Töten aus Mitleid oder Lebensschutz bis zum Ende? Der Fall Pretty aus Großbritannien

Imago Hominis (2002); 9(2): 83-85
Thomas Piskernigg

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 29. April 2002 in einer aufsehenerregenden Entscheidung (Pretty v. United Kingdom, application no. 2346/02) zur Sterbehilfe Stellung bezogen. Im Folgenden wird das Urteil kurz dargestellt und kommentiert.

Sachverhalt

Die Britin Diane Pretty, geboren 1958, Mutter zweier erwachsener Kinder, litt unter einer unheilbaren, in absehbarer bzw. relativ kurzer Zeit zum Tode führenden Nervenkrankheit und war bereits vom Hals abwärts gelähmt. Da sie ihrem qualvollen Leben ein Ende setzen wollte und nicht auf den womöglich noch qualvolleren natürlichen Tod zu warten bereit war, wünschte sie sich, von ihrem Gatten beim Selbstmord unterstützt zu werden; dies in erster Linie deshalb, weil sie aufgrund ihrer körperlichen Verfassung selbst dazu nicht mehr in der Lage war.

Da in Großbritannien zwar der Selbstmord, nicht jedoch die Beihilfe zum Selbstmord straffrei ist, wandte man sich an die britische Strafverfolgungsbehörde mit dem Wunsch nach einer Vorweggarantie der Straffreiheit für den beim Selbstmord „assistierenden“ Gatten, was jedoch vom Director of Public Persecutions (DPP) abgelehnt wurde. Nach (erfolgloser) Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges kam der Fall schließlich vor den EGMR.

Die Entscheidung des EGMR

Der EGMR entschied einstimmig entgegen dem Vorbringen der Klägerin, dass durch die Vorgangsweise der britischen Behörden bzw. durch die Rechtslage in Großbritannien keine Verletzung der Artikel 2 (Recht auf Leben), 3 (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), 8 (Recht auf Achtung der Privatsphäre), 9 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) und 14 (Verbot der Diskriminierung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) erfolgt sei.

Dabei stellte der EGMR in rechtlicher Hinsicht im Wesentlichen fest, dass aus dem Recht auf Leben kein Recht auf Sterben folge und somit eine Verletzung des Rechts auf Leben nicht gegeben sei.

In Bezug auf Art. 3 EMRK hatte die Klägerin in etwa folgendermaßen argumentiert: Ihr krankheitsbedingter Zustand sei entwürdigend und Abhilfe nur durch die Unterstützung beim Selbstmord möglich. Da dem potentiellen Helfer jedoch vom Staat angesichts der Rechtslage und der Verweigerung der Vorwegzusicherung von Straffreiheit die Hilfe de facto unmöglich gemacht werde, sei der Staat für ihren menschenunwürdigen Zustand verantwortlich, was eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle. Das Gericht betonte in diesem Zusammenhang zwar sein Verständnis für das Anliegen der Klägerin1, konnte der Argumentation jedoch im Ergebnis nicht folgen, da eine positive Verpflichtung zur Ermöglichung der hier benötigten „Hilfe“ bedeute, dass der Staat Handlungen rechtfertigen müsse, welche die Beendigung des Lebens eines Menschen intendieren.

Das Verhalten des DPP stelle zwar einen Eingriff in die Privatsphäre dar, dieser sei jedoch angesichts der Natur der Tat, für welche Straffreiheit verlangt werde, in einer demokratischen Gesellschaft nötig zum Schutz der Rechte anderer. In seiner Argumentation hob das Gericht auch die Gestaltung der gesetzlichen Regelung positiv hervor, da sie eine große Flexibilität bei der Anwendung im Einzelfall ermögliche.

Das Vorliegen einer Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit verneinte das Gericht mit dem Argument, dass es im gegenständlichen Fall nicht um eine Form der Manifestation einer religiösen Überzeugung wie etwa durch Lobpreis, Predigt etc. gehe. Der Begriff der Religionsausübung gemäß Art. 9 Abs. 1 EMRK umfasse nämlich nicht jede Handlung, die durch eine religiöse Überzeugung motiviert oder beeinflusst sei.

Schließlich vermeinte die Klägerin, eine Diskriminierung in dem Umstand zu erblicken, dass das Gesetz und die Rechtsanwendung nicht unterscheiden zwischen Personen, die (physisch) in der Lage seien, Selbstmord zu begehen, und solchen, die es nicht seien (wie die Klägerin). Durch das Verbot der Beihilfe zum Selbstmord werde nämlich der Selbstmord der letztgenannten Personengruppe de facto unmöglich gemacht. Dem hielt das Gericht entgegen, dass es sehr wohl eine sachliche Rechtfertigung für den Verzicht auf eine Differenzierung zwischen den genannten Personengruppen gebe: Eine Ausnahme vom Verbot der Beihilfe zum Selbstmord für physisch Selbstmordunfähige brächte schwierige Abgrenzungsprobleme mit sich, welche den Lebensschutzzweck der Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbstmord als solchen unterminieren würden.

Frau Pretty ist übrigens wenige Tage nach der Urteilsveröffentlichung (soweit bekannt eines natürlichen Todes) gestorben.

Anmerkungen

Die ethischen und rechtlichen Probleme, die sich um den vorliegenden Sachverhalt ranken, sind Legion und können hier in ihrer Komplexität kaum angedeutet werden. Im Folgenden werden, um den Rahmen nicht zu sprengen, nur zwei Aspekte herausgegriffen.

a) Aus dem Blickwinkel des Lebensschutzes heraus gesehen ist die eben dargestellte Entscheidung des EGMR durchaus erfreulich, stellt sie doch klar, dass es einem Staat ohne Verletzung der EMRK grundsätzlich möglich ist, die Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe zu stellen. Daraus folgt, dass die Bestrafung der Tötung auf Verlangen grundsätzlich umso weniger als EMRK-widrig angesehen werden kann.

Die Abgrenzung zwischen der Mitwirkung am Selbstmord (§ 78 österreichisches Strafgesetzbuch – StGB) und der Tötung auf Verlangen (§ 77 StGB) kann im Einzelfall schwierig sein. Idealtypisch wird man sie danach anstellen können, ob das Opfer die Tötungshandlung selbst vornimmt (Mitwirkung am Selbstmord) oder der Täter sie auf Verlangen durchführt (Tötung auf Verlangen).2 In Österreich ist der Strafrahmen für beide Delikte derselbe. Es gibt freilich auch Rechtsordnungen (z.B. in Deutschland), wo die Tötung auf Verlangen zwar strafbar, die Mitwirkung am Selbstmord hingegen straffrei ist.

Zur Illustration, wie fließend der Übergang zwischen diesen Tatbeständen sein kann, möge folgendes Beispiel dienen: Wenn jemand z.B. dem Patienten, der darum bittet, tödliches Gift einflößt, dann hängt es von detaillierten Abgrenzungen ab, ob das Einflößen als eine Fremdtötung oder das Schlucken als eine Selbsttötung angesehen werden muss. Dieselbe Frage stellt sich beim Aufdrehen eines Gashahns, wenn das „Opfer“ im Raum verbleibt, das Gas einatmet und nicht flieht.

Die wertungsmäßige Begründung dafür, dass manche Rechtsordnungen die strafrechtlichen Folgen dieser doch sehr ähnlich gelagerten Delikte differenzieren, dürfte nicht zuletzt in dem Umstand liegen, dass im Fall der Mitwirkung am Selbstmord die „Tatherrschaft“ tendenziell eher beim Opfer liegt, während dies bei der Tötung auf Verlangen wohl anders zu sehen und daher die Gefahr des Missbrauchs größer ist. Angesichts der physischen Handlungsunfähigkeit der Klägerin im gegenständlichen Fall muss man vor dem Hintergrund der Begrifflichkeit des österreichischen Strafrechts somit eher von Tötung auf Verlangen sprechen.

b) Von der Frage, ob ein Staat die Tötung auf Verlangen bzw. die Mitwirkung am Selbstmord ohne Verletzung der EMRK unter Strafe stellen darf, ist nun die Problematik zu unterscheiden, welchen Schutz der Staat Personen am Ende ihres Lebens gewähren muss. Hier stellen sich ähnliche Fragen wie im Zusammenhang mit der Abtreibung. Klare Entscheidungen europäischer Gerichte dazu fehlen weitestgehend.3 Grundsätzlich wird man von einer Schutzpflicht des Staates auch am Lebensende ausgehen müssen. Die Bestimmung ihrer Konkretisierung wird jedoch sicher äußerst kontroversielle Diskussionen mit sich bringen, wie nicht zuletzt die Fälle von Holland und Belgien zeigen.

Eines muss denen, die hier für eine „Liberalisierung“ eintreten und dies mit dem Recht auf Selbstbestimmung begründen, jedenfalls entgegengehalten werden: Im Wertegefüge der österreichischen Rechtsordnung würde die Freigabe der Tötung auf Verlangen bzw. der Mitwirkung am Selbstmord – und zwar selbst dann, wenn dies nur unter strengen Rahmenbedingungen erfolgte – abgesehen von der gerade auch in dieser Schriftenreihe4 ausführlich behandelten ethischen Problematik geradezu einen Fremdkörper darstellen.

Es passte nämlich ganz und gar nicht ins Bild der österreichischen Rechtsordnung, die viele „Fürsorgebestimmungen“ zum Schutz vor übereilten, typischerweise unter Druck zustande gekommenen oder überhaupt lange bindenden Entscheidungen beinhaltet (z.B. Formgebote als Übereilungsschutz, Rücktrittsrechte nach Konsumentenschutzgesetz etc.). Das Recht traut dem Menschen offenbar kaum Entscheidungen zu, die sehr lange oder lebenslang binden. Das zeigt sich schon in Bezug auf die Ehe, das zeigt sich aber auch in sonstigen zivilrechtlichen Materien, etwa im Rahmen der Problematik lang bindender Verträge, z.B. von Bierbezugsverträgen. Hier wurde den Gastwirten von den Brauereien oft eine lange Bindungsdauer vorgegeben (etwa 20 Jahre und mehr), was vom Obersten Gerichtshof als sittenwidrige Knebelung angesehen wurde. Um eine lange Bindung (d.h. einen entsprechend langen Ausschluss des Kündigungsrechts) zu rechtfertigen, müssen besondere Umstände vorliegen, wie z.B. die Bereitstellung der Zapfanlage oder die Gewährung günstigen Kredits, aber selbst diese Zugeständnisse rechtfertigen keine lebenslange Bindung.5

Auch wenn man manche der eben angeführten Regelungen unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung und -verantwortung als allzu paternalistisch klassifizieren wird müssen, so enthalten sie doch verfolgenswerte schutzorientierte Grundgedanken. Und diese sollten gerade bei Entscheidungen zwischen Leben und Tod nicht aus dem Blick geraten.

Referenzen

  1. Vgl. den Pressetext zu Art. 3: „[...] The Court could not but be sympathetic to the applicant´s apprehension that without the possibility of ending her life she faced the prospect of a distressing death. [...]”
  2. Vgl. z.B. Bertel/Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht Besonderer Teil I5 (1998) 4 f.
  3. Vgl. dazu etwa die aktuelle Darstellung der Judikatur zu Art. 2 EMRK bei Lagodny in: Karl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention (Loseblattausgabe – Lieferung Januar 2002).
  4. Vgl. Imago Hominis 2,3 (1999) und 1(2001) bzw. E.H. Prat, Zur Frage der Selbstbestimmung. In: J. Bonelli, E.H. Prat, Leben – Sterben – Euthanasie?, Springer Verlag, Wien (2000), S. 61-71
  5. Zur Problematik vgl. etwa Krejci in Rummel, Kommentar zum ABGB I3 (2000), § 879 RZ 86.

Anschrift des Autors:

Dr. Thomas Piskernigg
Währinger Straße 27
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