Buchbesprechungen
Dem Gutes tun, der leidet. Hilfe kranker Menschen- interdisziplinär betrachtet
Arndt Büssing, Janusz Surzykiewicz, Zygmunt Zimowski (Hrsg.)
Springer Verlag, Berlin Heidelberg 2015
242 Seiten, 2 Tab., 9 Abb.
ISBN 978-3-662-44278-4
Wenn sich der „gute Samariter“ des Lukasevangeliums mit gediegenen Geistern der Gegenwart verbindet, kann Gehaltvolles zum Thema Leidenslinderung resultieren. So geschehen beim Eichstätt-Symposium im März 2013, einer Tagung zum „Welttag der Kranken“, die ein beachtliches Forum abgab für engagierte Fachleute, Universitätsprofessoren, Pflegepersonen und Geistliche, die sehr konsequent auf die Umsetzung der Botschaft aus dem Gleichnis Bedacht nahmen. Herausgeber sind Arndt Büssing, Professor für Lebensqualität an der Universität Witten- Herdecke, Janusz Surzykiewicz, Professor für Pastoraltheologie an der Katholischen Universität Eichstätt, und Zygmunt Zimowski, der im Juli 2016 verstorbene Bischof und Präsident des Päpstlichen Rates für die Pastoral im Krankendienst. Dementsprechend breit sind auch die Themen der 27 Beiträge gefächert. Sie reichen von den psychosozialen Bedürfnissen leidender Menschen bis zur Psycho-Onkologie, von der persönlichen Sicht des Leidens der Betroffenen wie der Ärzte, von der Rolle der Umgebung des Leidenden bis zu existenziellen Fragen der Spiritualität und der religiösen Begleitung. In Anlehnung an das zitierte Samariter-Gleichnis werden die handelnden Personen – der Leidende, der Samariter, der Wirt, aber auch der Gasthof – zu schlüssigen Metaphern für die Komplexität von Leiden, Pflege, Barmherzigkeit – und der Ökonomie, die Einbringung der erforderlichen finanziellen Mittel. Büssing legt gemeinsam mit Eckhard Frick (München) eine Analyse der spirituellen Bedürfnisse leidender Menschen vor. Er ordnet sie vier unter einander verbundenen Kerndimensionen zu: soziale Verbundenheit (psychosoziale Faktoren, Liebe) sowie Frieden, Lebenssinn und Transzendenz (spirituelle Ressourcen). In einer Studie 2013 zu diesem Thema hatte Büssing versucht, die Bedeutsamkeit von diversen Bedürfnissen von rund 400 (vorwiegend Schmerz-) Patienten mittels Fragebogen zu erfassen. Die semiquantitative Auswertung bestätigt im Großen und Ganzen, dass auch Areligiöse und Skeptiker umschriebene spirituelle Bedürfnisse artikulieren, und dass demnach „Spiritual Care“ als eine interdisziplinäre Aufgabe wahrgenommen werden müsse. Christian Zwingmann (Ev. Hochschule Rheinland- Westfalen-Lippe), der seit Jahren um die Kontaktflächen zwischen religiös-spiritueller Bildung und Psychotherapie bemüht ist, legt Daten von erstaunlich hohen Akzeptanzen von spirituell-religiösen Inhalten in der Bevölkerung vor, die in die Therapie Eingang finden. Diese Information basiert auf Befragungen von fränkischen Psychotherapeuten und auch Patienten. Für den Autor ist daher die „Religiositäts- Spiritualitätslücke“ wesentlich kleiner als angenommen. Er plädiert daher für eine „weltanschauliche Kompetenz“ der Therapeuten. Der Freiburger Theologe Eberhard Schockenhoff bemüht sich um die religiöse Deutung von Krankheit, ausgehend von Kol. 1,4, wo Paulus von der „Ergänzung der Leiden Christi“ durch sein eigenes Leiden spricht. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Deutschen Bundesärztekammer, sieht die Rolle des Arztes/Samariters erfrischend nüchtern zunächst als eine höchst unromantische Beistandspflicht, allemal verbrämt durch Barmherzigkeit. Damit sei der Arzt auch eine Schlüsselfigur für den sozialen Frieden: Er muss – so schwer ihm dies auch heute gemacht wird – die Rechte seiner Patienten hochhalten, u. a. das Recht auf Fürsorge und Zuwendung, Bewahrung der Vertraulichkeit und auf Solidarität von Seiten der Gesellschaft. Sehr gehaltvoll sind ferner die Beiträge, die von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Gottes- und Nächstenliebe handeln, wobei sich – auch im Gleichnis am Beispiel des Samariters – der Vorrang der konsequent handelnden Nächstenliebe herausstellt: keine Gottes- ohne Menschenliebe; so der Moraltheologe und Direktor des Ethik-Instituts an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar, Heribert Niederschlag. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx ist mit einem berührenden Beitrag vertreten. Auch bleibt es ihm vorbehalten, das Motto dieses Buches (Dem Gutes tun…) der Enzyklika „Salvifici doloris“ von Johannes Paul II. (1984) zuzuordnen. Der Kardinal verknüpft die Krankenseelsorge mit einer „Sehschule der Wahrnehmung“ des Leidens. Die Kirche sei aufgerufen, nach einem Wort von Papst Franziskus in „Evangelii gaudium“, an die Ränder der geographischen, ja menschlichen Existenz zu gehen. Am Samariter orientiert sich auch die Theologin und Leiterin des Seelsorgeamts im Bistum Erfurt Anne Rademacher, mit ihrem Modell der Salutogenese, das sich eng an Josef Ratzinger (1960) anlehnt: Das Heil ist Geschenk, ein Prozess, der im irdischen Alltag beginnt und sich im Himmel vollendet. Damit ist der Lebensinhalt des beruflichen Samariters umrissen, der aber aus lauter Nächstenliebe Gefahr läuft, auf die essenziell notwendige Selbstliebe zu vergessen. Mitherausgeber Janusz Surzykiewicz (Eichstätt) stellt eine eigene Studie zur Akzeptanz von religiös- spiritueller Unterstützung des Pflegepersonals von Demenzkranken vor. Es stellt sich heraus, dass bei der Begleitung selbst dieser problematischen Patientengruppe etwa 50% der Pflegepersonen mit spirituellen Bedürfnissen ihrer Pfleglinge konfrontiert wurden. Wie zu erwarten, spielte dabei die persönliche Glaubenshaltung der Pflegepersonen eine entscheidende Rolle. Fazit: Die Integration von religiös-spirituellen Elementen in die allgemeine Pflegekultur kann positive Effekte bringen. Im viel zitierten Gleichnis wird – neben dem Leidenden und dem Samariter – auch der Wirt thematisiert: Wer und was ist der „Wirt“ in der Spiritual Care? Dieser Gedanke wird in dem kurzen, originellen Beitrag des evangelischen Theologen Traugott Roser (Münster) angesprochen. Wie kann die caritas als kirchliche Domäne in das profane Gesundheitssystem integriert werden? Der katholische Priester Klaus Baumann und Experte für Christliche Sozialarbeit an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg meint dazu, der „Doppelcharakter“ sei klar formuliert: professionelle Kompetenz wird realisiert zusammen mit caritas. Der Ethiker Enrique Prat (IMABE, Wien) steuert ein Impulsreferat bei, welches die verschiedenen Perspektiven aufzeigt, mit denen Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen konfrontiert werden. Er beschreibt das vernetzte System der anthropologischen Basis mit der Public-Health-Politik, der praxisnahen Probleme bei der intrafamiliären Pflege (mit der Gefahr des Burn-Out) und der Rolle der Spiritualität zur Sinnfindung am Lebensende. Zusammenfassend sei die Feststellung erlaubt, dass dieses Buch in seinen Beiträgen eine geglückte Zusammenstellung aus Theorie und Praxis darstellt, wobei hochangesehene Theoretiker viel Sinn fürs Praktische offenbaren, und die Beiträge der Praktiker (Pflegepersonen) begehbare Brücken zur Theorie zu schlagen wissen. So werden Theorie und Praxis „interaktiv“ der Thematik gerecht. In den meisten Beiträgen wird dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter Tribut gezollt; dies und die erfreuliche Pluralität der Beiträge machen zum Gutteil den Charme dieses Eichstätter Produktes aus.
F. Kummer
Bei der Beurteilung dieses Falles ist es zunächst angebracht, die Dringlichkeit einer Behandlung anzusprechen. Diese wird im Wesentlichen bestimmt durch die Faktoren „Zeitdruck“ und „Leidensdruck“. Zeitdruck (bei Schock, Blutung, Hirndruck etc.) steht dem Leidensdruck gegenüber (Schmerzen, Atemnot, Koma etc.). Aus der Kombination und Wechselwirkung dieser Faktoren leitet sich die Priorisierung – im Extremfall: Triage – ab (frei nach Schmitz-Luhn und Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, Springer 2013).
Die Pathographie dieser 74-jährigen Frau basiert auf den Erinnerungen der Betroffenen selbst bzw. der ihr Nahestehenden – was nicht immer die objektive Beurteilung der Ereignisse erleichtert. Gespräche können überspitzt tradiert werden, wichtige Gespräche und Befunde unvollständig zitiert werden. Diese Mechanismen klingen in dem Bericht an, wenn auch teilweise verschlüsselt. Es kann z. B. bei der Zitierung wichtiger Befunde schwerlich von „nicht erwähnt“ auf „nicht vorhanden“ geschlossen werden. Daher orientiert sich diese Diskussion an einer von Laien vermittelten Darstellung – eine nicht unwesentliche Relativierung der Beurteilung.
Jedenfalls entwickelte diese 74-jährige Patientin im Dezember in relativ kurzer Zeit Schmerzen vorwiegend im rechten Bein, wobei sich relativ bald „Lähmungserscheinungen“ hinzugesellen.
Die Reaktionsweise des ersten Orthopäden, der zu Rate gezogen wird, ist – gemäß der Darstellung der Angehörigen – im höchsten Maße inadäquat: Schon allein die Zumutung, die (Kassen-)Patientin in ein privates Belegspital aufzunehmen, verrät ein Manko an Feinfühligkeit.
Die Gewichtung der Symptomatik (Schmerzen, Parese?) sind ihm kein wirkliches Anliegen, die Erfassung der Reflexe, des Gangbildes, der Hautsensibilität (in der Ordination) und die Veranlassung einer Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) wären schnell verfügbar und könnten wesentlich zur Abwägung der Dringlichkeit des Falles beitragen. Stattdessen wird eine Magnet-Resonanz (MRT) „in einigen Wochen“ ins Auge gefasst.
An dieser Stelle ist zu vermerken, dass für (erwiesene) Notfälle die Termine der Dringlichkeit entsprechend vergeben werden, unabhängig von einer Zusatzversicherung!
Das heißt für unsere Patientin: Nur wenn die besagten, gut verfügbaren Tests tatsächlich durchgeführt wurden und „ohne Befund“ verlaufen sind, könnte man ein so zögerliches Vorgehen (verschleppte Diagnostik über mehrere Wochen) nachvollziehen. Wenn aber eine Parese erwiesen ist, so sollten Ärzte gelernt haben, dass dann „die Sonne nicht unter- bzw. aufgehen“ darf, bevor eine Intervention (also innerhalb von 12 Stunden) erfolgen muss, um bleibende Lähmungen zu verhindern.
So aber werden die Angehörigen aktiv und gewinnen eine Orthopädin, die in einem Ordensspital eine MRT veranlassen kann. Jetzt gibt es erstmals einen Hinweis auf die Art der Krankheit, nämlich auf „Vertebrostenose“ – eine Verengung des Kanals in Lendenwirbelsäule und Kreuzbein, in welchem aufgefaserte Nervenstränge (Pferdeschwanz oder Cauda equina) das Rückenmark fortsetzen und nach ihrem seitlichen Austreten die wichtigen Nervenstränge – u. a. den Ischiadicus – bilden. Die Therapie besteht in einer chirurgischen Erweiterung des verengten Kanals, um die Nervenfasern zu entlasten. Die Operation schafft in der Regel Linderung der Beschwerden, ohne aber eine komplette Restitution erreichen zu können.
Mit dieser Hoffnung beginnt die nächste Phase des Leidensweges der Patientin:
Das Spital muss wegen Personal- und Bettenmangel (Weihnachten) die Station schließen, doch kann die Patientin auf einer renommierten Neurochirurgie aufgenommen werden. Aber dort holt sie das Problem der „Heiligen Zeit“ wieder ein: Der bereits fixierte OP-Termin wird kurzfristig abgesagt: Ein Eingriff hat unvorhersehbar viel Zeit gebraucht, ein Anästhesist muss nach Hause gehen (Arbeitszeitgesetz!), worauf das ganze OP-Programm über Tage „ins Schleudern gerät“ – und unsere Patientin bleibt wieder einmal über.
Das logistische Problem ist bekannt: Es könnte das, was heute nicht geht, auf morgen verschoben werden und das morgige Programm teilweise auf übermorgen etc. (horizontales Weiterwursteln). Oder aber: Was heute nicht mehr geht, wird auf unbestimmte Zeit verschoben, um das morgige Programm nicht zu gefährden – es sei denn, es besteht Dringlichkeit oder – eine „Sonderklasse“.
Jetzt begibt sich die Familie auf „paralegale“ Wege und mobilisiert ihre „Beziehungen“: Über einen Freund der Familie wird ein neurochirurgischer Oberarzt gewonnen, dem es gelingt, die Patientin doch in das gedrängte OP-Programm des folgenden Tages einzuschieben.
Der Erfolg des Eingriffs ist spürbar: Im postoperativen Rehabilitationsverfahren bessern sich die Lähmungserscheinungen, der günstige Heilungsverlauf scheint auch nach mehreren Monaten anzuhalten, wenngleich weit entfernt von Restitution.
Ende gut, alles gut? Gut ist vor allem, dass der Patientin doch geholfen werden konnte. Weniger gut ist die Verschleppung des Operationszeitpunktes, sodass bezüglich bleibender Defekte das letzte Wort nicht gesprochen ist. Weniger gut ist auch der (unausgesprochene) Verdacht, dass besagter Operateur den schnellen OP-Termin nur durch Postponierung anderer Patienten bekommen hat.
Das Resümee: Die Einbeziehung relativ einfacher und gut verfügbarer Untersuchungen (grob-neurologischer Status, NLG) hätte wohl genügend Hinweise für die Dringlichkeit des Eingriffes geliefert, der zur Entlastung der Nervenfasern führen sollte. Damit wäre jene Priorisierung gegeben gewesen, die sich über andere (weniger dringliche) OP-Termine und über die Honorarfrage hinwegsetzt. In unserem Lande ist dies zweifelsfrei geregelt: Für erwiesene Notfälle gibt es keine „Zweiklassen-Medizin“!
Dass die Patientin trotz Zunahme schwerwiegender neurologischer Defizite ungenügend als Notfall definiert wurde, geht – so wie die Dinge geschildert werden – auf die Kappe des Orthopäden bei der Initialvorstellung. Dass sich die Familie schließlich in gewisser Verzweiflung der fragwürdigen Methode von „Beziehungen“ bedient, sei ihr nachgesehen, zumal sie und die Patientin bis dahin auch nicht korrekt behandelt worden sind.
Für ein gutes Ende – Von der Kunst, Menschen in ihrem Sterben zu begleiten – Erfahrungen auf einer Palliativstation
Andreas S. Lübbe
Wilhelm Heyne Verlag, München (2014)
320 Seiten
ISBN 978-3-453-20074-60
Die professionelle Begleitung sterbender Menschen ist eine große Kunst. Eine Kunst, die ein Feingespür für den schwer kranken Menschen und seine Bedürfnisse voraussetzt. Eine Kunst, die erlernt werden muss und die über das reine Faktenwissen der evidenzbasierten Medizin hinausgeht. Andreas Lübbe und sein Team an der Palliativstation der Karl-Hansen-Klinik in Bad Lippspringe haben sich diese Kunst in vielen Jahren Erfahrung angeeignet. Im vorliegenden Buch verweben sich sein beruflicher Werdegang, anschauliche Details über Aufbau und Alltag der eigenen Palliativstation mit einem leidenschaftlichen und zugleich einfühlsamen Plädoyer für einen achtsamen und wertschätzenden Umgang mit dem schwer kranken Menschen. Dieser sei „ein Gradmesser für unsere Humanität; an ihm wird deutlich, welchen Stellenwert wir Menschen zumessen“ (S. 15). Allgemeine Grundsätze der Palliativmedizin werden anhand konkreter Patientengeschichten erläutert und bekommen dadurch ein individuelles Gesicht, eine erfahrbare Dimension, auch für jene Leser, die keinen professionellen Zugang zu der Thematik haben.
Das Buch erschien zu einem Zeitpunkt, als Deutschland eine intensive Diskussion rund um Sterbehilfe führte. Lübbe verwehrt sich darin gegen Etikettierungen mit Kategorien wie „lebenswert“ und „nicht mehr lebenswert“. Es darf „keine Beliebigkeit im Umgang mit einem so grundlegenden Wert wie der menschlichen Existenz“ geben. Weit über das rein fachlich-analytische Urteil hinaus (manchmal auch verbunden mit einem zweifelhaften Gefühl von „Mitleid“) gehört es zu einer menschlichen Medizin, dass der Patient selbst es ist, der Symptome bewertet und Prioritäten setzt, „dass nur die Betroffenen selbst festlegen können, was der Sinn des Lebens und was Lebensqualität ist.“ (S. 19). Die Erfahrung zeigt, dass dies ein Prozess ist, diese ganz individuelle Wahrnehmung kann sich im Verlauf einer Krankheit wandeln. Der Patient kann an der Krankheit reifen.
Dem Thema der Sterbehilfe werden einige wichtige Seiten gewidmet. Lübbe spricht hier deutliche Worte: „Zu den Grundüberzeugungen der Palliativmedizin gehört es, den natürlichen Krankheitsverlauf durch unsere Tätigkeit nicht zu beeinflussen, wenn die Krankheit selbst nicht mehr beseitigt werden kann. Mit anderen Worten, wir wollen den natürlichen Sterbeprozess nicht hinauszögern, aber auch nicht beschleunigen.“ (S. 119). Und: „Der ärztlich assistierte Suizid gehört nicht zu den ärztlichen Aufgaben“ (S. 122). Lübbe nimmt klar Stellung gegen Tötung auf Verlangen, aktive Sterbehilfe und assistierten Suizid. Dass sich komplexe Patientensituationen dabei nicht immer einfach nach der Devise „Palliativmedizin statt Sterbehilfe“ auflösen lassen, ist dem Autor mit seiner jahrelangen Erfahrung klar.
Lübbe geht in diesem Kontext auch auf das Thema der palliativen Sedierung ein und illustriert sie anhand zweier Patientengeschichten. Die Wahl der Patientenfälle überrascht ein wenig, zumal keiner der beiden die Situation eines therapierefraktären, also eines gezielt-medikamentös nicht mehr zu lindernden physischen Symptoms in der Terminalphase einer Erkrankung schildert. In beiden Fällen war es der unerträgliche psychische Leidensdruck, der zur Einleitung einer palliativen Sedierung führte. Der Einsatz von palliativer Sedierung bei der Behandlung von refraktären psychischen Symptomen und existenziellem Leiden ist mit besonderer Sorgfalt abzuwägen. Es ist schwer zu beurteilen, ob die Symptome wirklich refraktär sind, die Schwere des Leidens kann sehr dynamisch sein, konventionelle Behandlungsansätze weisen geringe Nebenwirkungen auf. Auch müssen die Symptome nicht unbedingt auf ein weit fortgeschrittenes Stadium der Erkrankung hinweisen. Beide Fallbeispiele lassen leider manche Details im Unklaren, zumindest werden sie dem Leser nicht klar zugänglich gemacht.
Der Kenner der EAPC-Leitlinie für den Einsatz sedierender Maßnahmen in der Palliativversorgung würde diese Situationen jedenfalls gerne mit dem Autor diskutieren. Zwar ist in beiden Fällen das Vorgehen auf Wunsch des Patienten gewählt, doch inwieweit die geschilderten Symptome therapierefraktär waren, kann der Leser nicht nachvollziehen. Auch scheint es sich dem Bericht zufolge in keinem der beiden Fälle sensu strictu um die Terminalphase der Erkrankung gehandelt zu haben. Eine kontinuierliche Sedierung sollte lediglich dann in Betracht gezogen werden, wenn sich der Patient in der allerletzten Lebensphase befindet mit einer erwarteten Prognose von Stunden, höchstens wenigen Tagen. In einem Fall wird von einer Lebenserwartung von noch einem Vierteljahr bzw. mehreren Monaten gesprochen. Zielsetzung der palliativen Sedierung war zwar in beiden geschilderten Fällen die Leidenslinderung und nicht die Beschleunigung des Todes, doch inkludierte sie in beiden Fällen die (vom Patienten gewünschte) fehlende Nahrungsaufnahme, die bei Bewusstsein aber prinzipiell möglich gewesen wäre. Es ist diese Entscheidung der Nahrungsverweigerung, die im Grunde differenzierter beurteilt und moralisch bewertet werden müsste. Die palliative Sedierung per se verkürzt vermutlich nicht das Leben des Menschen, die fehlende Nahrungsaufnahme aber doch. Es bleibt somit der Zweifel, ob mit dieser Vorgangsweise nicht an einer Entscheidung des Patienten zur vorzeitigen Beendigung seines Lebens durch Verweigerung der Nahrungsaufnahme mitgewirkt wird, indem ihm die Folgen dieser Entscheidung durch die palliative Sedierung tragbar gemacht wurden, zumal sich die generelle Einschätzung der Lebenserwartung noch im Bereich von Monaten bewegt hat. Kurzum: Es wäre hilfreich gewesen, wenn der Autor auch noch andere Fallbeispiele mit therapierefraktären physischen Symptomen in der Terminalphase einer Erkrankung gebracht hätte.
Die Palliativmedizin will Symptome behandeln, Beschwerden erleichtern, und dies nicht nur auf der körperlichen Ebene. „Gute palliativmedizinische Betreuung zielt auf alle diese Bereiche ab: die körperlichen Beschwerden, die geistigen Störungen und die seelischen Symptome. Aber sie berücksichtigt gleichermaßen die sozialen Bedürfnisse, die eine optimale persönliche Beziehungspflege genauso einschließen wie wirtschaftliche Belange und existenzielle und spirituelle Aspekte, also Religiosität und Fragen nach dem Sinn des Lebens“ (S. 70). Schwer kranke Menschen sollen auf einer Palliativstation einen sicheren Ankerplatz finden können, an dem es ihnen möglich ist, inne zu halten. Sie sollen die Gelegenheit haben, sich auf den Tod vorbereiten zu können. Der Palliativmediziner hofft mit seinen Patienten das Beste, aber er bereitet sich mit ihnen auch auf das Schlimmste vor. Die zahlreichen persönlichen Erzählungen in dem Buch zeichnen ein wunderbares Bild einer uneingeschränkten Hinwendung zum Menschen.
Eine Voraussetzung für eine gute Begleitung des schwer kranken, des sterbenden Menschen ist, dass alle in die Betreuung involvierten Berufsgruppen den Betroffenen gut kennen. Befindlichkeit und Wünsche können so in Bruchteilen von Sekunden erfasst und berücksichtigt werden. Nicht alles ist als Faktenwissen erlernbar, Leitlinien sind Orientierungshilfen. Vieles wächst aus Erfahrung, aus gereifter Menschenkenntnis, setzt Offenheit für eine echte Begegnung mit dem anderen voraus. „Denn Tausende Begegnungen mit Patienten, Tausende Blicke in die Augen von kranken Menschen und tausendmal der Abgleich neuer Eindrücke mit den bisherigen Erfahrungen, das Zusammenfügen der Sinneswahrnehmung mit gemessenen Werten, die Überprüfung der Behandlung durch die erzielten Ergebnisse – das alles macht gute Medizin aus“ (S. 230). Der Bewertung von Symptomen kommt hierbei eine wichtige Rolle zu. Prämisse dabei ist: Symptome werden ausschließlich vom Patienten wahrgenommen. Er spürt das Symptom, er bewertet seine Stärke, und er gibt auch Auskunft darüber, wie sehr ihn das Symptom belastet. Daher ist der Dialog mit dem Patienten „Schlüsselaufgabe in der Palliativmedizin“ (S. 101).
Lübbe bemängelt die faktische Onkologie, die Laborwerte und Tumorvolumina als Richtschnur für die Beurteilung des Erfolgs einer Behandlung heranzieht, dabei aber allzu leicht den individuellen Menschen in seiner Gesamtheit, mit seiner Biographie, seinen Vorstellungen, seinen Sorgen und Hoffnungen aus dem Blick verliert. Palliativmedizin hingegen lenkt den Fokus von der Krankheit zum Menschen. Gute Palliativmedizin macht das. Auch gute Onkologie macht das. Doch sind einige Geschichten der zu Wort kommenden Patienten vor dem Kontakt mit der Palliativmedizin leidvoll geprägt: illusorische Hoffnungen, die geweckt wurden; Behandlungen um jeden Preis; Defensivaufklärungen ohne aufrichtige Orientierungs- und Entscheidungshilfen; der Patient als Kunde des Gesundheitssystems; kommunikative Irrwege. Doch wenn gute Palliativmedizin und gute Onkologie einander ergänzen, kann die gegenseitige Wertschätzung dazu beitragen, dass die jeweilige Expertise den anderen im gemeinsamen Dienst am Menschen bereichert.
Eine gute Kommunikation umfasst dabei weit mehr als die einfühlsame Weitergabe von Information. Es braucht Wertschätzung, die Bereitschaft zuzuhören und die Wahrheit wie einen Mantel hinzuhalten, „statt ihn [dem Menschen] wie einen nassen Lappen um die Ohren zu schlagen“ (S. 77). Es geht um die Kunst der partizipativen Entscheidungsfindung, in der ein Experte für medizinisches Wissen und ein Experte für die persönlichen Lebensumstände einander begegnen. Erst dann kann der Patient von seinem Selbstbestimmungsrecht auch wirklich Gebrauch machen. (S. 88). „Meiner Ansicht nach lebt es sich (…) mit einer unangenehmen Wahrheit besser als mit einer falschen Hoffnung“ (S. 115).
Das leicht lesbare Buch ermöglicht dem Leser, auch dem medizinischen Laien, einen guten, ungeschönten und authentischen Einblick in den Alltag der Palliativmedizin anhand der persönlichen Erzählungen eines äußerst erfahrenen Arztes. Der Autor lässt auch persönliche Meinungen und individuelle Überzeugungen einfließen, die man nicht teilen muss. Doch die Fundamente der Palliativmedizin sind hervorragend und überzeugend dargestellt. Wie schön wäre es, flächendeckend solche Einrichtungen zur Verfügung zu haben, in denen der schwer kranke Mensch mit so viel Achtsamkeit und Wertschätzung betreut wird. Eine Begleitung, die einer wertvollen Kunst entspricht.
M. Stoll
Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer
IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
postbox@imabe.org
Sterblich sein. Was am Ende wirklich zählt. Über Würde, Autonomie und eine angemessene medizinische Versorgung.
Atul Gawande
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main (2015)
336 Seiten
ISBN 978-3-10-002441-1
Ursprünglich studierte der als Sohn eines indischen Zahnarztes in den USA geborene Atul Gawande Philosophie und Ethik, dann aber Medizin mit großem Erfolg: Als Chirurg ist er in Boston tätig, gleichzeitig unterrichtet er an der Harvard School of Public Health. Der junge Mediziner publizierte schon frühzeitig regelmäßig und erfolgreiche Zeitungskolumnen. Dieser publizistischen Produktivität quasi im Nebenberuf ist Gawande treu geblieben – ein erstaunliches Phänomen in Anbetracht seiner vollen Integration im Betrieb einer Universitätsklinik als Chirurg und Lehrer.
Mit dem vorliegenden Buch weist sich Gawande zunächst als feinsinniger Erzähler aus, wenn er die teils alltäglichen, teils abenteuerlichen Pathographien seiner Patienten dem (auch nicht-medizinischen) Leser nahebringt. Wir werden mit zehn Menschen und deren Schicksalen bekannt gemacht, deren Leiden vom „normalen“ Niedergang im Alter bis zu Krebserkrankungen (jeder Altersstufe) reicht.
Der Autor tritt gewöhnlich als vertrauter, manchmal korrigierender, immer total verfügbarer Berater und Freund seiner Schützlinge in Erscheinung, zu denen sein eigener Vater und die (großartig gezeichnete) Klavierlehrerin seiner Tochter zählt. Seine Erläuterungen der komplizierten medizinischen Eingriffe sind auch für den Laien verständlich, sein chirurgisches Geschick ist bei zur Palliation dienenden Eingriffen dazu angetan, seinen schwer leidenden Patienten immer wieder Luft, Hoffnung und sogar Lust an ihrem Leben zu verschaffen.
Durch das Buch ziehen Geschichten von Kranken, echte Leidensberichte (Patho-graphien), die alle mit dem Tod der Betroffenen enden – den Vater des Autors eingeschlossen. Zunächst sind es alte und gebrechliche Frauen und Männer, für die – plötzlich oder allmählich – der Lebensraum eng wird, dies weniger räumlich, vielmehr was die Kapazität der familiären Obsorge betrifft. Dabei ist es mehr interessant als befremdlich, wenn wir in die soziologischen Gegebenheiten des amerikanischen Mittelwestens bzw. des betuchten New England eingeführt werden. Da geht es um die uns allen geläufigen Diskussionen über die Führung einer „betreuten Wohngemeinschaft“, die Rolle des Pflegepersonals und die Finanzierung, die sich kaum von jenen hierzulande unterscheiden, aufgelockert durch den Bericht über das Engagement des Autors für „Tiere ins Altenheim“, alles im sympathisch-lockeren Erzählton mit dem unverwechselbaren Flair des „American way of life“. Das bei uns gut eingeführte System der 24-Stundenpflege durch alternierende Pflegepersonen wird hingegen nicht erwähnt, wohl bedingt durch legistische und spezifisch-soziologische Unterschiede zwischen Europa und den USA.
Dann aber gesellen sich zu den „nur“ Alten auch die Krebskranken hinzu, allesamt tapfere und auch jüngere Frauen und Männer, die uns der Autor erfolgreich ans Herz legt, so dass der Leser innig mitzufühlen beginnt. Alle Beteiligten stehen mit ihrem Leidensdruck nicht allein da, sind eingebettet in Familien und kostbare Freundschaften von durchwegs (ebenfalls) guten, gescheiten Menschen, die vom Autor in ebensolcher Weise begleitet werden, ohne in unrealistische Gefühlsduselei zu verfallen.
Die Krankengeschichten werden ineinander verschachtelt präsentiert – ein bewährtes dramaturgisches Moment, allerdings dazu angetan, dass man nach einer längeren Lesepause Mühe hat, den Faden wieder aufzunehmen. Zwischen den konkreten Patientenberichten reißt Gawande immer wieder klinische Fragen in allgemein verständlicher Form an, aber auch organisatorische, soziale und letztlich auch ethische Themen. Von letzteren würde man sich etwas mehr als allgemeine Erwähnungen erwarten, die sich quasi unversehens im Sande des klinischen Alltags verlaufen. So werden auf knappen drei Seiten der ärztlich assistierte Suizid und die „aktive Sterbehilfe“ erwähnt, wie sie im US-Bundesstaat Oregon und manchen europäischen Ländern praktiziert wird, allerdings versehen mit seinen eigenen prinzipiellen Vorbehalten, wobei für ihn weniger die Tragweite der ethischen Fragwürdigkeit im Vordergrund steht, als lediglich die Gefahr, dass Ärzte entgegen ihrer Überzeugung dazu verpflichtet werden könnten.
Auffallend ist, dass im gesamten Buch spirituelle oder religiöse Bezüge vermieden werden. Die zitierten Gespräche in Todesnähe sind allesamt berührend, auch lehrreich und durchaus realitätsnahe. Glücklich aber auch der Betreuer, wenn er es ausschließlich mit so intelligenten, heldenhaften und reflektierten Menschen zu tun hat, deren ausgeprägte Autonomie vom Arzt „nur“ unterstützt zu werden braucht. Konflikte werden weitgehend ausgeklammert, wohl auch in der Absicht, die Lektüre für den Laien „angenehmer“ zu gestalten.
Das Buch von Gawande ist in erster Linie ein Sachbuch mit einem kompetenten Bezug auf die individuellen, sozialen und medizinisch-fachlichen Begleitumstände von Patienten in Todesnähe. Der Autor – und dies ist spezifisch an dem Buch – begleitet in seiner Funktion als aktiver Behandler diese Patienten mit gediegenem medizinisch- handwerklichem Know-how, verbunden mit Empathie. Alles zusammen eine sehr persönliche Schilderung, sehr nahe an der Realität des Alltags, getragen von medizinischer Kompetenz, Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit.
F. Kummer
In Ruhe sterben. Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann
Reimer Gronemeyer, Andreas Heller
Pattloch Verlag, München 2014
300 Seiten
ISBN 978-3-629-13011-2
Die im Titel angesprochene spannungsreiche Beziehung der modernen Medizin zum Sterben wird in den zwölf Kapiteln des Buches sachkundig und facettenreich entfaltet. Die beiden Autoren, die das Buch als Gemeinschaftswerk vorlegen, besitzen durch ihre wissenschaftliche Tätigkeit und ihre Tätigkeit als Berater zweifelsohne Kompetenz: Reimer Gronemeyer, Soziologe an der Universität Gießen, hat sich in seinen Forschungen jahrzehntelang u. a. den Themen Palliativmedizin, Hospizbewegung und Demenz gewidmet, Andreas Heller vom Lehrstuhl für Palliative Care und Organisationsethik an der Alpen Adria Universität Klagenfurt/ Wien/Graz, beschäftigt sich von jeher mit „dem Alltag des Sterbens“.
Das vorliegende Buch zum Thema „Sterben“ ist nicht nur sach- und faktenkundig, sondern vor allem aber ein „leidenschaftliches“ Buch: Jede Seite des Buches verrät, dass die Autoren nicht nur Spezialisten zum Thema „Sterben“ sind, sondern dass ihnen die Sterbenden und der Umgang mit den Sterbenden ein Herzensanliegen ist. Leidenschaftlich im Sinne von „besorgt“: Die Autoren leiden an vielen „Entwicklungen im Umgang mit dem Lebensende“ und hoffen, dass ihre „manchmal zornige Bewegtheit auch andere bewegt und in Bewegung setzt, hoffentlich in Richtung einer menschlicheren Gesellschaft, die an einem menschenwürdigeren Sterben zu erkennen sein wird und in der nicht die auf der Strecke bleiben, die sich alltäglich sorgen.“ (S. 28)
Wenn wir die Sorge der Autoren näher in den Blick nehmen, weist uns die Bezeichnung „medizinkritisch“ die Richtung. „Kritisch“ allerdings im ursprünglichen Sinne von unterscheidend und beurteilend. Auch wenn der anklagende Aspekt oft vorzuherrschen scheint, so beabsichtigt das Buch keine Kritik jener Medizin „der es um das Heilen geht und die, wenn nichts mehr zu heilen ist, sich um eine gute Zuwendung und Sorge am Lebensende müht“. (S. 11f.) Die leidenschaftliche Anklage trifft vielmehr „einen Gesundheitsapparat, der das Lebensende zu einem Behandlungsprojekt macht, in dem eine schwer zu entwirrende Mischung aus Profitinteresse und Standespolitik vorzuherrschen beginnt; bei dem Sterben zu einer Krankheit gemacht wird, die kontroll- und überwachungsbedürftig ist.“ (S. 12)
Unter der bereits im Titel nahegelegten Perspektive „Wunsch und Wirklichkeit“, ist in der Darstellung der Autoren die moderne Medizin mit der Erfüllung des Wunsches „in Ruhe sterben“ nicht nur überfordert, sondern steht ihm häufig sogar im Weg. Der unbestreitbare medizinische Fortschritt, der sich etwa in der verlängerten Lebenszeit manifestiert, verdankt sich auch der eingangs erwähnten gespannten Beziehung der modernen Medizin zum Sterben: Sterben muss verhindert werden und der Tod wird ausschließlich als Feind betrachtet, den es zu verdrängen gilt. Die Aussonderung der Sterbenden in den Abstellraum oder das Badezimmer im Krankenhaus, in Europa der „Sterbeort par excellence“ (S. 44), war das deutlichste Zeichen dieser Verdrängung des Todes. Auch die Delegation des Sterbens auf die Palliativstationen, die diese zu „Sterbestationen“ macht, sehen die Autoren kritisch.
Diese im Buch sehr breit und in vielen Hinsichten dargestellte Verdrängung des Sterbens und der Sterbenden in der modernen Medizin findet in der Hospizbewegung ein Korrektiv: „Der große Erfolg der Hospizbewegung besteht darin, dass sie die Themen Sterben, Tod und Trauer auf die Tagesordnung der Gesellschaft gesetzt hat.“ (S. 70) Bis heute versteht sich die Hospizbewegung, deren Ziel es ist, „ein Sterben in Würde und Individualität zu ermöglichen“ (S. 71) „als Gegenbewegung zur Euthanasiebewegung, zu den politischen Bemühungen in Europa, die aktive Sterbehilfe zu entkriminalisieren.“ (S. 233) Im Bemühen „neue Räume zu schaffen, in denen ein würdiges Sterben möglich ist“ wollte sie das Sterben „herausholen aus einem technisch-pharmazeutisch-medizinischen Komplex, der zudem schwere Mängel aufwies: Tabuisierung des Themas Tod, Abschieben ins Badezimmer, Distanzierung, Ausschluss der Angehörigen etc.“ (S. 229) Die Autoren beschwören sehr eindringlich die Gefahr, dass die Hospizbewegung durch die Umwandlung „in einen qualitätskontrollierten, spezialisierten medizinisch-palliativen Komplex“ (S. 224) als Korrektiv ausgeschaltet wird.
Die sehr pointiert-provozierende Darstellung der Wirklichkeit des Sterbens und der Situation der Sterbenden wird sicherlich auch Widerspruch hervorrufen. Aber die aufgeworfenen Fragen verdienen jedenfalls eine breite Diskussion und zwar nicht nur unter Fachleuten. Es geht nämlich nur vordergründig um die zukünftige Gestaltung der Sterbeorte, hintergründig steht die Lebensgestaltung des modernen Menschen in Frage. Der Verdacht, dass gerade diese notwendigen Fragen in den modernen Sterbeanstalten unterdrückt werden, steht im Raum: „Die perfekte Versorgung – stopft sie vielleicht den Sterbenden den Mund? Lenkt die überorganisierte Versorgung ab von den Fragen der Sterbenden, die die Überlebenden nicht hören wollen? … Das Sterbegeschnatter ist vielleicht der Versuch, das Nachdenken über den Tod zu vermeiden.“ (S. 15) In der Hospizbewegung haben nach Ansicht der Autoren „die lebenswichtigen Fragen nach Würde und Menschlichkeit, nach Mitleidenschaft und Mitverantwortung, nach Liebe und Freundschaft, nach Spiritualität und dem „Danach“ offenbar noch einen Platz. Im Sterben und mit den Sterbenden – so hofft man – tritt das Leben noch einmal aus dem Schatten eines konsumistischen und oberflächlichen Dahinlebens. Viele scheinen zu ahnen, dass das Sterben der letzte „heilige Ort“ ist, den wir noch haben, weil sich dieser Lebensabschnitt der dummdreisten Oberflächlichkeit, die unser Leben üblicherweise prägt, entzieht.“ (S. 227) Die Haltungen, die ein würdiges Sterben und ein würdiger Umgang mit Sterbenden erfordern, müssen im Leben erworben und eingeübt werden. „Die Kunst des Sterbens ist mit der Kunst des Lebens verschwistert, und wenn die Kunst des Sterbens ausgelöscht ist, dann schwindet auch die Lebenskunst. Anders gesagt: Die Abwesenheit einer sozial getragenen Kunst des Sterbens enthüllt, dass die Kunst des gemeinsamen Lebens verschwunden ist.“ (S. 10)
Das in diesem notwendigen Buch vorgelegte Plädoyer für eine neue Kultur eines sorgenden Miteinanders verdient gehört, gelesen und diskutiert zu werden.
Ä. Höllwerth