Bewertung der Multicenterstudie: „Cardiovascular morbidity and mortality in Losartan® intervention for Endpopint reduction in hypertension study (LIFE): a randomised trial against Atenolol®“

Imago Hominis (2002); 9(2): 123-126
(Björn Dahlöf et al., The Lancet 2002; 359: 995-1003)

Fragestellung:

Eine Blutdrucksenkung mit Beta-Rezeptorenblockern und Diuretica ist die am besten dokumentierte Prävention kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität bei Hypertonikern. Eine linksventrikuläre Hypertrophie (LVH) ist ein starker zusätzlicher und unabhängiger Risikofaktor. Das Ziel der Studie war es, zu untersuchen, ob eine selektive Angiotensin II (AT II)-Blockade über den Effekt einer Blutdrucksenkung  hinaus, durch eine Reduktion der linksventrikulären Hypertrophie zusätzlich die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität positiv beeinflusst.

Methode:

Es handelt sich um eine doppelblinde, kontrollierte, randomisierte Studie bei 9.193 Patienten im Alter von 55 bis 80 Jahren (Durchschnitt: 66,9 Jahre) mit essentieller Hypertonie (Blutdruck im Sitzen 160-200 mm Hg systolisch und 95-115 mm Hg diastolisch) und einer im EKG gesicherten LVH. Die Patienten  erhielten 4 Jahre lang eine antihypertensive Kombinationstherapie, die als Basistherapeutikum entweder einmal täglich Atenolol® oder einmal täglich den AT II-Blocker Losartan® enthielt. Primärer Endpunkt war die Kombination von Tod, Myokardinfarkt oder Schlaganfall.

Die Studie wurde von der Herstellerfirma gesponsert.

Ergebnisse:

Der Blutdruck wurde in beiden Gruppen gleich stark auf Normalwerte gesenkt (Mittelwert 144/81).

Der primäre kombinierte Endpunkt trat in der Losartan®-Gruppe in 2,4% pro Jahr und in der Atenolol®-Gruppe in 2,8% der Fälle auf (relatives Risiko 0,87; p = 0,021).

Dieser Effekt war auf eine signifikante Reduktion der Schlaganfälle von 1,4 auf 1,1% pro Jahr (relatives Risiko 0,75) zurückzuführen, während die übrigen Einzelendpunkte (kardiovaskuläre Mortalität, Myokardinfarkt) nicht signifikant beeinflusst wurden. Auch bei der gesamten Mortalität fand sich kein signifikanter Unterschied.

Die Zeichen der LVH im EKG wurden unter Losartan® signifikant stärker gesenkt als unter Atenolol®. Weiters verweisen die Autoren auf eine bessere Verträglichkeit unter Losartan® sowie auf eine signifikant niedrigere Rate von Diabetesneuerkrankungen (1,3% versus 1,7%).

Schlussfolgerungen der Autoren:

In der Diskussion weisen die Autoren vor allem darauf hin, dass Losartan® das Schlaganfallrisiko in Vergleich zu Atenolol® um 25% gesenkt hat, was sie als substantiell und wesentlich ansehen, da der Schlaganfall die Haupttodesursache in den meisten Studien der letzten Jahre ausmacht. Als Schlussfolgerung meinen die Autoren, dass AT II-Rezeptor Blocker eine breitere Anwendung auch in der klinischen Praxis und bei der Erstellung von Richtlinien  zur Blutdrucktherapie finden sollte. In einem Kommentar zur Studie an die Ärzteschaft meinen die Autoren weiter, dass es sich bei den „beeindruckenden Resultaten“ der Studie um eine „aufregende Neuigkeit, weil überlegenen  Erfolg von Losartan® über anderen Antihypertensiva handelt, die einen Paradigmenwechsel zur Folge haben, der sich in der täglichen klinischen Praxis niederschlagen sollte und einen neuen Standard in der Therapie der Hypertonie eingeführt hat.“ In einem Bericht über die 51. Wissenschaftliche Jahrestagung des American College of Cardiology (ACC) am 20. März 2002, bei der die Ergebnisse der Studie erstmals präsentiert wurden, ist sogar von einer „Revolution und von neuen Maßstäben in der Hochdrucktherapie“ die Rede.1

S.O.M.-Analyse

Stufe I: Wirkungsnachweis

An sich handelt es sich um eine randomisierte, kontrollierte Doppelblindstudie (Morbidität und Mortalität), der normalerweise ein hoher Evidenzgrad zugesprochen wird. Allerdings muss angemerkt werden, dass die Effektivität der doppelblinden Anordnung insofern eine gewisse Einschränkung erfährt als bei Patienten, die mit Beta-Rezeptoren-Blockern behandelt werden, im Gegensatz zu AT II-Rezeptor-Antagonisten eine registrierbare Herzfrequenzsenkung zu erwarten ist, die indirekt den doppelblinden Ansatz relativiert.

Stufe II: quantitativer Nutzen (Relevanz)

Der quantitative Nutzen der Studie wird von den Autoren in erster Linie anhand der relativen Risikoreduktion diskutiert. Eine relative Reduktion der Inzidenz von Schlaganfällen um 25%, wie dies von den Autoren immer wieder betont wird, klingt sicherlich beeindruckend. Betrachtet man allerdings die absoluten Zahlen, so zeigt sich, dass die Effekte eher bescheiden sind: es kommt zu einer Reduktion der Inzidenz von Schlaganfällen von 1,4% (Atenolol®) auf 1,1% (Losartan®) also um 0,3%, d.h. 3‰.

Dieses Ergebnis wird weiter relativiert, wenn man bedenkt, dass der Schlaganfall nicht verhindert, sondern nur um einige Zeit hinausgezögert werden kann. Dabei muss zunächst festgehalten werden, dass sich die Gesamtmortalität in beiden Gruppen nicht signifikant voneinander unterscheidet (1,7 bzw. 1,9%). Dies ist auch nicht verwunderlich, weil die Mortalitätsraten nicht höher liegen als bei der Normalbevölkerung2. Weiters ist zu berücksichtigen, dass die Mortalitätsraten höher liegen als die Inzidenz der Schlaganfälle (1,08 Losartan® bzw. 1,45 Atenolol®). Dadurch kommt der mögliche therapeutische Effekt von Losartan® auf die Schlaganfallinzidenz insbesonders im höheren Alter kaum mehr zum Tragen. In Tabelle I (Spalte 1-4) wurde die zeitliche Verschiebung des Schlaganfallereignisses nach den Kriterien der Sinnorientierten Medizin3 in den verschiedenen Altersgruppen errechnet (Berechnung nach dem Verhältnis Männer zu Frauen gemäß der Studie 54% : 46%). Daraus ist ersichtlich, dass bei einem 55 Jahre alten Patienten  noch eine Behandlung mit Losartan® über 24 Jahre erfolgen kann (EEL), wodurch ein Schlaganfall um 1,5 Jahre hinausgeschoben wird. Im 70. Lebensjahr kann nur mehr 13 Jahre behandelt und eine Verzögerung um 0,5 Jahre, bei einem 80jährigen Patient um 0,17 Jahre (= 2 Monate) erreicht werden (vgl. Tabelle I, Spalte 4 – Gewinn durch Losartan®). Daraus ist ersichtlich, dass der quantitative Nutzen einer Losartan®-Therapie im Vergleich mit Atenolol® ab dem 65. Lebensjahr nur mehr wenige Monate beträgt und daher ziemlich unbedeutend wird.

1 2 3 4 5 6 7
Alter m/w = 46% / 54% Zeit bis zum Eintritt eines Schlaganfalles
EEL (a)
Atenolol®
Zeit bis zum Eintritt eines Schlaganfalles
EEL (a)
Losartan®
Gewinn durch Losartan®
EELG (a)
Effektivität
E (%)
Behandlungsjahre, um 1 weiteres Jahr zu gewinnen
TYEG (a)
Kosten für 1 gewonnenes Jahr
CTYEG (€)
55 22,66 24,16 1,50 6,2 16,10 13,516
65 16,08 16,83 0,75 4,5 22,44 18,838
70 13,03 13,53 0,50 3,7 27,06 22,717
80   7,65   7,82 0,17 2,1 46,00 38,617
Tabelle I: Berechnung des quantitativen Nutzens einer Therapie mit Losartan® im Vergleich mit Atenolol® auf Basis der LIFE-Studie Legende: EEL – Expected Event-free Lifetime; EELG – Expected Event-free Lifetime Gain; E – Effectiveness; TYEG – Number of Treatment Years needed to gain an additional Event-free Year; C TYEG – Costs to gain one Event- Free Year of Lifetime; (a) – Jahre.

Stufe III: Verhältnismäßigkeit

Bei der Analyse der Verhältnismäßigkeit müssen der Nachteil bzw. Aufwand gegen die Vorteile aufgewogen werden.

Das Kuriosum der vorliegenden Studie besteht darin, dass zumindest im höheren Alter eher mit dem Tod gerechnet werden muss, bevor der Vorteil einer AT II-Blockertherapie zum Tragen kommt. Dies schlägt sich in der Tatsache nieder, dass keine signifikante Verbesserung der Gesamtmortalität und im höheren Alter kaum mehr ein Effekt auf die Schlaganfallinzidenz erzielt werden konnte (vgl. Tabelle I, Spalte 4).

Als Maß für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit dieser Ergebnisse kann auch die Effektivität (E) nach den Kriterien der Sinnorientierten Medizin (S.O.M.) genommen werden. Sie errechnet sich aus dem Verhältnis von Behandlungsdauer und Gewinn  (EELG) in % [E = (EELG x 100)/ Behandlungsdauer]. Ein Effektivitätswert ≥ 100% kann als ausgezeichnetes Ergebnis gewertet werden (z.B. Insulintherapie beim Typ I Diabetes, bei der die Behandlungsdauer mit der Lebensverlängerung = Gewinn gleichzusetzen ist), während Werte ≤ 5% wenig Relevanz  haben. In Tabelle I (5. Spalte) sind die einzelnen Effektivitätswerte für die verschiedenen Altersgruppen berechnet. Auch daraus geht hervor, dass eine bevorzugte Behandlung von Hypertonikern mit AT II-Blockern zumindest nach dem 65. Lebensjahr  praktisch bedeutungslos ist.

Kosten-Nutzen Analyse:

Ein wichtiger Faktor bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer neuen Therapie ist auch die Kosten/Nutzen-Relation. Dazu kann die Anzahl der Behandlungsjahre errechnet werden, die notwendig sind, um ein ereignisfreies Jahr hinzuzugewinnen (number of Treatment Years for one year Eventfree lifetime Gain = TYEG). Sie errechnet sich aus EEL/EELG. Daraus lassen sich die Mehrkosten für ein gewonnenes Jahr (CTYEG) leicht berechnen (Tabelle I, Spalten 6 und 7): Die Tageskosten für Atenolol® 100mg wurden mit 0,5 €, für Losartan® 100 mg mit 2,8 € angesetzt. Das ergibt Mehrkosten für Losartan® von 2,3 € pro Tag bzw. 839,5 € pro Jahr. Die Berechnung der Daten bestätigt zunächst die geringe Effektivität einer alternativen Behandlung mit Losartan®, weil mit zunehmendem Alter längst mit dem Tod gerechnet werden muss bevor ein zusätzlich ereignisfreies Jahr erreicht werden kann (bei einem 80jährigen Patienten wäre dazu ein Behandlungszeitraum von 46 Jahren nötig). Weiters zeigen die Daten, dass auch die fiktiven Kosten  für ein gewonnenes Lebensjahr zunehmend steigen, d.h. die Effizienz der Behandlung mit dem Alter rapide abnimmt.

Nebenwirkungen:

Die Autoren der Studie weisen noch darauf hin, dass  unter Losartan® weniger Nebenwirkungen auftreten als unter Atenolol®. Wenngleich die Nebenwirkungen einer Therapie ein wichtiger Faktor in der Nutzen/Risiko Abwägung sind, muss im vorliegenden Fall darauf hingewiesen werden, dass die Unterschiede nur gering waren und in erster Linie auf die erwartbaren wirkungsspezifischen Effekte  von Beta-Rezeptoren-Blockern zurückzuführen sind  (Bradycardie, kalte Extremitäten, Atemnot) und sicherlich keinen ernsthaften Grund darstellen, AT II-Rezeptor-Antagonisten als Mittel der ersten Wahl allen anderen Hypotensiva vorzuziehen.

Zusammenfassung:

Zunächst muss erwähnt werden, dass sich die Ergebnisse der Studie nur auf eine kleine Gruppe von Hypertonikern nämlich auf solche mit einer LVH und relativ hohen Blutdruckwerten (Durchschnitt 174/98) beziehen. Außerdem waren es vor allem  Hochrisikopatienten, die von der Therapie nachweisbar profitiert haben, während die Effekte bei Patienten im niedrigen Risikobereichen (ohne manifeste Gefäßerkrankung oder Diabetes) deutlich geringer waren. Eine generelle Empfehlung für eine breite Anwendung dieser kostspieligen Therapie  auf alle Hypertoniker, wie dies die Autoren tun, ist allein schon aus dieser Perspektive sehr strittig.

Aus der Perspektive einer Sinnorientierten Medizin (S.O.M.) ist weiters zu sagen, dass die Effektivität (E) der Studie gering ist, weil viele Behandlungsjahre nötig sind, um eine relevante zeitliche Hinausverzögerung eines Schlaganfalls zu erreichen (vgl. Tabelle I, Spalte 6). Zumindest ab dem 65. Lebensjahr kann kaum mehr ein Behandlungsvorteil erzielt werden, weil er durch die geringe Lebenserwartung zunehmend limitiert wird (vgl. Tabelle I, Spalte 4). Da die Therapie mit AT II-Rezeptor-Antagonisten jedoch erhebliche Mehrkosten verursacht, ist sie als Basisbenadlung der ersten Wahl zumindest im höheren Alter wegen ihrer geringen Effizienz auch bei Hochrisikopatienten kaum zu rechtfertigen und wenig sinnvoll.

Zusammenfassend muss daher gesagt werden, dass die  Verordnung von AT II-Rezeptor-Antagonisten als Mittel der ersten Wahl in der Hypertoniebehandlung nicht gerechtfertigt ist. Insbesondere gibt es keinen Grund für eine generelle Übertragung der Ergebnisse auf alle Hypertoniker. Die Forderung nach einem „Paradigmenwechsel“ in der Hypertoniebehandlung auf Grund dieser einzigen Studie bei einem eingeschränkten Patientenkollektiv ist daher in keiner Weise gerechtfertigt.

Am ehesten dürften junge, schwere Hypertoniker mit Linkshypertrophie und zusätzlichen vaskulären Risiken bzw. Diabetes einen gewissen, wenn auch nur leichten Profit haben (Effektivität >5,0%).

Die Ergebnisse sind interessant, aber für eine Änderung im Stufenplan der Hypertoniebehandlung nicht relevant.

Referenzen

  1. Dr. C. H. Woisetschläger, Ärztewoche 17. April 2002
  2. Sterbetafel für Österreich 1990/1992
  3. Bonelli J., Prat E.H., Sinnorientierte Medizin (S.O.M.). Paradigmawechsel in der Medizin: von der Machbarkeit zur Sinnhaftigkeit – Medizin für den Einzelfall, Imago Hominis (1999) 6: 187-207
Institut für Medizinische
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