Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2016); 23(2/3): 139-148
Friedrich Kummer

Bei der Beurteilung dieses Falles ist es zunächst angebracht, die Dringlichkeit einer Behandlung anzusprechen. Diese wird im Wesentlichen bestimmt durch die Faktoren „Zeitdruck“ und „Leidensdruck“. Zeitdruck (bei Schock, Blutung, Hirndruck etc.) steht dem Leidensdruck gegenüber (Schmerzen, Atemnot, Koma etc.). Aus der Kombination und Wechselwirkung dieser Faktoren leitet sich die Priorisierung – im Extremfall: Triage – ab (frei nach Schmitz-Luhn und Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, Springer 2013).

Die Pathographie dieser 74-jährigen Frau basiert auf den Erinnerungen der Betroffenen selbst bzw. der ihr Nahestehenden – was nicht immer die objektive Beurteilung der Ereignisse erleichtert. Gespräche können überspitzt tradiert werden, wichtige Gespräche und Befunde unvollständig zitiert werden. Diese Mechanismen klingen in dem Bericht an, wenn auch teilweise verschlüsselt. Es kann z. B. bei der Zitierung wichtiger Befunde schwerlich von „nicht erwähnt“ auf „nicht vorhanden“ geschlossen werden. Daher orientiert sich diese Diskussion an einer von Laien vermittelten Darstellung – eine nicht unwesentliche Relativierung der Beurteilung.

Jedenfalls entwickelte diese 74-jährige Patientin im Dezember in relativ kurzer Zeit Schmerzen vorwiegend im rechten Bein, wobei sich relativ bald „Lähmungserscheinungen“ hinzugesellen.

Die Reaktionsweise des ersten Orthopäden, der zu Rate gezogen wird, ist – gemäß der Darstellung der Angehörigen – im höchsten Maße inadäquat: Schon allein die Zumutung, die (Kassen-)Patientin in ein privates Belegspital aufzunehmen, verrät ein Manko an Feinfühligkeit.

Die Gewichtung der Symptomatik (Schmerzen, Parese?) sind ihm kein wirkliches Anliegen, die Erfassung der Reflexe, des Gangbildes, der Hautsensibilität (in der Ordination) und die Veranlassung einer Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) wären schnell verfügbar und könnten wesentlich zur Abwägung der Dringlichkeit des Falles beitragen. Stattdessen wird eine Magnet-Resonanz (MRT) „in einigen Wochen“ ins Auge gefasst.

An dieser Stelle ist zu vermerken, dass für (erwiesene) Notfälle die Termine der Dringlichkeit entsprechend vergeben werden, unabhängig von einer Zusatzversicherung!

Das heißt für unsere Patientin: Nur wenn die besagten, gut verfügbaren Tests tatsächlich durchgeführt wurden und „ohne Befund“ verlaufen sind, könnte man ein so zögerliches Vorgehen (verschleppte Diagnostik über mehrere Wochen) nachvollziehen. Wenn aber eine Parese erwiesen ist, so sollten Ärzte gelernt haben, dass dann „die Sonne nicht unter- bzw. aufgehen“ darf, bevor eine Intervention (also innerhalb von 12 Stunden) erfolgen muss, um bleibende Lähmungen zu verhindern.

So aber werden die Angehörigen aktiv und gewinnen eine Orthopädin, die in einem Ordensspital eine MRT veranlassen kann. Jetzt gibt es erstmals einen Hinweis auf die Art der Krankheit, nämlich auf „Vertebrostenose“ – eine Verengung des Kanals in Lendenwirbelsäule und Kreuzbein, in welchem aufgefaserte Nervenstränge (Pferdeschwanz oder Cauda equina) das Rückenmark fortsetzen und nach ihrem seitlichen Austreten die wichtigen Nervenstränge – u. a. den Ischiadicus – bilden. Die Therapie besteht in einer chirurgischen Erweiterung des verengten Kanals, um die Nervenfasern zu entlasten. Die Operation schafft in der Regel Linderung der Beschwerden, ohne aber eine komplette Restitution erreichen zu können.

Mit dieser Hoffnung beginnt die nächste Phase des Leidensweges der Patientin:

Das Spital muss wegen Personal- und Bettenmangel (Weihnachten) die Station schließen, doch kann die Patientin auf einer renommierten Neurochirurgie aufgenommen werden. Aber dort holt sie das Problem der „Heiligen Zeit“ wieder ein: Der bereits fixierte OP-Termin wird kurzfristig abgesagt: Ein Eingriff hat unvorhersehbar viel Zeit gebraucht, ein Anästhesist muss nach Hause gehen (Arbeitszeitgesetz!), worauf das ganze OP-Programm über Tage „ins Schleudern gerät“ – und unsere Patientin bleibt wieder einmal über.

Das logistische Problem ist bekannt: Es könnte das, was heute nicht geht, auf morgen verschoben werden und das morgige Programm teilweise auf übermorgen etc. (horizontales Weiterwursteln). Oder aber: Was heute nicht mehr geht, wird auf unbestimmte Zeit verschoben, um das morgige Programm nicht zu gefährden – es sei denn, es besteht Dringlichkeit oder – eine „Sonderklasse“.

Jetzt begibt sich die Familie auf „paralegale“ Wege und mobilisiert ihre „Beziehungen“: Über einen Freund der Familie wird ein neurochirurgischer Oberarzt gewonnen, dem es gelingt, die Patientin doch in das gedrängte OP-Programm des folgenden Tages einzuschieben.

Der Erfolg des Eingriffs ist spürbar: Im postoperativen Rehabilitationsverfahren bessern sich die Lähmungserscheinungen, der günstige Heilungsverlauf scheint auch nach mehreren Monaten anzuhalten, wenngleich weit entfernt von Restitution.

Ende gut, alles gut? Gut ist vor allem, dass der Patientin doch geholfen werden konnte. Weniger gut ist die Verschleppung des Operationszeitpunktes, sodass bezüglich bleibender Defekte das letzte Wort nicht gesprochen ist. Weniger gut ist auch der (unausgesprochene) Verdacht, dass besagter Operateur den schnellen OP-Termin nur durch Postponierung anderer Patienten bekommen hat.

Das Resümee: Die Einbeziehung relativ einfacher und gut verfügbarer Untersuchungen (grob-neurologischer Status, NLG) hätte wohl genügend Hinweise für die Dringlichkeit des Eingriffes geliefert, der zur Entlastung der Nervenfasern führen sollte. Damit wäre jene Priorisierung gegeben gewesen, die sich über andere (weniger dringliche) OP-Termine und über die Honorarfrage hinwegsetzt. In unserem Lande ist dies zweifelsfrei geregelt: Für erwiesene Notfälle gibt es keine „Zweiklassen-Medizin“!

Dass die Patientin trotz Zunahme schwerwiegender neurologischer Defizite ungenügend als Notfall definiert wurde, geht – so wie die Dinge geschildert werden – auf die Kappe des Orthopäden bei der Initialvorstellung. Dass sich die Familie schließlich in gewisser Verzweiflung der fragwürdigen Methode von „Beziehungen“ bedient, sei ihr nachgesehen, zumal sie und die Patientin bis dahin auch nicht korrekt behandelt worden sind.

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Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer
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