Leiblichkeit erläutert Susanne Kummer anhand des gegenwärtigen Körperkults und dem Menschenbild der Postmoderne. Eine Ethik des Patienten muss sich auf eine humane Anthropologie stützen, die den Menschen als Person in seiner leib-seelischen Ganzheit neu in den Blick nimmt. Bioethik darf nicht auf die Tugendethik verzichten, wenn sie eine praktische Wissenschaft sein soll, die Handlungsanleitung vermittelt. Friedrich Kummer skizziert deshalb eine Tugendethik für den Patienten. Vor drei Jahren wurde das Patientenverfügungsgesetzes in Österreich eingeführt. Michael Peintinger, der als Experte maßgeblich am Entstehen dieses Gesetzes mitgewirkt hat, zieht eine erste Bilanz, inwiefern durch dieses Gesetz das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gestärkt wurde.
E. H. Prat