Vorsorgestrategien für Mental Health im Unternehmen

Imago Hominis (2014); 21(2): 123-132
Markus Schwarz

Zusammenfassung

In einer sich verändernden Arbeitswelt treten psychische Probleme immer stärker als wesentliches Hindernis für ein erfolgreiches Wirken am Arbeitsplatz zutage. In der Gesundheitsforschung haben sich dazu Konzepte entwickelt, die dieses Phänomen über den Absentismus und Präsentismus identifizieren und entsprechend charakterisieren konnten. Gerade im Bereich der psychischen Gesundheit ist der Präsentismus der wesentliche Faktor, der sowohl die persönliche Gesundheit als auch die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz einschränkt. Durch das Konzept der salutogenen betrieblichen Gesundheitsförderung können diese Themen im Schulterschluss von Arbeitgebern und Arbeitnehmern entsprechend adressiert werden. Der vorliegende Artikel möchte die vorliegende Datenlage erheben und auch die wesentlichen Erfolgsfaktoren und Barrieren für diese innerbetrieblichen Programme beschreiben.

Schlüsselwörter: Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz, betriebliche Gesundheitsförderung, Arbeitsmedizin

Abstract

In a changing work environment, mental health problems are becoming with increased frequency a significant barrier for effective working conditions. Public Health research has developed concepts that identified these phenomena as absenteeism and presenteeism, which are today well described. In the area of mental health, presenteeism is the main contributor to diminished health conditions both on a personal level as well as concerning the performance at work. The concept of workplace health promotion as a salutogenic approach to countering these developments is extensively used by large corporations to address these issues. This article wants to describe the status quo of the research concerning workplace health programs including the success factors and barriers in implementing such programs.

Keywords: Mental Health at Work, Workplace Health Promotion, Occupational Health


Die Zunahme von psychiatrischen Erkrankungen entspricht einem generellen internationalen und auch österreichischen Trend. Inzwischen sind die „Major Depressive Disorders“ bereits die dritthäufigste Erkrankung – nach ischämischen Herzerkrankungen und Rückenschmerzen –, die zu Beeinträchtigung von Lebensjahren führt, wie dies in der weltweiten „Burden of Disease Studie“ nachgewiesen wurde.1 Dies entspricht einer 47% Zunahme an „beeinträchtigten“ Lebensjahren innerhalb der letzten zehn Jahre (1990 – 2010).

Nachdem ischämische Herzerkrankungen stark mit dem Alter korreliert sind und daher die darunter leidenden Patienten zumeist bereits im Ruhestand sind, zählen Rückenschmerz und depressive Erkrankungen zu den beiden wichtigsten Faktoren, die die Gesundheit am Arbeitsplatz beeinträchtigen.

Weitere Erkrankungen aus dem Bereich Mental Health haben ebenfalls massive Steigerungen der beeinträchtigten Lebensjahre in diesem Zeitraum erfahren. Dies sind einerseits der Drogen und Medikamentenmissbrauch (+18%), wie auch die Alkoholsucht (+19%). Rückgängig waren in diesem Zusammenhang allerdings auch die Bereiche Suizid (-33%) und Angststörungen (-7%).

Veränderte Arbeitswelt

Neben diesem Befund für die allgemeine Bevölkerung zeigt sich, dass Depression auch innerhalb der arbeitenden Bevölkerung neben Haltungsschmerzen die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit darstellt. Die damit verbundenen Kosten für die Krankenversicherer betragen alleine in Europa geschätzte 240 Mio. Euro jährlich, die dadurch verloren gegangene Produktivität lässt sich auf 136 Mio. Euro schätzen.2

In der Kombination aus einem älter werdenden Arbeitskräfte-Pool und einer damit verbundenen Zunahme an chronischen Erkrankungen stellt dies Unternehmen in ganz Europa vor neuartige Aufgaben, die in der Vergangenheit in dieser Form nicht zu bewältigen waren.

Die Wahrnehmung dieser Problematik führt aber auch zur logischen Konsequenz, den Arbeitsplatz als Ansatzpunkt für Interventionen in die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt anzusehen. Dies wird durch das seit nunmehr fast drei Jahrzehnten etablierte Konzept der betrieblichen Gesundheitsförderung – „BGF“ – betrieben.

Fehltage am Arbeitsplatz und verlorene Produktivität

Die BGF wird unter anderem durch die europäische Kommission als Handlungsfeld für Gesundheitspolitik massiv gefördert. Die Europäische Union definiert BGF als alle „Maßnahmen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gesellschaft zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz“.3 Im Sinne der Gesundheitsförderung wird dabei – im Unterschied zum auf die Krankheit fokussierten Pathogenese-Ansatz – ein Salutogeneseansatz proklamiert, der sowohl individuelle als auch organisatorische Einflussfaktoren identifiziert und diese über Verhaltens- (individuell) und Verhältnisprävention (organisatorisch) reduziert, respektive entsprechende Ressourcen aufbaut.4

Der Nutzen von BGF wird grundsätzlich auf drei Ebenen beschrieben. Klar etabliert sind die direkten Einsparungen bei den Kosten für die Gesundheit. In einem Review aus dem Jahre 2010 konnten Baicker et al. eine „Rendite“ für Investitionen in BGF von über 300% belegen.5 D. h. für jeden Euro, der in Maßnahmen in diesem Bereich investiert wurden, konnten Einsparungen bei Kosten für Gesundheitsleistungen in Höhe von 3 Euro erzielt werden. Ebenso nachweisbar ist inzwischen die Auswirkung von BGF auf den reduzierten Ausfall von Mitarbeitern durch weniger Krankenstände. Auch hier ergibt sich eine kalkulierte Rendite von über 200% für Investitionen in die BGF. Für die österreichische Situation hat das Institut für Höhere Studien bereits 2004 grundlegende Berechnungen zum potentiellen Nutzen der BGF für Österreich erhoben und kommt dabei auf ein Gesamtpotential von über 3,6 Mrd. Euro, wobei der Großteil dieser Effekte aus Einsparungen an vorschnellen Erwerbsunfähigkeitspensionen erreicht werden würde.6

Weniger eindeutig – jedoch in Bezug auf das Thema der mentalen Gesundheit sehr viel entscheidender – ist die Auswirkung auf die Produktivität der Mitarbeiter. In der Literatur wird hier zwischen einem klar definierbaren und auch zählbaren „Absentismus“ (das Fehlen am Arbeitsplatz aufgrund von Erkrankung) und einem stark subjektiv wahrgenommen „Präsentismus“ (Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz Erkrankung und damit verbundene verminderte Leistungsfähigkeit) unterschieden. Dieses Phänomen wird erst seit jüngerer Zeit intensiver beforscht, weshalb es bis dato nur wenige belastbare Daten gibt.7

Präsentismus zeigt sich aber in einer Reihe von Studien als der eigentliche Treiber von Produktivitätsverlusten,8 da gerade in einem System von Krankengeld, wie dies in europäischen Sozialversicherungssystemen der Fall ist, abwesende Mitarbeiter nach relativ kurzer Zeit keine Kosten innerhalb der Unternehmen produzieren. Weiters unterstützt auch die Zunahme an chronischen Erkrankungen wie die erwähnten Rückenschmerzen und gerade auch psychische Einschränkungen wie Depressionen das Auftreten von Präsentismus, da diese in den meisten europäischen Arbeitsmärkten nicht als Gründe für Krankenstände verstanden werden. Als Messkonzept für dieses Phänomen hat sich die verloren gegangene Produktivität heraus kristallisiert. Der genaue Messansatz ist aber noch offen, da sich noch keine allgemein anerkannten Messinstrumente etabliert haben.

Die tatsächliche Entscheidung von Mitarbeitern, in den Krankenstand zu gehen oder krank zur Arbeit zu kommen, hängt jedoch von vielen verschiedenen Faktoren ab. Gary Johns versucht in einem Gesamtmodell diese Faktoren in eine Theorie des Präsentismus zu kleiden, um damit auch der Forschung in diesem Feld mehr Systematik zu geben.9 Es ist aber noch unklar, ob diese Systematik entsprechende kohärente Forschungsergebnisse induzieren wird.

Die Schwierigkeiten in der Messung dieser Faktoren sind u. a. der komplexen Landschaft an Einflussfaktoren geschuldet, die Gründe für sowohl Absentismus als auch Präsentismus sein können. Neben den pathologisch erklärbaren Gründen gibt es darüber hinaus auch noch viele soziale (zu betreuende Angehörige, etc.) wie auch kulturelle (höherer Absentismus nach dem Wochenende, verlängerte Urlaube, etc.) Faktoren, die nicht unwesentlich die Messung beeinflussen können.

Es kommt auf die Perspektive an

Je nach Betrachtung des Themas steht die betriebliche Gesundheitsförderung daher auch mehr oder weniger im Fokus der Interessen. Aus Sicht der medizinischen Praxis gilt es, die Schwierigkeiten in der Differentialdiagnostik zu betrachten, da viele Symptome von durch den Arbeitsplatz induzierten psychiatrischen Erkrankungen durchaus spezifisch sind und sich massiv von bekannten Symptombildern unterscheiden.10 Natürlich besteht aber für den einzelnen behandelnden Arzt nur ein geringer Anreiz, nachhaltige Konzepte der betrieblichen Gesundheitsförderung zu fördern, da es weder dem bestehenden medizinischen Ansatz in unseren Gesundheitssystemen entspricht, noch ein rascher, sichtbarer Effekt durch Einzelmaßnahmen zu erzielen ist.

Als wesentlich sind daher die Aktivitäten auf der Ebene der Kostenträger unseres Gesundheitssystems – also die Sozialversicherungen – zu betrachten, die allerdings auch nur bedingt in diesem Feld aus einer Hand handlungsfähig sind. Der Nutzen dieser Programme tritt, wie zuvor beschrieben, primär im Bereich von Einsparungen im Pensionssystem als auch bei Krankenstandszahlungen auf. Nur indirekt und langfristig lassen sich auch Einsparungen bei den direkten Gesundheitsleistungen ausmachen.

Die vor kurzem verabschiedete österreichische Gesundheitsreform stellt diesen Gesundheitsförderungsansatz als grundlegendes Prinzip und erstes Ziel an den Beginn der notwendigen Neuausrichtungen im Gesundheitswesen,11 allerdings stehen diesen Zielsetzungen nur wenig verfügbare finanzielle Mittel zurzeit gegenüber. Die Sozialversicherungsträger und auch die Arbeitgebervertreter beschränken sich daher momentan im Großen und Ganzen auf die Unterstützung und Beratung bei diversen Projekten, weniger aber auf die direkte finanzielle Förderung der Betriebe, die sich einem entsprechenden Projekt unterziehen.

Wesentliche Ressourcen in diesem Bereich sind einerseits die Kontaktstelle des europäischen Netzwerks für Gesundheitsförderung bei der oberösterreichischen Gebietskrankenkasse, sowie die entsprechende Kontaktstelle bei der österreichischen Wirtschaftskammer.12

In diesem speziellen Bereich zeigt sich klar der Nachteil des europäischen Sozialversicherungswesens, da durch die Fülle der Kostenträger gemeinsame, nachhaltige Maßnahmen nur schwer umzusetzen sind. Im Unterschied dazu haben z. B. US-amerikanische Firmen einen viel höheren Anreiz, in entsprechende Programme der betrieblichen Gesundheitsförderung zu investieren, da in vielen Unternehmen die Gesundheitsausgabe für die Mitarbeiter direkt von den Unternehmen bezahlt wird und entsprechende Einsparungen direkt zurückfließen können. Dies führte dazu, dass vor allem Großkonzerne, die die Risiken der Gesundheitsversorgung ihrer Mitarbeiter direkt – ohne Versicherungsstruktur dazwischen – übernommen haben, früh und rasch in diese Programme investierten und den entsprechenden Nutzen sahen.13 Dahinter verbirgt sich natürlich auch eine stark kulturell geprägte Einstellung zum Thema Gesundheit, die in den USA sehr stark in Richtung Produktivitätserhalt neigt und in (Mittel-)Europa sehr viel stärker als soziale Aufgabe verstanden wird.

Erfolgsfaktoren für betriebliche Gesundheitsförderung

Seit langem hat sich daher die Public-Health-Forschung gemeinsam mit verschiedenen Managementansätzen des Themas angenommen und versucht, einen weitergehenden Gesundheitsbegriff als Grundlage entsprechender Aktivitäten aufzusetzen. Getragen von verschiedenen Deklarationen und Erklärungen der EU und der WHO wurden für den Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung in Richtung mentale Gesundheit klare Richtlinien für Programme und Best Practice Berichte zusammen getragen.14

Für die Umsetzung entsprechender Programme empfiehlt die EU darin folgende Leitkriterien:

  • Partizipation aller relevanten Personen
  • Integration der Thematik in alle wichtigen Unternehmensbereiche
  • Systematisches Projektmanagement
  • Beachtung der Ganzheitlichkeit der BGF

Sie sollen in folgenden Handlungsfeldern eingebracht werden:

  • Partizipativ erarbeitete Betriebsvereinbarungen
  • Analysephase zu salutogenen und pathogenen Faktoren
  • Vergleichende Gesundheitsberichte
  • Maßnahmenplanung, -umsetzung und -evaluierung
  • Einführung der Instrumente: Gesundheitszirkel, Steuerungskreise, Mitarbeiterbefragungen

Entsprechend wurden auch von Zertifizierungsfirmen Modelle entwickelt, wie z. B. das OHSAS 1800115 System, die Arbeitsplatzsicherheit und Gesundheitsmanagement analog einem Qualitätsmanagementprogramm etablieren und laufend evaluieren.

Neben diesen stark die Prozesslandschaft ansprechenden Empfehlungen der EU, die sich eher an Qualitätsmanagementprogrammen orientierten, hat sich im angelsächsischen Raum ein strategischer Managementansatz etabliert, der vor allem die Effektivität der Programme in den Mittelpunkt stellt. In sechs Bereichen wird die Gesundheitsförderung strategisch verankert und als Grundstruktur in die Unternehmensorganisation „eingewoben“. Die sechs Bereiche gliedern sich wie folgt:16

  • „Multilevel Leadership“ – Einbeziehung aller relevanten Management-Ebenen ist Voraussetzung für ein durchgängiges Programm
  • „Alignment“ – Übereinstimmung des Programmdesigns mit der Unternehmenskultur
  • „Scope, Relevance, Quality“ – Oberflächlichkeit und wenig durchdachte Programme sind zum Scheitern verurteilt; Tiefgang und Qualität in der Umsetzung sind zentral für den Erfolg.
  • „Accessibility“ – einfacher Zugang zum Programm ist wesentlich
  • „Partnership“ – Erfahrungen anderer übernehmen und Geschäftspartner einbeziehen erweitert die Wirksamkeit von Programmen
  • „Communications“ – eine Kommunikation über mehrere Kanäle, die sensible Themen auch sensibel anspricht und kreative Ansätze verfolgt, ist ein weiterer essentieller Erfolgsfaktor

Unter Beachtung dieser Empfehlungen haben sich weltweit bereits sehr erfolgreiche Programme entwickelt, die sowohl systematisch messbare als auch kasuistische Ergebnisse im Bereich der Unternehmenskultur generiert haben. Als ein konkretes Beispiel, das auch während des IMABE-Symposiums „Mental Health und Arbeitswelt“17 intensiv diskutiert wurde, lässt sich in Österreich das Unternehmen T-Mobile finden, das bereits seit vielen Jahren in die betriebliche Gesundheitsförderung investiert und sowohl im somatischen Bereich als auch im psychischen Bereich wesentliche messbare Erfolge zeigen kann (siehe Fallbeispiel im Anhang).

Fallstricke von betrieblicher Gesundheitsförderung

Natürlich liegen in diesen Programmen auch verschiedene Fallstricke versteckt, die sowohl aus wissenschaftlicher wie auch aus unternehmerischer Perspektive diese Programme unterminieren können. Neben den strukturellen Unterschieden in den Gesundheitssystemen, die eine Hebung der finanziellen Vorteile erleichtern oder erschweren, gibt es auch noch grundsätzliche systemische Themen, die adressiert werden sollten. Ein Grundthema in der Versorgungsforschung ist der eingebaute Bias dieser Programme in Richtung bereits gesunder Arbeitnehmer. Einerseits nutzen Gesunde die gesundheitsfördernden Angebote stärker. Zusätzlich wählen gesundheitsbewusste Mitarbeiter auch eher Unternehmen, die BGF anbieten und damit ihren eigenen Ansprüchen eher entsprechen.18 Generell ist auch die Teilnahme von (älteren) Männern und insbesondere Arbeitern eher geringer, wobei BGF vor allem bei ersichtlichen Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz eher stattfindet als bei weniger ersichtlichen Risiken (wie z. B. bei Bürotätigkeiten).19 Die Komplexität entsprechender Programme führt auch dazu, dass Großkonzerne sehr viel eher in BGF investieren, da sich eine entsprechend umfassende Investition auch über viele Mitarbeiter verteilen lässt, während Klein- und Mittelbetriebe auf externe Strukturen und Partnerangebote angewiesen bleiben.

Auch ist das Datenschutzthema als Problemfeld immer wieder in Diskussion. In wie weit darf der Arbeitgeber überhaupt mit Gesundheit der Mitarbeiter involviert sein? Und ist nicht schon die Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an diesen Programmen ein Faktor, der die Arbeitgeber-Arbeitnehmer Beziehung beeinflusst? In einer niederländischen Studie20 zeigten in einer Befragung in fünf Großbetrieben rund ein Viertel der Mitarbeiter große Vorbehalte gegen die „Einmischung“ des Betriebs in ihre Gesundheit. Insbesondere Männer über 50 zeigten eine starke Aversion gegen diese „Überschreitung“ der Privatsphäre. Allerdings waren 87% der Teilnehmer an den Programmen zufrieden und sprachen sich für weiterführende Angebote aus. In Mitteleuropa hat sich deshalb die betriebsrätliche Vertretung als geeignetes Vehikel für die Umsetzung entsprechender Programme etabliert.

Grundsätzlich bietet sich der Arbeitsplatz aus einer Public Health Perspektive natürlich sehr stark als Interventionsumfeld an, da – im Unterschied zur klassischen Gesundheitsversorgung – Gesundheitsverhalten am Arbeitsplatz laufend stattfindet. Neben dem Arbeitsplatz spezifischen Verhalten (Stress, Bewegungsmangel, Haltungsfehler, etc.) ist der Arbeitsplatz auch eine Möglichkeit, um Grundverhaltensstrukturen der Menschen z. B. beim Essen zu durchbrechen und durch entsprechende Angebote in einer Kantine den Anteil an Ballaststoffen oder Frischkost zu erhöhen oder überhaupt erst zu ermöglichen. Auch die betriebliche Investition in eine vollwertigere Küche kann zu Verhaltensänderungen bei den Mitarbeitern beitragen. Ähnliches gilt für Sportmöglichkeiten, die durch Angebote am und um den Arbeitsplatz direkt gefördert werden können, aber vor allem auch durch die betriebliche Gemeinschaft kollektiv zu einer höheren Motivationslage führen.

Wo bleibt die Privatsphäre?

Neben den eher technisch orientierten Fragen des Datenschutzes gilt es aber auch, eine generelle Grundstruktur unserer modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft zu hinterfragen. Die klassische Trennung in Muße und Arbeit verwischt sich in unseren Strukturen immer häufiger. Sowohl die ständig zunehmende Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen wie auch die immer weiter ausgeweitete Erreichbarkeit durch moderne Kommunikationsmittel führen zu einem immer stärkeren Überlappen dieser Bereiche. Der französische Philosoph Emil Durkheim hat bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts diese Anomie unserer Gesellschaft sehr treffend beschrieben: „Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein? Denn es ist unwiderleglich, dass diese beiden Bewegungen, wie gegensätzlich sie auch erscheinen, parallel verlaufen. Das ist das Problem, das wir uns gestellt haben. Uns schien, dass die Auflösung dieser scheinbaren Antinomie einer Veränderung der sozialen Solidarität geschuldet ist, die wir der immer stärkeren Arbeitsteilung verdanken.“21

Sein Lösungsansatz besteht in der organischen Solidarität,22 die als Ersatz für klassische Wertesysteme neue, vertraglich ausgerichtete Strukturen schafft, bei denen sich konkret Arbeitgeber und Arbeitnehmer explizit auf eine gegenseitige Unterstützung einigen. Der Arbeitnehmer übergibt seine Arbeitsleistung, und der Arbeitgeber sorgt für die Aufrechterhaltung derselben. Auf dieser Grundlage sollte sich im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung ein nachhaltiger und für alle vorteilhafter Konsens erzielen lassen, der die Kompensation für die zur Verfügung gestellte Arbeitsleistung nicht nur monetär abgilt, sondern ein umfassenderes Bild der Mitarbeiterfürsorge verfolgt.23

Der hier beschriebene Public-Health-Ansatz für die betriebliche Gesundheitsförderung ist auch aus diesem Grund ein wesentliches Element für eine Gesundheitsversorgung, die über die Individualmedizin hinaus geht und die kommenden chronifizierenden Erkrankungen gerade auch im psychischen Bereich stärker in den Blickpunkt nehmen wird.

Anhang: Fallbeispiel T-Mobile Österreich

Mit der Vorstellung des betrieblichen Gesundheitsförderungsprograms von T-Mobile Österreich soll auch ein best-practice Beispiel für diesen integrierten Managementansatz aufgezeigt werden.

Wie keine andere Technologie hat der Mobilfunk das Leben des Einzelnen verändert. T-Mobile stellt dafür die Infrastruktur und die Dienstleistungen eines Funknetzes zur Verfügung und investiert jährlich rund 100 Millionen Euro in den weiteren Netzausbau.

Als Teil der Deutschen Telekom Gruppe profitiert T-Mobile von der Innovationskraft und der finanziellen Stabilität eines internationalen Konzerns. Mit über 4,1 Millionen Kunden, gemessen an SIM-Karten, ist T-Mobile Österreichs zweitgrößter Mobilfunkanbieter. Mit einem Umsatz von rund 800 Millionen Euro stellen sich rund 1.400 Mitarbeiter diesen Herausforderungen in einem hart umkämpften Markt. T-Mobile ist sich als Arbeitgeber seiner besonderen wirtschaftlichen Verantwortung in Österreich bewusst.

Um auf diese Herausforderungen zu reagieren, bemühte sich T-Mobile schon sehr früh, aktiv das Arbeitsumfeld zu stärken und sich als attraktiver Arbeitgeber am Markt zu positionieren. Diese Attraktivität lässt sich durch diverse Messzahlen belegen und zeigt auch die hohe Flexibilität im Umgang mit Mitarbeitern von seiten des Unternehmens:

  • Durchschnittsalter der Mitarbeiter: 35 Jahre
  • Teilzeitmitarbeiter: 21%
  • Rückkehrquote nach Karenz: 73%
  • Arbeitsunfälle (alle am Weg zur/von der Arbeit): 8

Diesen hohen Fokus auf die Mitarbeiter unterstreicht auch die klare Wertschätzung, die in diversen Publikationen zum Ausdruck kommt, wie im aktuellen Nachhaltigkeitsbericht verdeutlicht wird.24

Neben der generellen Arbeitsplatzattraktivität hat sich T-Mobile auch der Mitarbeitergesundheit verschrieben und dafür ein breites Angebot gestrickt. Wesentlich ist dabei die Verankerung in den Unternehmenszielen und Managementschwerpunkten. In den 10 Schwerpunktthemen von T-Mobile wird das Thema Mitarbeitergesundheit an 6. Stelle aufgeführt. Und auch in den Ausführungen zu den spezifischen Arbeitszielen für den Bereich Mitarbeiter stehen Themen der somatischen und psychischen Gesundheit im Mittelpunkt.

Die 10 Schwerpunktthemen von T-Mobile

  1. Datenschutz und Kundensicherheit erhöhen (mit Fokus Kinder- und Jugendschutz sowie Mobilfunk und Gesundheit)
  2. Zugang zu IKT ermöglichen (Fokus: Netzausbau und innovative, nachhaltige Produkte)
  3. Klimaschutz vorantreiben (Fokus: energieeffizientes Netz)
  4. Nachhaltige Lieferkette sicherstellen
  5. Chancengleichheit für alle MitarbeiterInnen ermöglichen
  6. Mitarbeitergesundheit und Arbeitsbedingungen laufend verbessern
  7. Angebote zur Weiterbildung und Talenteförderung ausbauen (speziell für Jugendliche)
  8. Positive ökonomische Auswirkungen generieren
  9. Compliance-Management weiterentwickeln
  10. Partner finden für soziales Engagement (Fokus: gegen Ausgrenzung und für Integration)

Im Nachhaltigkeitsbericht werden kostenlose Vorsorgeuntersuchungen, anonyme Beratungstermine und Impfservices, medizinische Betreuung und Gesundheitstage bis hin zu Gymnastik und Fitnessprogramme als Angebote genannt.

Den Mitarbeitern stehen auch eine Arbeitsmedizinerin und eine Arbeitspsychologin für Beratungen zur Verfügung. Seit 2012 arbeitet das Unternehmen mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz-Managementsystem OHSAS 18001, um mögliche Gefahren für die Beschäftigten zu verhindern und deren Potenziale gut zu entwickeln.

Zielsetzungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
T-Mobile als attraktiven Arbeitgeber weiterentwickelnDurch fundiertes Performance-Management und Talent-Programme Talente anziehen und im Unternehmen halten (z. B. Future Generation)
Work-Life-Balance verbessernEtablierung von Mobile Working im gesamten Unternehmen
Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördernStabilisierung der Gesundheitsquote auf hohem Niveau
Steigerung des Gesundheitsbewusstseins der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch regelmäßige Informationsveranstaltungen wie beispielsweise Gesundheitsmessen
Sicherheit am Arbeitsplatz gewährleistenEinführung eines Arbeitssicherheits-Managementsystems nach OHSAS 18001
Tab. 1


Bei einer jährlichen Gesundheitsmesse wird über Gesundheitsangebote informiert und verschiedene Sportangebote können erprobt werden. Das integrierte Gesundheitsförderungsprogramm der T-Mobile Österreich umfasst in den Bereichen Arbeitsumfeld – Vorsorge – Fit & Aktiv Programm – Dienstleistungen & Social Life – Weiterbildung  die in Tabelle 2 angeführten Punkte.

Die Fülle der Angebote zeigt die Komplexität entsprechender Programme, aber auch die Notwendigkeit einer integrierten Kommunikation dieser Angebote. Es wird dabei auf best-practices anderer Strukturen und Partnerorganisationen zurückgegriffen (z. B. betreut.at) und auf die Kohärenz mit der Unternehmenskultur geachtet. Der Zugang zu den Programmen wird aktiv kommuniziert und über offene und breite Formate allen zugänglich gemacht. All dies ist auf allen Managementebenen verankert und wird durchgängig – auch über ein etabliertes Managementsystem – laufend weiter entwickelt.

Wesentlich ist dabei, dass die Eigenverantwortung nicht an das Unternehmen abgegeben wird, sondern das Unternehmen immer nur eine Unterstützung gewährt. Alle spezifischen Angebote erfordern immer auch einen finanziellen Eigenbeitrag.

Als Ergebnis konnte T-Mobile nach eigenen Angaben die Gesundheitsrate auf 97% steigern und den Wohlfühlfaktor im Unternehmen auf 75% erhöhen. In den letzten beiden Jahren hat sich auch die Kenntnis über die Gesundheitsangebote und die selbst empfundene Work-Life Balance um 15% respektive 12% erhöht – alles Faktoren, die auf die Wirksamkeit des Unternehmens einzahlen, allerdings auch aus einer eigenständigen Überzeugung der Führungsmannschaft stammen.

Arbeitsumfeld Vorsorge
  • Gleitzeit
  • Mobiler Arbeitsplatz
  • Arbeitsablaufverbesserung als Mitarbeiterentlastung
  • Open-Door-Policy
  • Unternehmenskultur
  • Seminare „Gesund Führen“
  • Physiotherapie
  • Hautcheck
  • Arbeitsplatzergonomie
  • Impfungen
  • Betriebsarzt, Arbeitspsychologin
  • Massageangebot
  • Sehtests
  • Gesundheitstage (Women‘s Health Day, Men‘s Health Day, gesunde Ernährung, Bewegung und Ernährung)
Fit & Aktiv Programm Dienstleistungen & Social Life
  • Yoga, Pilates, Rückenfit
  • Lauftreffs
  • Zumba
  • Volleyball
  • Gesundes Mittagessen
  • Kinderbetreuungsangebote (z. B. Betreuung an schulautonomen Tagen)
  • Hol- und Bringservice für Apotheke, Schuster, Putzerei
  • Stay in ContacT Programm für Mitarbeiter in Karenz
  • Töchtertag
Weiterbildung
  • Persönlichkeitsworkshops (z. B. Mentale Stärke - Fit für den Angriff )
  • Development Days

Tab. 2 

Referenzen

  1. Institute for Health Metrics and Evaluation, The Global Burden of Disease: Generating Evidence, Guiding Policy - European Union and European Free Trade Association Reginal Edition, University of Washington, S. 33, (www.healthmetricsandevaluation.org, letzter Zugriff am 26. Mai 2014), Report basierend auf sieben Papers der Global Burden of Disease Study 2010: understanding disease, injury, and risk (GBD 2010), The Lancet (2012); 13: 380
  2. Übereinkunft von Edinburgh über psychische Gesundheitsförderung und Wohlergehen am Arbeitsplatz, Members of the European Network for Workplace Health Promotion, Oktober 2010
  3. Luxemburger Deklaration zur betrieblichen Gesundheitsförderung in der Europäischen Union (1997)
  4. Beck D., Bonn V., Westermayer G., Salutogenese am Arbeitsplatz. Die betriebliche Organisation von Gesundheit, G+G Wissenschaft (GGW) (2010); 10(2): 7-14
  5. Baicker K. et al., Workplace Wellness Programs Can Generate Savings, Health Affairs (2010); 29: 304-311
  6. Helmenstein C. et al., Ökonomischer Nutzen betrieblicher Gesundheitsförderung (2004) Endbericht der Studie im Auftrag des Bundeskanzleramts, Sektion Sport © 2004 Institute for Advanced Studies (IHS)
  7. Cancelliere C. et al., Are workplace health promotion programs effective at improving presenteeism in workers? A systematic review and best evidence synthesis of the literature, BMC Public Health (2011); 11: 395-406
  8. Collins J. J. et al., The assessment of chronic health conditions on work performance, absence, and total economic impact for employers, J. Occup. Environ. Med. (2005); 47: 547-557
  9. Johns G., Presenteeism in the workplace: A review and research agenda, J. Organiz. Behav. (2010); 31: 519-542
  10. Mental health problems in the workspace, Harvard Health Publications, Harvard Medical School (2014), www.health.harvard.edu/newsletters/Harvard_Mental_Health_Letter/2010/February/mental-health-problems-in-the-workplace (letzter Zugriff am 26. Mai 2014)
  11. Vereinbarung gemäß Art. 15a B-VG Zielsteuerung-Gesundheit, 2. Abschnitt, Artikel 5 (1), (2)
  12. Netzwerk Betriebliche Gesundheitsförderung, www.netzwerk-bgf.at; Profitness - Betriebliche Gesundheitsförderung, www.wko.at/Content.Node/Profitness/Startseite---Profitness.html (letzter Zugriff am 26. Mai 2014)
  13. 77% von Großkonzernen boten im Jahr 2008 bereits BGF an, während nur rund 19% aller Unternehmungen mit über 500 Mitarbeitern entsprechende Programme anboten – Baicker K. et al., siehe Ref. 5
  14. Hassard J., Cox T., Murawski S., De Meyer S., Muylaert K., Mental health promotion in the workplace – A good practice report, European Agency for Safety and Health at Work, EU-OSHA (2010)
  15. www.tuev-sued.de/management_systeme/arbeitsschutz/ohsas_18001 (letzter Zugriff am 26. Mai 2014)
  16. Berry L. L. et al., What’s the Hard Return on Employee Wellness Programs? Harvard Business Review (2010) December, S. 2-9
  17. Symposium Mental Health und Arbeitswelt. Arbeit zwischen Stress und Lebenssinn, 8. 11. 2013, Wien, www.imabe.org/index.php (letzter Zugriff am 26. Mai 2014)
  18. Jorgensen M. B. et al., Does workplace health promotion in Denmark reach relevant target groups? Health Promot. Int. (2013); 28(2): Epub 15. Juni
  19. Glasgow R. et al., Participation in worksite health promotion: a critique of the literature and recommendations for future practice, Health Educ. Q (1993); 20(3): 391-408
  20. Robrock S. et al., Moral issues in workplace health promotion, Int Arch Occup Environ Health (2012); 85: 327-331
  21. Durkheim E., Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, 1. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main (1992), S. 82
  22. Während in vormodernen Gesellschaften die Strukturen leicht durch mechanische Solidarität aufrechterhalten werden konnten, bedarf es in neuerer Zeit einer differenzierteren Form des Zusammenhalts. Diese neue Form ist nach Durkheim die sogenannte organische Solidarität. Sie ersetzt den (in Zeiten des Wettbewerbs und steigender Bevölkerungsdichte schwierig bis unmöglich gewordenen) mechanischen Zusammenhalt durch neue, kontraktuelle Strukturen (Arbeitsteilung), in denen der Einzelne in verschiedener Weise eingebunden ist. Dies bedeutet jedoch ausdrücklich nicht das komplette Verschwinden gemeinsamer Anschauungen; diese treten lediglich zunehmend in den Hintergrund.
  23. vgl. dazu: Dew K., Taupo T., The moral regulation of the workplace: presenteeism and public health, Sociology of Health & Illness (2009); 31(7): 994-1010
  24. nachhaltig.t-mobile.at/mitarbeiter/ (letzter Zugriff am 26. Mai 2014)

Anschrift des Autors:

Dr. Markus Schwarz
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