Editorial

Imago Hominis (2009); 16(3): 183-185
Friedrich Kummer

Alles, was unser Leben angenehm machen kann, ist janusköpfig: Einerseits gibt es unbestreitbar eine hohe Kultur des Genussmittelgebrauchs, andrerseits die ständig präsente Gefahr des Missbrauchs. So steht auch hier der Mensch als Genießender im Gravitationsfeld der Abhängigkeit, dem er mit Klugheit, Erziehung, Verantwortung – also mit Kultur – begegnen muss.

Kultur ist nicht zu trennen von Gesellschaft, die kulturelle nicht von der sozialen Entwicklung. Bei Problemen in der Sozialstruktur eines Volkes droht gewöhnlich in vielen Bereichen auch ein Trend zu Unkultur, so auch beim Alkoholkonsum. Da helfen Verbote (Prohibition in den USA der 1930er-Jahre oder exzessive Alkoholsteuern wie in der UdSSR unter Gorbatschow) nur vorübergehend, um danach von einer überproportionalen Aggravierung des Problems abgelöst zu werden. Zudem führt die Illegalität des Alkoholkonsums zum Anstieg der Kriminalität und die Verteuerung zum Ausweichen auf private Destillate, Kölnischwasser und alkoholische Industriestoffe mit hoher Toxizität. Diese Praktiken der Alkoholbeschaffung führen in anderen, nicht so fernen Ländern zu sozialen Katastrophen, wie dies den jüngsten Berichten aus den GUS-Ländern zu entnehmen ist (vgl. in dieser Ausgabe: „Die Bürde der Alkoholschäden in der Welt – Was liegt vor? Was ist zu tun?“, S. 192). Dort ist es bereits zu einer signifikanten Abnahme der Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung im landesweiten Durchschnitt gekommen, bedingt durch die hohe Fraktion der Alkoholtoten.

Die vorliegende Ausgabe von Imago Hominis möchte mit ihren Beiträgen den Bogen spannen von der – ethisch neutralen bzw. vertretbaren – Kultur des Alkoholgenusses zur Alkoholabhängigkeit.

Wie fließend die Grenzen sind, wird aus dem Beitrag von Gisela und Helmut Seitz („Anthropologie des Alkoholkonsums – wo liegt die Grenze zwischen maßvollem Genuss, Missbrauch und Sucht?“) ersichtlich, die eine kurze Kulturgeschichte des Alkoholgenusses und -missbrauchs behandeln. Sie gipfelt in einer klar formulierten Warnung vor einer zu rosigen Sicht des „biederen“ Alkoholkonsums.

Giovanni DeGaetano und sein Team („Alcohol Consumption and Health“) haben umfangreiche epidemiologische Untersuchungen und Metaanalysen vorzuweisen, die den U-förmigen Effekt der Alkoholdosis in der Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen nachhaltig bestätigen (moderater Konsum besser als Nullkonsum und übermäßiger Konsum). Dennoch verweisen sie auf die Gefahren, die jeglichem Alkoholkonsum anhaften, und dass es offen bleiben müsse, ob die statistisch gesicherten Daten für eine Empfehlung des Weinkonsums zur Primärprävention von Herzinfarkten und Schlaganfällen ausreichen.

Für Otto Lesch („Die Diagnose Abhängigkeit – Eine Krankheit?“) ist die Alkoholabhängigkeit eine Krankheit, klassifiziert unter ICD-10, charakterisiert durch klinisch relevante Typen, die eine konkrete Basis für die Strategie der Therapie bilden, einschließlich der differenzierten (Wieder-)Erweckung von Verantwortlichkeit gegenüber sich selbst und der Umwelt.

Alfred Uhl („Probleme der Terminologie und der Definitionen in der Suchtforschung“) gibt seiner Sorge Ausdruck, dass in wissenschaftlichen Publikationen zu wenig Sorgsamkeit in der Zitierung der Literatur walte, sodass aus reiner Bequemlichkeit (Unterlassen des Selbstlesens) irrige Schlüsse und verwirrende Definitionen resultieren, was er am Beispiel der Literatur über verschiedene Formen des Alkoholismus belegt.

Ist der Weg in die Abhängigkeit eine Einbahn? Wird die/der Gefährdete fortgespült in einem „river of no return“? Dagegen spricht eigentlich die doch erkleckliche Zahl von Dauergeheilten, aber auch der unterschiedlich schweren Rezidive nach oft langen Remissionen (siehe auch hier die Typologie nach Lesch; „Die Diagnose Abhängigkeit – Eine Krankheit?“). Auch scheint das Einstiegsalter in der Adoleszenz (wie auch bei anderen Suchtformen) eine große Rolle zu spielen, ebenso das Vorhandensein von Co-Morbiditäten wie unter anderem affektive Störungen und Nikotinabhängigkeit – wobei nicht ganz klar ist, ob diese dem Alkoholismus vorangehen oder durch diesen verstärkt werden. Jedenfalls gilt es mittlerweile in Fachkreisen als Kunstfehler, würde man beim Management von Alkoholkranken den Faktor der Co-Morbiditäten außer Acht lassen.

Neben der Co-Morbidität steht die Co-Abhängigkeit als ein völlig anderes Phänomen. Sie hat die unmittelbare, mitleidende, mitunter auch Schaden stiftende Umgebung eines Alkoholkranken im Auge. So müssen mögliche Einflüsse von der Seite der Angehörigen, Freunde etc. miterfasst und in der therapeutischen Strategie berücksichtigt werden.

Die Suchtkrankheit wird mitunter als „Krebs der Seele“ bezeichnet: Sie wuchert wie ein Tumor lange Zeit im Verborgenen und tritt erst im unheilbaren Stadium zu Tage. Ähnlich wird von der Sucht allmählich die Psyche „infiltriert“ und hält schließlich auch die Seele fest im Griff. Selbst bei Ansprechen auf eine Therapie bleibt die Angst vor dem Rezidiv. Dennoch besteht wohl ein Unterschied in der Schicksalhaftigkeit des somatischen Tumorleidens, dem durch Aufklärung, Früherkennung und Identifikation von Risikogruppen begegnet wird. Analoge Methoden in der Suchtprävention haben sich hingegen als problematisch erwiesen: Aufklärungskampagnen in Schulen und eine ständige Präsenz der Warnungen in allen Medien (Plakatwänden etc.) können erst recht das Interesse wecken und das Einstiegsalter drücken, wie leidvolle Erfahrungen gezeigt haben.

Für die Prävention steht wahrscheinlich das gute Beispiel an der Spitze, gegeben von lockeren, „coolen Typen“ (innerhalb der Familie, in Jugendgruppen, unter Lehrern etc.), die wertvolle Identifikationsobjekte abgeben und die – so wie bei der Raucherprävention – ein positiv gefärbtes Image „’rüberbringen“. Solche Leute in großer Zahl und hoher Qualität auszubilden wäre als langfristiger Ansatz für die Alkoholprävention überaus wünschenswert.

F. Kummer

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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