Was meint Qualität im ärztlichen „Qualitäts“management? Eine begriffsgeschichtliche Betrachtung zu Aristoteles

Imago Hominis (2002); 9(2): 115-122
Anton Oertl, Dietger Jonas und Ralf Bickeböller

Zusammenfassung

Ärztliches Qualitätsmanagement befindet sich im Spannungsfeld von technischem Können, personaler Beziehung und sozialem Umfeld. Daraus resultiert die Frage nach einer differenzierten Klärung des Begriffes der Qualität. Qualitätsmanagement sollte nicht nur die reine Beschreibung der „Wie Beschaffenheit“ von Strukturen und Prozessen beinhalten, sondern auch nach der unter ihrer Ägide tätigen Person fragen. Die habituelle Eigenschaft (Tugend) der Person verhilft dem Qualitätsmanagement zum Erfolg oder lässt es scheitern. Qualitätsmanagement fordert mit seinem Leitbild zu einer inhaltlichen Stellungnahme auf, die den Konsens innerhalb der Institution sichert. Eine Autopoiesis des Qualitätsmanagements würde zu einer depersonalisierenden Tendenz führen, die Tugend jedoch birgt für die Person die Chance sich nicht der Personalität berauben zu lassen.

Schlüsselwörter: Qualität, Tugend, Qualitätsmanagement, Gehorsam, Quantität

Abstract

Medical quality management is always in tension between technical skills, personal relationships and the social environment. Therefore, the question must be answered as to what “Quality” in this case really means. Quality management should not be just a listing of the nature of the structures and processes contained, but also the question of the person involved in management. The habitual character (virtue) of this person will allow the quality management to succeed or to fail. The example given by quality management will challenge exchange of opinions and ensure consensus in the institution. Structural quality management alone would lead to a depersonalization of same; however, when virtue is involved the person has a chance of not losing his personality.

Keywords: Quality, virtue, quality management, obedience


1. Einleitung und Fragestellung

Eine dem jeweiligen Erkenntnis- und Wissenstand entsprechende qualitativ hochwertige medizinische Versorgung dem individuellen Patienten zu sichern, war und ist seit jeher die originäre Aufgabe des Arztes. Dieser Sicherstellungsanspruch bezieht sich auf die Felder

  • des technischen Könnens im Sinne aktueller, wissenschaftlich fundierter Behandlungskonzepte,
  • des Arzt-Patient-Verhältnisses im Sinne einer vertrauensvollen Beziehung und
  • eines dem Patienten und seiner Situation angepaßten Umfeldes.

Ärztliche Qualitätssicherung befindet sich also im Spannungsfeld von technischem Können, personaler Beziehung und sozialem Umfeld, was für die „Qualität“ ärztlichen Handelns inhaltlich einen unmittelbaren Bezug auf die Grundlegung ärztlichen Handelns überhaupt bedeutet. Damit stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Qualitäts-Begriff jenseits aller berechtigten Versuche seiner Operationalisierung besitzt.

Der Begriff Qualität wird derzeit häufig nur als Instrument zur Umwerbung eines Produktes oder einer Dienstleistung benutzt. Welche anderen Intentionen jedoch eröffnen sich bei der näheren begriffsgeschichtlichen Beschäftigung mit der „Qualität“?

Würden wir nur an die gute Beschaffenheit einer Sache oder Dienstleistung mit entsprechend hoher Güteklasse denken, meinten wir damit ausschließlich die Echtheit eines Produktes? Ist das, was wir heute als Qualität bezeichnen, ein historisch/philosophisch gewachsener Begriff oder handelt es sich um eine moderne Neuschöpfung wie es Qualitätsmanager zu gerne behaupten? Woher stammt Qualität, was impliziert sie, und in welcher Relation steht sie zur Quantität, die in der Medizin mit ihrem Changieren zwischen struktureller Über- und Unterversorgung im Zusammenhang mit Fragen der Versorgungsqualität eine so große Rolle spielt? Wir möchten uns also begriffsgeschichtlich dem mit Qualität bezeichneten Phänomen im modernen Qualitätsmanagement annähern und auch fragen, ob unter Qualität tatsächlich nur die „Wie Beschaffenheit“ von Strukturen, Prozessen und Ergebnissen zu verstehen ist, wie es auf der Homepage zum Thema Qualitätssicherung der „Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften“ behauptet wird.1

2. Der antike Qualitätsbegriff

Bereits Platon erwähnt den Begriff Qualität. Er veranschaulicht ihn mit der von einem erwärmten Körper ausgehenden Wärmestrahlung.2 Zudem weist er in einem anderen Dialog ausdrücklich darauf hin, dass man, um zu wissen was „qualitative“ Beschaffenheit (quale) sei, zunächst wissen müsse, was sie sei, und stellt sich dabei die Frage, ob Tugend gelehrt werden könne, wenn man nicht wisse, was Tugend darstelle: „(...) und tadle mich genug darüber, dass ich gar nichts von der Tugend weiß. Wovon ich aber gar nicht weiß, was es ist, wie soll ich davon irgendeine Beschaffenheit wissen?“3

Bereits in den Anfängen der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur finden sich bei Hippokrates praktische Hinweise, was unter Qualität im ärztlichen Kontext zu verstehen ist.4 Der Corpus Hippocraticum zeigt die ersten Parallelen zu der für uns heute gültigen rational-empirischen Medizin. So ist die hippokratische Medizin – im Gegensatz zu dem auf einem magisch-dämonischen Hintergrund basierenden archaischen Medizinverständnis der Vorzeit – durch eine systematische Symptombeobachtung als Behandlungsstrategie für ein Krankheitsbild gekennzeichnet. Zum ersten Mal findet sich im Rahmen der Naturphilosophie eine Befreiung des medizinischen Denkens von überwiegend magischen Welterklärungen. Die hippokratische Heilkunde beinhaltet als wesentliche Komponenten die Anamnese sowie die Lebensumstände und den Beruf des Patienten. Aus eben dieser konsequenten und systematischen Sammlung von Fakten entwickelten sich die Behandlungsstrategien als Antwort auf die Abweichung vom Gleichgewicht, für Hippokrates und später auch für Galen als Resultat der Abweichung vom Gleichgewicht der Körpersäfte. Die hippokratische Medizin stellt somit einen hohen Anspruch an die Klärung der Ätiologie einer Erkrankung und deren Prävention. Sie formuliert Ansätze des Qualitätsanspruchs heutiger wissenschaftlicher Medizin.

Durch Aristoteles erhält der Begriff Qualität, nach der Aufnahme in den Katalog der zehn Kategorien (Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Wo, Wann, Lage, Haben, Wirken, Leiden) eine konkretisierende Definition: „Unter Qualität (Beschaffenheit) verstehe ich das, vermöge dessen man so oder so beschaffen heißt.“5 Demnach definiert Aristoteles Qualität als vieldeutigen Begriff, der dem qualitativ bestimmten Konkreten zukommt. Es werden darunter vier Arten (Gattungen) von Qualitäten im Rahmen der kategorialen Grundbestimmungen definiert:

Habitus (Eigenschaft) und Disposition (Zustand)

Der Habitus unterscheidet sich für Aristoteles in der Weise von der Disposition, dass Habitus von längerer Dauer ist. Disposition bedeute das, was einer schnellen Veränderung unterliege oder schnell aufgehoben werden könne (z.B. Wärme und Kälte). Die Wissenschaften wie die Tugenden seien, da sie von längerer Dauer sind, dem Habitus zuzuordnen. Also bezeichnet man Eigenschaften, die nur schwer beweglich und von längerem Bestand sind, als Habitus. Als Beispiel seien, wie bereits erwähnt, die Tugenden oder auch Neigungen genannt. Diese in einem Menschen angelegten Eigenschaften scheinen etwas Bleibendes zu sein, sie sind schwerer beweglich als die Disposition. Ein schneller Phasenübergang oder auch die rasche Veränderung ist das Kennzeichen des Zustandes, der Disposition, wie z.B. der Übergang von Gesundheit zu Krankheit. Disposition kann jedoch auch den Rang des Habitus erlangen, und zwar dann, wenn sich z.B. eine Krankheit chronifiziert.

Veranlagung, Talent

Natürliches Vermögen, eine bestimmte Tätigkeit mit Geschick ausführen zu können, stellt die zweite Art der Qualität dar. Grundsätzlich zählt hierzu, was man unter Vermögen und Unvermögen versteht. So hat ein Mensch von gesunder, unanfälliger Natur das Vermögen, nicht leicht zu erkranken. Umgekehrt hat der für Krankheit Anfällige ein Unvermögen, welches ebenfalls eine, wenn auch negative, Qualität darstellt.

Passive Qualitäten

Ein Subjekt wird dann „qualitativ“ genannt, wenn es durch etwas Anderes eine bestimmte, bleibende Eigenschaft erfahren hat: „So heißt der Honig süß, weil er Süßigkeit aufgenommen hat (...).“6 Also hat der Honig, im aristotelischen Sinn, eine passive Qualität, da er süß ist und eine immer wiederkehrende Affektion des Geschmackssinns auszulösen vermag. Veränderungen eines Subjekts durch Leid werden nicht als passive Qualitäten beschrieben. So werden Reaktionen eines Individuums, die durch Leiden oder vegetative Reize induziert werden, nicht als Qualitäten, sondern als Affektionen von ihnen unterscheidend bezeichnet (z.B. Schamesröte, Schreckensblässe).

Äußere Form (Geometrie)

Die Beschaffenheit der Dinge (lat. ens, Wesen, Seiendes) wird auch durch die sie umkleidende Form bestimmt. Ausgenommen hiervon werden Oberflächenbeschaffenheiten (Rauheit, Glätte) oder Lockersein und Dichtigkeit, da es sich hierbei um Lagebeziehungen der Dinge in sich handelt. Kritisch betrachtet könnte man hier anmerken, dass die Qualität z. B. einer Feile jedoch darin besteht, dass auf Grund ihrer Rauheit ihr eigentlicher Zweck erfüllbar wird, wobei die Güte ihrer Rauheit ein Maß der Qualität darstellt:7

Die für das heutige Qualitätsmanagement bestimmende Vermengung von Qualität und ihrer Messbarkeit, ihrer Quantifizierung, ist jetzt noch nicht erreicht. Wie nun definiert Aristoteles die Quantität? Er greift auf die kategorialen Bestimmungen zurück und beschreibt sie als teils diskret und teils kontinuierlich. Diskrete Quantität stellt solches dar, welches keine gemeinsame Grenze besitzt, wie z. B. die Zahlen: „Wenn (...) die Fünf ein Teil der Zehn sind, so stoßen die Fünf mit den (anderen) Fünf an keiner gemeinsamen Grenze zusammen, sondern sind diskret.“8

Kontinuierliche Quantität hingegen findet sich in der Linie, der Fläche, der Körper sowie bei Zeit und Ort. Es liegt auf der Hand, eine kontinuierliche Quantität in der Linie, der Fläche oder einem Körper festzustellen, denn eine Linie kann so oder so lang sein, ebenso wie eine Fläche unterschiedlich groß sein kann oder ein Körper eine unterschiedliche Oberflächengröße oder Gewicht aufweisen kann.

Neben Diskretion (als Takt bzw. Trennung) und Kontinuität stellen Lagebeziehungen eine andere Eigenschaft der Quantität dar. So kann von Teilen einer Linie, eines Körpers, des Ortes oder einer Fläche ausgesagt werden, an welcher Stelle sie liegen.

Im Gegensatz zur Qualität hat das Quantitative häufig kein Kontrarium, dies ist augenscheinlich z.B. bei den Größen. Stellt man zwei Quantitäten, z.B. zwei verschieden große Gegenstände, miteinander in Bezug, so findet man nichts Konträres sondern eine Relation: „So wird ein Berg klein und ein Hirsenkorn groß genannt, sofern dieses größer und jener kleiner ist als anderes, was zu derselben Gattung gehört.“9

Im Rahmen der kategorialen Grundbestimmungen definiert Aristoteles Habitus und Dispositon als Qualitäten. Der Habitus, als Eigenschaft von langem Bestand, zeichnet sich durch ein hohes Quantum der ihm innewohnenden Zeit aus. Umgekehrt findet sich bei der Disposition, als Eigenschaft von kurzem Bestand, eine geringes Quantum der Zeit. Die Quantität einer Qualität steht hierbei in einer Relation des zeitlichen Mehr oder Minder.

Passive Eigenschaften (wie Süße, Bitternis usw.) unterscheiden sich nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ, da kohärente Eigenschaften quantitativ unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Ein eine passive Qualität aufnehmendes Subjekt (z. B. Süße, Bitternis, Weiße, Schwärze) wird dabei hinsichtlich dieser erfahrenen Eigenschaft als qualitativ bezeichnet. Die Ausprägung dieser Qualität ist quantifizierbar.

Da das Qualitative steigerungsfähig ist, ändert sich auch dessen Quantität. So kann in der aristotelischen Begriffsdefinition der paronymischen Qualität ein Mensch, der sich durch die Eigenschaft der Gerechtigkeit auszeichnet, gerechter als ein anderer Gerechter sein. Die Quantität der Eigenschaft Gerechtigkeit nimmt dabei zu.

Falls Qualität dem Guten dienen soll und durch die Angabe des Verfahrens präzisiert werden kann, so ist der Umgang mit ihr auch als Wissenschaft anzusehen. Bereits in der Antike stellt Aristoteles die folgende These auf: „(...) Wenn die Weisheit Wissenschaft ist und die Weisheit auf das Gute geht, so lautet der Schlußsatz: es gibt Wissenschaft, die auf das Gute geht.“10 Das Gute wird hierbei als qualitativ und dem Schlechten als konträr interpretiert. Somit existiert eine Wissenschaft des Guten, wobei die Wissenschaft nicht das an sich Gute, Qualitative und Konträre darstellt, sondern allein das Gute bzw. der Wille zu einer tugendhaften Wissenschaft erfüllt diese Anforderungen.

Weisheit implementiert in dieser These das Gute, dies kann von der Wissenschaft nicht ohne weiteres ausgesagt werden, denn Wissenschaft könnte demnach auch das Schlechte verkörpern. Weisheit soll jedoch die Wissenschaft zur Erfüllung des Guten führen, statt zum Schlechten. Wenn die Wissenschaft aus Weisheit entsteht, dann kann und soll sie auch zum Guten führen. Das Gute und das Schlechte stellen dabei Qualitativa dar, und die wissenschaftliche Realisierung dieser Eigenschaften bedeutet die Operationaliserung einer Qualität. Im eigentlichen Sinn stellt diese These den ersten Ansatz der Operationalisierung des Qualitätsbegriffs dar, denn es wird die Forderung nach einer von Tugend geprägten Wissenschaft erhoben.

3. Tugend

Die Beschäftigung mit der Qualität, heute auch als Qualitätsmanagement bezeichnet, bedeutet das Bestreben, technisch-professionelles Können fortwährend in Institutionen zu verbessern. Hierbei kommt den Tugenden eine zentrale Rolle zu. Im Zusammenhang mit der Philosophie des Operationalismus in der Antike klang der Begriff der Tugend als der zum Guten führenden Wissenschaft bereits an. Wie Aristoteles ausführt, ist die Tugend als Gattung dem Habitus zuzurechnen.11 Der Mensch wird durch Affektionen bewegt, die Tugenden jedoch verleihen ihm einen bestimmten Habitus, und diese habituelle Eigenschaft bestimmt wesentlich die Qualität des menschlichen Handelns. Schlechte Qualitätsresultate sind dabei nicht ausgenommen.

„Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt.“12 Versteht sich Tugend demnach nur als Mittelmaß? Soll unser Bestreben nicht als Handeln in Richtung fortwährender Qualitätsverbesserung, Vollkommenheit oder wie immer man es nennen möchte, interpretiert werden? Tugendhaftes Handeln bedeutet, das rechte Maß aus Eigenschaften polarisierender Extreme zu finden. Was das rechte Maß ist, wird in der Regel individuell entschieden, es sei denn, man unterliegt dem Druck gesellschaftlicher/institutioneller Normen. Institutionalisierte Normen, so auch die Normen, die innerhalb von Institutionen als Leitbild im Qualitätsmanagement formuliert werden, stellen aufgrund ihrer lange ausgereiften Erfahrung den Regelfall eines tugendhaften Verhaltens dar. Hierfür ist ein fortwährender Lernprozess notwendig – der Mensch wägt Polarität ab, um seine Verstandestugend zu vervollkommnen. Die sittliche Tugend wägt dabei den individuellen Anspruch ab. Auch sie kann nur durch Erfahrung, durch das Erleben des menschlichen Miteinanders und durch unsere sittliche Erziehung erworben werden. Sittliche Deprivation lässt den Sinn für tugendhaftes Handeln verkümmern.

Die Tugenden bedeuten dann Dispositionen, die die Person im Gelingen der Praxis unterstützen13, was endlich, da die gelungene Praxis jenseits der technisch vollkommenen Ausführung die Person zur Darstellung bringt, Selbstverwirklichung bedeutet. Die Selbstverwirklichung der Person vollzieht sich im Kontext des Personalen, was nicht nur den Insichstand bedeutet, sondern wesentlich einen dialogischen oder trinitarischen Charakter beinhaltet. Die Tugenden als Disposition – im Unterschied zum faktischen Wissen – liefern deshalb auch Fähigkeiten, die zur Aufrechterhaltung von Beziehungen zu anderen Menschen notwendig sind und in der Praxis das vermitteln, was in personalen Beziehungen das ist, was personale Beziehungen ausmacht. Sie besitzen neben dem funktionellen Teil noch einen Imperativ, der das Projekt der gelungenen Praxis meint, schließlich die Selbstverwirklichung der Person im Überschritt hinaus aus dem Kokon des Selbst. Der Charakter des Ziels von Tugenden unterscheidet sich daher fundamental von den Zielen technischer Art. Was zu häufig und gerade im heutigen politischen Kontext missbräuchlich als Tugend bezeichnet wird, stellen keine Tugenden, sondern technisch-professionelles Können dar, weil das Ziel des Vorganges, der nur eine atomisierte Episode bleibt, nicht die Person in der Praxis verwirklicht, sondern auf ein Ergebnis zielt und alle Beziehung auf die Herbeiführung des Ergebnisses reduziert, mag die Technik der Herbeiführung so psychologisch geschickt wie auch immer gewesen sein. Die Person verschwand und war nie gefragt. Gerade in der depersonalisierenden Tendenz von Institutionen stellen Tugenden eine Möglichkeit dar, sich trotz der Instrumentalisierung durch die Institution nicht der Personalität berauben zu lassen, auch in Hinblick auf die auszuübende Funktion, deren Sinn innerhalb der Institution vielleicht gar nicht mehr bekannt, vielleicht gar nicht mehr gewusst werden soll, zu deren Einschätzung der Funktionsträger als Person aber verpflichtet ist und aus den Tugenden eben diese Einschätzung vollzieht und zu einer Entscheidung trotz seiner Instrumentalisierung gelangt. Gehorsam verlangt nämlich Tugenden und der Person steht nur der Gehorsam innerhalb von Institutionen an, der von der Einsicht in die Notwendigkeit genau dieser Instrumentalisierung getragen ist, sei es auch nur die Einsicht, dass die Person sich einer anderen um der besseren Einsicht der anderen Person willen anvertrauen muss. Die Verantwortung für jede Handlung verbleibt, auch wenn sie und gerade wenn sie aus Gehorsam geschah.14 Innerhalb von Institutionen muss menschliches Handeln um des gewünschten Ergebnisses willen instrumentalisert werden. Diese Instrumentalisierung erfolgt im Gehorsam, gleichwohl durch den Gehorsam die Person zur Verantwortung dieser instrumentalisierten Handlung zwingend. Damit sei am Rande auch gesagt, dass „die Korruption von Institutionen immer auch zumindest teilweise eine Folge von Untugend ist.“15 Um gehorsamsfähig zu sein, bedarf die Person der Tugenden, um ihre Lebensgeschichte als Geschichte beibehalten zu können, um gerne das zu tun, was dem Ziel der Lebensgeschichte entspricht und ungern, was diese Geschichte zu zerstören droht, wozu es nicht immer der letzten Einsicht, sondern oft eines ästhetischen Empfindens bedarf, was die wissenschaftliche Medizin und die Kunst im Beruf des Arztes in der Betrachtung der Qualität ärztlichen Handelns wieder zusammenführt.

4. Qualitätsmanagement

Die Komplexität der im Gesundheitswesen zusammenarbeitenden Berufs-, Personen- und Funktionsgruppen lässt sich nicht allein unter organisationstheoretischen Aspekten fassen. Insbesondere bleiben die verschiedenen zwischenmenschlichen Beziehungen von einem Wissens-, Könnens- und Machtgefälle geprägt, nicht nur zwischen Arzt und Patient, auch in allen anderen Konstellationen wie zwischen Arzthelferin und Arzt, zwischen Chefarzt und Assistenzarzt, zwischen Krankenpflegeschüler und Stationsleitung etc. Organisationstheoretische Ansätze im Qualitätsmanagement müssen für eine Struktur sorgen, die es auf Grund der verschiedenen Kompetenzen der Beteiligten der Institution erlauben, technisch eine gute Patientenversorgung anzubieten. Doch sind die Anforderungen an eine gute Patientenversorgung weitreichender als eine bloße Versorgung, die sich allein an der fachlichen Kompetenz orientiert. Die fachliche Kompetenz der in einer Institution Beschäftigten muss vorausgesetzt werden. Doch schon die Pflege der jeweiligen Kompetenz unter den Bedingungen der sich wandelnden Voraussetzungen verlangt mehr, nämlich die Bereitschaft zum fortwährenden Lernen, zur Weiterbildung, um für den Patienten die eigene Kompetenz weiter zu steigern oder auch nur zu bewahren. Dahinein setzt der Patient sein Vertrauen, das er der Institution und den in ihr Tätigen entgegen bringt. Vertrauen seitens des Patienten bedeutet allerdings, dass die in der jeweiligen Institution arbeitenden Personen zuvor durch ihre Tätigkeit im Rahmen der Institution bereits versprochen haben, den Patienten in einer tragenden, professionellen Beziehung zu behandeln. Nichts anderes ist mit dem Leitbild innerhalb eines Qualitätsmanagements gemeint. Die Einführung eines Qualitätsmanagementsystemes stellt ein Versprechen als Handlungsabsicht dar und die Begründung eben dieser Handlungsabsicht ist eine ethische, die sich technisch nicht begründen lässt. Neben ihrer technischen Perspektive besitzen Handlungen Bedeutungen, die sie in den Kontext eines gelebten und noch zu lebenden Lebens einbinden. Erst wenn Handlungen sich in die Lebensgeschichte einfügen, können sie als gelungen oder misslungen beurteilt werden. Mittels Fortbildungsmaßnahmen, kommunikationsunterstützender Schulungen, über das aktive Vorleben der leitenden Personen einer Institution etc. soll das im Leitbild dargestellte Versprechen allen Mitarbeitern zu einer sekundären Natur werden, was klassisch Tugend genannt wird. Damit Handlungen für den Patienten, aber auch für die Mitarbeiter im Gesundheitswesen gelungen sein können, müssen sie in die jeweiligen Lebensgeschichten stimmig eingefügt werden, was selbstverständlich nicht konfliktfrei sein kann. Aber erst in ihrer ethischen Dimension lassen sich auch scheinbar rein technische Handlungen hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit begreifen, was die Beteiligten zu einer Stellungnahme auffordert, sie nicht in der Sterilität des angeblich rein Faktischen verbleiben lässt. Qualitätsmanagement fordert mit seinem Leitbild, soll es nicht eine leere Phrase bleiben, zu einer inhaltlichen Stellungnahme auf, die den Konsens innerhalb der Institution sichert und nur innerhalb des grundsätzlichen Konsenses sinnvoll für den Patienten und auch für die Beschäftigten arbeiten kann. Institutionen bedürfen des Konsenses, der im Qualitätsmanagement strukturiert und ausgedrückt werden soll, des Konsenses nicht nur innerhalb des Technischen, sondern vor allem hinsichtlich ihrer Grundlegung, so dass Niklas Luhmann schreiben kann: „Institutionalisierung dient dazu, Konsens erfolgreich zu überschätzen.“16 Der Grund der Überschätzung ist die Notwendigkeit, in einer angemessenen Zeit innerhalb der Zusammenarbeit einen tragfähigen Konsens zu anstehenden Entscheidungen zu erzielen. Mit dem institutionellen Vollzug kann zumindest ein inhaltlicher Konsens unterstellt werden, so dass die soziale Gemeinschaft zielorientiert handlungsfähig wird. Die Institutionen des Gesundheitswesens finden ihre Zielsetzung im Patientenwohl und im gelingenden Auskommen ihrer Mitarbeiter. Dieser Sinn, der ihre Existenzberechtigung ausmacht, findet auch seinen Ausdruck im Leitbild innerhalb von Qualitätsmanagementsystemen, das als Versprechen hinsichtlich der Handlungsabsichten der Institution zu interpretieren ist. Die Institutionen des Gesundheitswesens sind von den in ihnen tätigen Personen geprägt, deren gelingende Praxis den Institutionszweck verwirklichen. Wenn im aristotelischen Sinn Qualität dem Guten dient, nämlich in unserem Zusammenhang dem Zweck der Institutionen des Gesundheitswesens, so bedarf es eines Qualitätsmanagements, das sich an der Entwicklung und Formung der Dispositionen der in ihnen tätigen Personen für eine gelingende Praxis engagiert, eben den Tugenden. Uns zurückbesinnend an die Definition von Qualität der „Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften" vorne in der Einleitung, die unter Qualität nur die „Wie Beschaffenheit“ von Strukturen, Prozessen und Ergebnissen verstand17, müssen wir jetzt das Warum (Sinn, Zweck, Leitbild), das Wer (Personen, Tugenden, Kompetenzen) und das Wie (Strukturen, Prozesse, Ergebnisse) als wesentliche Komponenten von Qualität im Gesundheitswesen verstehen.

Referenzen

  1. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften: AWMF online. Qualitätssicherung; http://www.rz.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/awmfqs.htm
  2. Platon, Theaitetos 182 a. In: Platon, Sämtliche Werke 4, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg (1981), S. 148
  3. Platon, Menon 71 b. In: Platon, Sämtliche Werke 2, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg (1980), S. 10
  4. Hippokrates, De habitu decenti. In: Carmichael A.G., Ratzan R.M. (Hrsg.), Medizin in Literatur und Kunst, Könemann Verlagsgesellschaft, Köln (1994), S. 36 ff.
  5. Aristoteles, Organon I 8b. In: Aristoteles, Philosophische Schriften 1, Meiner Verlag, Hamburg (1995), S. 21
  6. a.a.O.: 9a, S. 22
  7. a.a.O.: 10a, S. 24
  8. Aristoteles, Organon I 4b, S. 10
  9. a.a.O.: 5b, S. 12
  10. Aristoteles, Erste Analytik. Erstes Buch, Kapitel 36, 48b. In: Aristoteles, Philosophische Schriften 1, Meiner Verlag, Hamburg (1995), S. 77
  11. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Zweites Buch, Kapitel 5,1106a. In: Aristoteles, Philosophische Schriften 3, Meiner Verlag, Hamburg (1995), S. 34
  12. a.a.O.: 1107a, S. 36
  13. vgl. MacIntyre A., Der Verlust der Tugend, Suhrkamp, Frankfurt am Main (1995), S. 293
  14. vgl. Splett J., Der Mensch ist Person, Knecht, Frankfurt am Main (1986), S. 166: „Gehorsam soll ein Handeln (oder Unterlassen) heißen, zu dem zwar der eigene freie Wille sich bestimmt, so aber, dass den unmittelbaren Bestimmungsgrund nicht eigenes Erkennen und Vorstellen bieten, sondern dass er „auf das Wort eines anderen hin“ handelt, sich von Einsicht und Willensstellungnahme eines anderen bestimmen lässt. (...) Insofern im Gehorsam der freie Wille einer Person sich verwirklicht, muss sie ihr Handeln verantworten können.“
  15. MacIntyre A., Der Verlust der Tugend, S. 261
  16. Luhmann N., Institutionalisierung – Funktion und Mechanismus in sozialen Systemen der Gesellschaft. In: Schelsky H. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, DKV, Düsseldorf (1970), S. 30
  17. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften: AWMF online. Qualitätssicherung; http://www.rz.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/awmfqs.htm

Anschrift der Autoren:

OA Dr. Anton Oertl
Prof. Dr. Dietger Jonas
PD Dr. Ralf Bickeböller
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