Bioethik: Konsens und Tugendethik

Imago Hominis (2000); 7(2): 125-138
Enrique H. Prat

Zusammenfassung

In der Bioethik haben sich seit ihrer Gründung in der Mitte des 20. Jahrhunderts prinzipialistische und konsensualistische Ansätze durchgesetzt, die so weit die Argumentation beherrscht haben, dass der Konsens sich mehr und mehr als praktisches Kriterium der Sittlichkeit etabliert hat. Postmoderne Ansätze wie die Konsensethik von Habermas oder die Gerechtigkeitstheorie Rawls wurden schnell in der Bioethik rezipiert und scheinen den konsensualistischen Trend zu verstärken. Die Bioethik entwickelt sich damit zu einer politischen Ethik. Doch wird immer deutlicher, dass in der pluralistischen Gesellschaft ein Konsens in wichtigen Moralfragen auf diese Weise nicht zu erreichen ist. Nur eine Handlungsethik, die um die Wahrheit und das Gute und nicht nur um das Richtige bemüht ist, und die davon ausgeht, dass nur die Wahrheit und das Gute die Basis eines Konsens bilden kann, wird zu einer kohärenten Bioethik führen. Es ist gerade die Tugend, die in partikulären Situationen die Bindung der Handlungswahl an die Wahrheit leistet. Dafür ist sie unersetzbar. Daher sollte die Bioethik der Zukunft neben den Prinzipien verstärkt die Tugenden pflegen.

Schlüsselwörter: Bioethik, Konsens, Prinzipien, Prinzipialismus, Tugenden

Abstract

Since the founding of bioethics in the middle of the twentieth century, principialism and consensualism have dominated bioethical discussion so much that consensus has more and more become the practical criterion of morality. Postmodern theories such as Habermas´ consensus-ethics or Rawl´s theory of justice were quickly taken up in bioethics and it would seem that they have strengthened the principialistic and consensualistic trend. Bioethics has developed into political ethics. However, it is becoming more and more clear that consensus on moral questions in a pluralistic society cannot be reached in this manner. Only an ethic of actions which considers truth and goodness and not only rightness as its end, and also sustains that truth and goodness must be the foundation of consensus, will lead to a coherent bioethics. Virtue as the capacity to make good choices, is the connection between truth and choice. Therefore, in future bioethics should be more and more concerned to virtues and not only principles.

Keywords: bioethics, consensus, principles, principialism, virtues


Konsensualismus in der Bioethik

Die Behauptung, dass die Bioethik den Konsens als Methode praktiziert, mag etwas gewagt sein, aber es kann nicht bestritten werden, dass von Anfang an in diesem Zweig der Ethik die Konsenssuche als ein prioritäres Ziel angesehen wurde. Darin unterscheidet sie sich von andere Sparten der Ethik, die im allgemeinen auch den Konsens suchen, aber auf indirektem Wege, indem sie von der Konsensfähigkeit der Wahrheit ausgehen, d.h., es wird angenommen, dass in der Verfolgung ihres eigentlichen Zieles, nämlich der Findung und der Begründung der sittlichen Wahrheit, sich der Konsens einstellen muss. Aber der Konsens hat nicht nur eine methodisch-praktische Funktion in der derzeitigen öffentlichen Diskussion von bioethischen Problemen, in den Ethikkommissionen, und in den Beratungen der legislativen und gerichtlichen Instanzen, sondern, wie in der Folge näher ausgeführt wird, prägt er methodologisch die akademisch-bioethische Forschung und Reflexion. Aus diesem Grund haben die in den letzten Jahren entstandenen Konsenstheorien rasch Anklang in der Bioethik gefunden. Die zunehmenden Schwierigkeiten, in verschiedenen aktuellen bioethischen Konflikten zu Konsenslösungen zu gelangen, haben zur Intensivierung der Reflexion über den Konsens beigetragen und letztlich auch dazu geführt, die konsensualistische Ausrichtung dieses Faches zu hinterfragen.

1990 wurde am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld eine Konferenz unter dem Titel „Technische Eingriffe in die menschliche Reproduktion: Perspektiven eines moralischen Konsenses“ abgehalten. Daran nahmen international renommierte Experten der Bioethik, der Sozialethik, der Soziologie und der Medizin teil. Der Moderator der Konferenz, Kurt Bayertz, führte die schriftliche Dokumentation über das Treffen und schloss mit einem ernüchternden Urteil: „Ein Konsens über den ‚Konsens‘ konnte weder auf der Bielefelder Konferenz erzielt werden, noch zeichnet er sich in den Beiträgen dieses Bandes ab.“1 Ein Teilnehmer an der Konferenz, H.T. Engelhardt Jr., führender Bioethiker der Vereinigten Staaten, bestätigte und bekräftigte das Urteil mit der Aussage: „Aus den vorangehenden Aufsätzen sollte es klar geworden sein, dass es wenig oder keinen inhaltlichen Konsens hinsichtlich des Konsenses gibt. Auch gibt es keinen über seine Implikationen. Aus dem alltäglichen Leben sollte es ebenso klar sein, dass es keinen Konsens über die moralische Signifikanz der Sexualität oder der technologisch unterstützten Reproduktion unter Mitwirkung Dritter gibt.“2

Prinzipialismus3 in der Bioethik

Die Bioethik, einer der jüngsten Zweige der Ethik, ist in den Vereinigten Staaten entstanden. Dort hat sie von Anfang an eine prinzipialistische Prägung bekommen, d.h. sie hat sich vornehmlich mit Prinzipien beschäftigt. Darin folgt sie dem Hauptstrom der modernen und der postmodernen Ethik, die die Tugenden geringschätzen.4 Die amerikanische Bioethik postuliert vier Grundprinzipien: das Autonomieprinzip, das Prinzip des Wohlwollens, das Prinzip des Nicht-Schadens und das Gerechtigkeitsprinzip. Diese sind gemäß der Terminologie des amerikanischen Philosophen David Ross, „prima facie“- Prinzipien, d.h. sie sind vordergründig gleichermaßen verpflichtend, aber im Konfliktfall muss eine Entscheidung zu Gunsten des einen und auf Kosten des anderen Prinzips fallen. Bis jetzt hat die amerikanische Bioethik dem Autonomieprinzip eine besondere Vorrangsstellung eingeräumt.5

Obwohl die Prinzipialisten bemüht sind, ihre Prinzipien kantisch zu begründen, weisen die allgemeingeltenden „prima facie“- Prinzipien noch keinen reinen Deontologismus aus, weil die Vorrangstellung des Autonmomieprinzips zur utilitaristisch-konsequentialistischen Lösung von Pflichtenkollisionen führt. Der Prinzipialismus stellt also einen Versuch dar, die zwei Hauptströmungen - die deontologische und die utilitaristische - der modernen Ethik zusammenzuführen. Das Ergebnis ist ein utilitaritisch aufgeweichter Deontologismus bzw. ein deontologisch gestärkter Utilitarismus.

Die deontologiosche und utilitaristische Doppelprägung hängt natürlich auch mit dem erwähnten Konsensualismus zusammen. Auf der einen Seite bewirkt der Vorrang des Autonomieprinzips, dass jeder Wert, der Gegenstand eines Dissens ist, aus dem Gemeinwohl ausgeklammert wird. Ein solcher Wert könnte keine allgemeingültige Norm begründen und wäre daher kein Thema für eine moderne Ethik. Diese stark liberale Position wird vom mainstream der Bioethik vertreten, die dann auf einen verfahrenstechnischen Formalismus zurückgreift, um zu entscheiden, ob eine Frage konsensfähig ist und daher Gegenstand der Bioethik sein kann.

Auf der anderen Seite besteht in der pluralistischen postmodernen Gesellschaft auf der Ebene der allgemeinen Grundprinzipien ein Konsens über die allgemeine Verpflichtung, die Freiheit des Nächsten zu achten, so lange sie nicht die Freiheit anderer ungebührlich einschränkt, weiters über die Verpflichtung gerecht zu handeln, sowie über die Maxime das Gute zu tun und das Böse zu meiden, um nur drei Beispiele zu nennen. Dieser Konsens ist zweifelsohne ein guter Ausgangspunkt des akademischen und politischen Dialogs. Aber die Erfahrung zeigt, dass, so bald diese allgemeinen Prinzipien angewendet werden und man die aus ihnen relevanten Normen bzw. Verpflichtungen für die reale konkrete Situation ableiten will, der ursprüngliche Konsens erschüttert wird. Dies ist z.B. der Fall bei vielen Grundfragen, die derzeit die Bioethik beschäftigen. Sie haben meistens mit der Achtung der Würde des Menschen, besonders am Beginn und Ende des Lebens zu tun. Diese und andere Fragen haben eine immer größere politische Brisanz, weil es sich um Fragen wie Abtreibung, künstliche Befruchtung, gentechnologische Eingriffe in die Keimbahn, Drogenkonsum usw. handelt, die unmittelbar mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben und der Gerechtigkeit zusammenhängen und daher von Gesetzen geregelt werden. Aber diese Fragen stellen auch für das persönliche Gewissen der Bürger unserer Zeit ein großes Dilemma dar. Ihre Lösung durch demokratische Mehrheitsentscheidungen kann niemals befriedigend sein, wie die zum Teil sogar gewalttätigen Kontroversen deutlich zeigen.

Dessen ungeachtet betrachten verschiedene ethische Ansätze der Postmoderne den Konsens als die einzige mögliche Antwort auf diese Fragen - vor allem auf der politischen Ebene. Sie zeigen daher ein zunehmendes Interesse an Methoden und Verfahren, die auf irgendeiner Weise zum Konsens beitragen könnten. In der Folge wird zunächst in einem kurzen Exkurs der Stellenwert des „Konsens“ im Laufe der Philosophiegeschichte erörtert, um anschließend auf diese postmodernen Ansätze, die auch in der Bioethik einen großen Einfluss haben einzugehen.

Der „Konsens“ in der Philosophiegeschichte

Bereits ein kurzer Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, dass der Konsensbegriff im Sinne von „consensus omnium“ oder „consensus gentium“ schon in der Antike präsent war: sowohl bei Aristoteles6 als auch bei Cicero7 ist der Konsens ein gültiges Wahrheitskriterium. Doch erst in der politischen Philosophie des XVII. Jhs. z.B. bei Hobbes und mit anderen Nuancen bei Locke, wird der Konsens zum Schlüsselbegriff. Die Regierung wird durch den Konsens der Bürger legitimiert. Und noch mehr: der Konsens ist konstitutiv für den Staat. Der Konsens, als Rückgriff auf den common sense ist sowohl in der englischen Philosophie des XVIII. Jhs. bei Shaftsbury, bei den Moralphilosophen Hume und Hutcheson oder in der schottischen Schule zu finden als auch zweihundert Jahre später in den Gedanken von G.E. More. Die modernen ethischen Strömungen, die von einem verallgemeinernden Prinzip ausgehen – dem Kant’schen kategorischen Imperativ – betrachten den Konsens als Voraussetzung für die allgemeine Gültigkeit der Norm und als ein konstitutives Element der normativen Prinzipien. Es geht dabei um einen virtuellen, d.h. rein theoretischen Konsens. Allerdings hat im letzten Jahrhundert die Reflexion über den Pluralismus zur Entfaltung einer moralischen Theorie des Konsenses und letztlich zu den konsensualen und diskursiven Ansätzen in der Moral geführt. Aber während in der politischen Philosophie der Konsens, wie erwähnt, eine konstituierende und legitimierende Rolle spielt, kann er in der Moral nur ein Requisit für die soziale und politische Geltung der Norm sein, welche die moralische Legitimation letztlich von woanders beziehen muss. Das wollen die modernen konsensualethischen Theorien nicht akzeptieren: vielmehr übertragen sie das auf den politischen Bereich geltende demokratische Prinzip auf den moralischen Bereich und wollen damit den Konsens als die moralisch – legitimierende Instanz statuieren. Es ist eine Art sozialer und politischer Kontraktualismus (Konsens und Pakt), der zur universellen Moral werden soll, ohne zu berücksichtigen, dass auf der politischen Ebene das demokratische Prinzip eigentlich ein mehrheitliches Prinzip ist. Dieses Prinzip fordert die Achtung vor jener innerhalb des Rahmens eines allgemeinen Konsenses mehrheitlich gefassten Entscheidung und kann nicht ohne weiteres auf die moralische Ebene übertragen werden. Der auf der politischen Ebene geltende Konsens, dass die mehrheitlich festgelegten Rechtsnormen als legitim geachtet werden müssen, auch dann wenn es darüber keinen eigentlichen Konsens gibt (d.h. es eine Mehrheit gibt), ist für eine politische Gesellschaft konstitutiv. Aber die zentralen Fragen der Bioethik, die abgesehen von ihrer großen politischen Relevanz unmittelbar die Menschenwürde betreffen und daher individualethische Brisanz haben, d.h. persönliche Gewissensfragen sind, lassen sich durch Mehrheitsentscheidungen nicht zufriedenstellend lösen. Mit anderen Worten würden solche Lösungen an sich gegen die Menschenwürde, d.h. gegen das Gebot der Achtung des persönlichen Gewissens verstoßen. Hier lässt Evangelium vitae keinen Ausweg zu: „Grundlage dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde Meinungs‚mehrheiten‘ sein, sondern nur die Anerkennung eines objektiven Sittengesetzes, das als dem Menschen ins Herz geschriebene ‚Naturgesetz‘ normgebender Bezugspunkt eben dieses staatlichen Gesetzes ist. Wenn infolge einer tragischen kollektiven Trübung des Gewissens der Skeptizismus schließlich sogar die Grundsätze des Sittengesetzes in Zweifel zöge, würde selbst die demokratische Ordnung in ihren Fundamenten erschüttert, da sie zu einem bloßen Mechanismus empirischer Regelung der verschiedenen und gegensätzlichen Interessen verkäme.“8 Dies ist keine theologische sondern eine rein philosophische Argumentation: Keine rationale Ethik, auch nicht die moderne und die postmoderne, würde ihre Zustimmung dazu geben, dass der allgemeine Konsens eine ausreichende Rechtfertigung dafür wäre, eine Norm auch nur für einen einzigen Dissidenten als verbindlich zu erklären.

Postmoderne Ansätze in der Bioethik

In der heutigen bioethischen Argumentation ist es üblich auf die öffentliche Vernunft bzw. auf die Konsensfähigkeit von Thesen zurückzugreifen, um ihre Gültigkeit zu untermauern. Man geht von Prämissen oder Annahmen aus, die schon deshalb als gültig angesehen werden, weil sie im Allgemeinen akzeptiert werden. Man versucht dann, die Konsensfähigkeit von den aus diesen Prämissen abgeleiteten Thesen zu begründen, ohne ihren eigentlichen Wahrheitsgehalt zu hinterfragen. Zwischen mehreren miteinander konkurrierenden Thesen wird jene verteidigt, die den größeren Konsens erzielt. Hoerster behauptet9,10, dass zum Beispiel, um einem Individuum der menschlichen Spezies das Recht auf Leben anzuerkennen und den Schutz seines Leben tatsächlich zu gewähren, es entscheidend sein muss, dass dieses Individuum selbst ein Überlebensinteresse signalisiert. Er reklamiert für seine Position die Anerkennung ihrer Überlegenheit, weil mit ihr ein allgemeinerer Konsens erreicht werden kann. Dass dieser Konsens de facto noch nicht erreicht wurde – so Hoerster – muss darauf zurückgeführt werden, dass die Entwurzelung von stark verankerten, aber überholten Vorurteilen Jahrzehnte benötigt. Harris11, Dworkin12, Singer13, Rawls14 – die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden- greifen ebenfalls auf diesen Konsens zurück. Aber wenn sie in Zusammenhang mit praktischen Fragen der Bioethik von Konsens sprechen, meinen sie in Wirklichkeit nur einen mutmaßlichen oder virtuellen Konsens, der erreicht werden könnte, würden sich die Bürger einmal von unhaltbaren Vorurteilen befreien. Tatsächlich sind bei den kontroversiellen Themen der Bioethik die Konsensaussichten kaum realistisch. Dies hat auch die Konferenz von Bielefeld deutlich zu Tage gebracht.

In der pluralistischen Gesellschaft ist der Konsens über Werte und Prinzipien de facto auf Gesinnungsgemeinschaften beschränkt. Die pluralistische Gesellschaft besteht zwar aus vielen Konsensgemeinschaften, diese stehen aber im Dissens zueinander.15 Das ist ein zentrales Thema der postmodernen Philosophie, deren Huldigung der Differenz zur Entfaltung einer dem divergierenden Pluralismus unserer Gesellschaft angemessenen Dialektik von Konsens/Dissens geführt hat. Im postmodernen Denken ist der Konsens nicht mehr das anzustrebende Ziel und der Dissens auch nicht das zu meidende Übel, denn jeder soziale Prozess ist ein auf dieser Konsens-Dissens-Dialektik basierender Vorgang. Der Dissens ist dabei der dynamische und der Konsens der statische und stabilisierende Faktor des Prozesses.

Ethische Ansätze wie der dialogische von Habermas oder jener der öffentlichen Vernunft von Rawls, versuchen auch nicht den Dissens bezüglich der Prinzipien, Werte oder praktischen Fragen zu überwinden, vielmehr soll man zu einem minimalen Konsens auf der metaethischen Ebene gelangen. Sie sollen den formalen Rahmen festlegen, innerhalb dessen verschiedene und sogar divergierende ethische Auffassungen über das gute und glückliche Leben nebeneinander in einer Gesellschaft koexistieren können. Überdies wollen diese Ansätze zu einem Verfahren beisteuern, das aufkommende Konflikte in Frieden löst. Rawls betont, dass dieser minimale Konsens auch moralisch und nicht nur formal ist. Für ihn ist er nicht ein „modus vivendi“, sondern vielmehr und vor allem ein Pakt, dessen Nicht-Einhaltung sich für den Paktbrecher nachteilig auswirken muss.16 Um zu diesem Pakt zu gelangen, ist ein „Band der Neutralität“ erforderlich, d.h. dass jede partikuläre Ansicht über das gute und glückliche Leben auf den Anspruch der allgemeinen Gültigkeit, auf eine Überlegenheit gegenüber den anderen Ansichten und sogar auf die eigene Artikulation im kommunikativen Prozess verzichtet. Habermas stellt mit seiner Diskursethik eine zu Rawls verwandte, aber doch verschiedene Position dar17 und ist auch nicht am faktischen Konsens interessiert, weil er eigentlich kein Kriterium für die Wahrheit beinhaltet. Er versucht zu einem rationalen Konsens zu gelangen. Dieser entsteht, nachdem die Kommunikationsgemeinschaft der Betroffenen in einem realen oder virtuellen praktischen Diskurs, frei von zeitlichen und räumlichen Begrenzungen und von irgendwelchem fremden Druck von außen die Geltungsansprüche der zu Diskussion stehenden Normen geprüft hat. Das Ergebnis dieses Diskurses soll das Richtige sein. Die Anwendung des Universalisierungsprinzips von Kant, zu dem Habermas sein ethisch-dialogisches Prinzip hinzufügt, führt zur Gleichstellung von Universalität und normativer Gültigkeit, wenn erstere im Rahmen eines kommunikativ-diskursiven Prozesses, der soeben erwähnten Eigenschaften zustande kommt.18

Recht und Ethik: das Richtige und das Gute

Konsensualisten und Kontraktualisten erreichen den Konsens, indem sie in der Ethik drei Ebenen unterscheiden, nämlich die formale, die politische und die persönlich-private Ebene. Sie sind damit mehr am Richtigen („fair“ bei Rawls) als am Guten interessiert, d.h. sie beschäftigen sich daher mit dem metaethischen Konsens, der auf der formalen Ebene erreicht wird (Rahmenkonsens), aber auch mit den politischen Kompromissen, die unter Anwendung der Regeln des Rahmenkonsenses sich der Mehrheit erfreuen. Beide gehören zum Bereich des Richtigen. Es wird ein minimaler Konsens angestrebt, der trotz eines Dissenses ein Zusammenleben erlauben soll.

Die theoretische Unterscheidung zwischen der Kategorie des Richtigen und der des Guten ist als methodischer Ansatz zur Annäherung an das Gute durch einen diskursiven Prozess, dessen Ende nicht definiert werden darf und unendlich sein kann, sicherlich legitim. Die Diskursethik schließt aber die Kategorie des Guten aus dem Konsensfindungsprozess aus. Das Gute sei zwar auf der persönlichen Ebene relevant, über das Gute sei aber kein Konsens zu erlangen. Die Ansichten über das Gute und das glückliche Leben werden also in dieser Auffassung abgekoppelt. Dies erklärt auch, warum sie es nicht mehr nötig hat, den Tugenden Aufmerksamkeit zu schenken. Letztlich hat man hier mit einem Neuskeptizismus, der geradewegs zum Minimalismus und sogar zum Relativismus führt, zu tun.

Diese Ansätze, die den Konsens in den Vordergrund der Lösungsfindung bei ethischen Problemen stellen, verwischen den Unterschied zwischen Recht und Moral und reduzieren letztere auf das Erste. Das Recht bewegt sich eher im Bereich des Richtigen, während das Gute das Eigentümliche der Ethik ist. Wird das Gute ausgeblendet, so bleibt nur noch die Moral. Diese reduziert sich auf einen harten Kern von unumstrittenen formalen Regeln, die sich meistens in Form von Verboten ausdrücken. Es ist eine minimalistische Moral. Man kann Bayertz nur zustimmen, wenn er in seiner Kritik an der Habermas´schen Diskursethik behauptet, dass der ethische Formalismus und Minimalismus einen hohen Preis bezahlen muss: nämlich den Verlust der moralischen Identität.19 Diese Ethik lässt nicht die Bestimmung der Güte einer Handlung, sondern nur deren Richtigkeit in den einzelnen Momenten des Diskursprozesses zu. Mit einem Wort, sie ist ein Versuch, den als praktisch unüberwindlich angesehenen Dissens über das Gute durch den mutmaßlichen Konsens über das Richtige zu ersetzen und so noch ein Zusammenleben zu retten.

Die Kritik an der Konsensethik

Die Dialektik Konsens/Dissens der Diskursethik und der kontraktualistischen Ansätze beruht auf zwei Prämissen. Die erste ist die Existenz einer Kategorie des ethisch Richtigen, die verschieden und unabhängig vom ethisch Guten ist, und die zweite ist das Band der Neutralität, das, wie bereits erwähnt, im Verzicht auf jede partikuläre Auffassung über das Gute und das glückliche Leben bei der Suche nach einem übergreifenden Konsens besteht.

Die erste Prämisse stellt eine Auffassung der Ethik dar, die zwischen der politischen Ethik und der Individualethik kaum Berührungspunkte zulässt. Sicherlich muss man der Sozialethik oder der politischen Ethik ebenso wie allen anderen sogenannten „Bindestrichethiken„ eine formelle Spezifität zugestehen, dennoch, wenn man von der einen einzigen Vernunft ausgeht, muss man die Ethik als ein systematisches strukturiertes Ganzes sehen, so dass die einzelnen Zweige nur Aspekte einer Realität foccusieren und deshalb miteinander untrennbar in Verbindung stehen.20 Diese ganzheitliche Auffassung der Ethik, die sich zwangsläufig aus der Einheit der menschlichen Vernunft ergibt, ist gerade das, was die Konsensethik mit ihrer Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Guten und der Ausblendung dieser letzten Kategorie aufgelöst hat. Damit wird der individualethische Aspekt der Fragen, wenn nicht ausgeklammert, zumindest stark entstellt.

In vielen wirtschaftlichen, arbeitsethischen und familiären Fragen gibt es einen gewissen Spielraum von Lösungen, die ethisch ziemlich gleichwertig und für einen Konsens ohne weiteres tauglich sind, die aber in den meisten Grundfragen der Bioethik, die den Respekt und die Achtung der Würde des Menschen und des Lebensschutzes betreffen (z.B. Abtreibung, Euthanasie und künstliche Befruchtung) keinen Spielraum, sondern nur ein Entweder/Oder zulassen. Es ist unmöglich die privaten von den öffentlichen Werten (Gütern) ganz zu trennen, weil private Güter durch die soziale Struktur der Person eine soziale Dimension und Relevanz besitzen, die nicht von der Rechtsordnung ignoriert werden können, wenn man sie in das Gemeinwohl (Bonum communis) integrieren will.21 Rodríguez Luño hat gezeigt, dass die monistische Lösung von Aristoteles - für den das Gemeinwohl und das in den Tugenden ausgedrückte persönliche Wohl (private Güter) - deckungsgleich sind, nicht zufriedenstellend ist; andrerseits kann jedoch auch jene Lösung, wie die von Habermas oder Rawls, die indirekt die Einheit der praktischen Vernunft leugnet, nicht annehmbar sein. In der Ethik ist die Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten legitim und notwendig, aber sie entspricht nicht der Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Guten in dem Sinn, dass das Öffentliche der Bereich des Richtigen und das Private der Bereich des Guten wäre. Die systematische Strukturierung der Ethik als ein Ganzes, das sowohl die politische wie auch die persönliche Ethik als partikuläre Aspekte integriert, setzt voraus, dass die reale Beziehung zwischen dem politischen Gemeinwohl (öffentliche Güter) und dem Wohl der Einzelnen (private Güter) berücksichtigt wird und in der Gesellschaftsordnung zum Tragen kommt. Es ist für den Fundamentalismus typisch, keinen Unterschied zwischen diesen zwei Güterarten zu machen. „Man muss klar sehen, dass die Menschen vor einer doppelten Frage stehen, sie müssen gut leben und sie müssen zusammenleben: das Gut-leben ist wichtiger, aber das Zusammenleben ist ein Fundament des guten Lebens.“22 Diese zwei Fragen dürfen also nicht voneinander getrennt werden. Ansätze, die nur das Richtige suchen, versuchen das Zusammenleben zu lösen, ohne die Bestimmungsfaktoren des Gut-lebens zu berücksichtigen. Diese führen, wie manchmal sogar ihre eigenen Verteidiger zugeben, aber letztlich dazu, die Positionen der Mehrheit durchzudrücken.23

Anderseits gehört diese erste Prämisse zum ethischen Fundament des sogenannten starken Liberalismus, der Streitfragen der Moral aus dem öffentlichen Raum verbannt hat.24 Die Grundfrage der Ethik wird damit umgedreht. Statt der Frage nach den Bestimmungskriterien des Guten nachzugehen, in der Erwartung, dass diese als gut festgelegten Kriterien auch zum Konsens führen, wird lediglich die Frage gestellt „worauf man sich noch einigen könne“. Der Konsens – die Ansicht der Mehrheit – wird somit zum Kriterium des Bonum communis erhoben. Man übersieht leicht den Zirkelschluss, der aus dieser Prämisse folgt, weil jener Konsens, der eigentlich als Folge des ethischen Diskurses auch erreicht werden sollte, bereits am Beginn desselben Diskurses schon vorausgesetzt und damit der ethische Diskurs de facto überflüssig ist.

Die zweite Prämisse, das Band der Neutralität, scheint eher jener theoretischen Fiktion zu entsprechen, die jeden Liberalismus begleitet, der die Neutralität der Verfassung und des Staates postuliert. Es handelt sich um einen Widerspruch in sich. Wie Rhonheimer richtig darlegt, ist bestenfalls nur eine Scheinneutralität erreichbar. Hinter der Forderung nach einer „neutralen Rahmenbedingung„ oder „neutralen Regelung„ steckt auch eine Ideologie, in dem Fall eine liberale. Solche Forderungen sind daher so wenig neutral wie jede andere ideologische Forderung.25 Die Annahme des „zweiten“ Rawls26, dass ein überlappender Konsens („overlapping consensus“) erreichbar ist, weil alle partikulären rationalen Auffassungen über des gute Leben gemeinsame moralische Annahmen und Ziele haben, die auf eine gemeinsame philosophische Grundlage hindeuten, scheint mit seiner anderenThese im Widerspruch zu stehen: „Um einen Konsens zu erreichen, ist es notwendig, dass die politische Philosophie so weit wie möglich versucht, unabhängig und autonom von anderen Teilen der Philosophie, insbesondere aber von den traditionellen philosophischen Problemen und Kontroversen zu bleiben“27 (Band der Neutralität). Haldane28 hat darauf aufmerksam gemacht, dass Rawls seine Neutralitätsbindung verlässt, wenn er der Frage der Legitimität der Abtreibung nachgeht.29 Nach Rawls muss sich eine politische Ethik nach der öffentlichen Vernunft richten, die bei Konfliktsituationen in der Abwägung der allgemeinen Rechte und Interessen der Beteiligten besteht. Er meint, dass demnach, „das Gesetz den Frauen ein in gebührender Weise qualifiziertes Recht zusprechen sollte, innerhalb eines bestimmten Zeitraums, sagen wir des ersten Trimesters, selbst darüber zu entscheiden, ob sie ihre Schwangerschaft fortsetzen wollen oder nicht. Die Möglichkeit eines legalen Schwangerschaftsabbruches weiter zu begrenzen, würde meines Erachtens auf eine unvernünftige Abwägung politischer Werte hinauslaufen.“30 Der Selbstwiderspruch Rawls besteht darin, dass seine normative These, die öffentliche Vernunft dürfe keine partikulären, ethischen Auffassungen berücksichtigen, auch für seine eigene Auffassung zu treffen müsste. Es ist nicht einzusehen, warum plötzlich die Norm, die er für alle postuliert, für ihn selbst nicht mehr gelten soll. Auch nicht ganz frei von intellektueller Arroganz ist die Behauptung, dass das Band der Neutralität Bestandteil einer methaetischen Theorie ist, die sich eigentlich gegenüber philosophischen und religiösen Auffassungen neutral verhält. De facto aber – wie oben bei der konkreten Frage der Abtreibung gezeigt wurde – ist diese Art von Argumentation nur eine weitere philosophische Auffassung, die für sich in keiner Weise eine „Metaposition„ gegenüber anderen ethischen Auffassungen beanspruchen darf.

Konsensualismus und Prinzipialismus – eine politische Bioethik in der Krise

Diese konsensualistischen Ansätze haben zweifelsohne eine theoretische und vor allem auch eine praktische Attraktivität, weil sie bei schwierigen politischen Fragen wie die der Regelungen der Arzt-Patient-Beziehung oder der Verteilung der Gesundheitsressourcen usw. den Konsens in der pluralistischen und säkularisierten Gesellschaft erleichtern. Daher finden diese Ansätze in der Bioethik immer mehr Anhänger. H.T. Engelhardt sieht in den sogenannten „rights of privacy“, eine Lösung für die moralischen Dilemmata – wie zum Beispiel die künstliche Befruchtung – die der divergierende Pluralismus unserer Gesellschaft im bioethischen Bereich aufwirft.31,32 In seiner Argumentation erkennt man die Nähe zu Rawls, denn das Ziel des Ansatzes „rights of privacy“ besteht darin, am Konsens jenes Minimum zu suchen, das ein Maximum an persönlicher Freiheit sichert. Aber die klassische liberale Strategie, alle moralischen Konflikte in den privaten Bereich zu verlegen und sie damit aus der Öffentlichkeit zu verbannen, bringt weder auf der privaten noch auf der öffentlichen Ebene eine Lösung, sondern verdrängt sie nur.33

In Europa hat Hans Martin Sass, der de facto eine Brückenfunktion zwischen der amerikanischen und der deutschen Bioethik ausübt, als Alternative zu jenen Ansätzen, die von dem generalisierenden Prinzip Kants ausgehen und deduktiv den Konsens suchen, eine Differentialethik vorgeschlagen. Er fasst vier Eigenschaften der Differentialethik zusammen: 1) Weltanschauliche Offenheit; 2) Instrumentalisierung der verschiedenen Weltanschauungen zur Erreichung einer partnerschaftlichen Entscheidung in einer pluralistischen Gesellschaft; 3) Orientierung am Detail, an der Person und an der Situation; 4) Fokussierung des Einzellfalls unter Hintansetzung genereller Prinzipien.34 Das Konzept ist allerdings noch kaum im Detail entwickelt, scheinbar geht es um einen kasuistisch-konsequentialitischen Ansatz der Konsensfindung.

Wahrscheinlich waren der vorherrschende Prinzipialismus und die öffentliche Relevanz der aktuellen bioethischen Themen dafür maßgeblich, dass dieser junge Zweig der Ethik sich immer mehr zur politischen Spezialethik entwickelt hat. Die kommunikativen Prozesse und der Konsens sind in der politischen Ethik sehr wichtig; die moderne und die postmoderne Ethik haben sich sehr intensiv mit beiden befasst und ihre große Bedeutung anerkannt. Man darf gleichzeitig aber nicht übersehen, dass in den besonders wichtigen Fragen, in denen unermessliche Werte und unveräußerliche Rechte wie das Leben selbst und die Würde des Menschen auf dem Spiel stehen (Abtreibung, Genmanipulation, Fortpflanzung, Euthanasie usw.), jene theoretischen Ansätze, die den Konsens als ihr unmittelbares Ziel und den intersubjektiven Diskurs als das dazu angemessene methodische Verfahren vorsehen, keine zufriedenstellenden Lösungen liefern. Diese Ansätze sind auf die politische Legitimation stark fixiert und weniger um die Wahrheit oder das Gute bemüht. Man muss Höffe beipflichten, der in Zusammenhang mit der Position von Habermas bemerkt hat, dass die Diskurstheorie keine überzeugende Wahrheitslehre ist.35 Tatsächlich vermisst man den Versuch, ihre Thesen an eine Wahrheit über das gute und glückliche Leben zu binden. Die lange philosophische Tradition, die von Plato und Aristoteles ausgeht (Ethik des gelungenen Lebens oder auch kurz Lebensethik), hat gezeigt, dass diese Verknüpfung die Tugendlehre allein leistet. Durch die Tugend bleibt in der Praxis die Ethik an die Wahrheit gebunden.36

In den Vereinigten Staaten wurden in der letzten Zeit die Stimmen gegen den Prinzipialismus immer lauter.37 Man kann heute bereits von einer Krise sprechen. Diese Krise hängt zweifelsohne mit der Vernachlässigung der Tugendlehre zusammen. Damit kann die prinzipialistische Bioethik ihren Anspruch, eine autonome Ethik zu sein, nicht mehr einlösen. Denn das Grundprinzip der Autonomie allein genügt nicht, damit die Moral autonom ist. Der Prinzipialismus bleibt eine heteronome Ethik, das heisst ein System von fremdbestimmten Prinzipien und Verhaltensregeln, sofern der Mensch sich diese nicht auf eine, seiner rationalen und gleichzeitig affektiv-sinnlichen Natur angemessenen Weise verinnerlicht, d.h. zu eigen macht. Gerade diese Verinnerlichung ist das, was nur die Tugend leistet.

Der Konsens ist sehr wichtig, er ist notwendiger Bestandteil des politischen Ethos, darf aber nicht das Ziel der Bioethik sein, sondern eher die Folge ihres Bemühens um die Wahrheit, die - so unzugänglich sie auch erscheinen mag - immer das Ziel der philosophischen Reflexion ist und bleiben muss. Der Konsens wird manchmal trotz Wahrheitssuche nicht leicht sein, aber ein Konsens ohne Wahrheit darf nicht zum Gegenstand der Bioethik werden. Wenn man sehnsüchtig und ungeduldig den Konsens anstrebt, wird die Versuchung sehr groß, im Umkehrschluss den Konsens als Kriterium der Wahrheit zu nehmen. Ein Bestandteil des politischen Ethos der Demokratie ist der Respekt vor Mehrheitsentscheidungen, aber sie werden deshalb nicht zum Ermittlungsverfahren der Wahrheit erklärt, noch bekommen sie auf demokratischem Wege ihre moralische Legitimation. Man müsste umgekehrt darauf bestehen, dass die Mehrheit nur jene Entscheidungen trifft, die den Kriterien der Wahrheitsfindung am besten entsprechen und deshalb moralisch auch legitimiert werden können. Man darf nicht so argumentieren, als würde die Suche nach der Wahrheit nicht auch dem politischen Ethos angehören.

Das Ziel der politischen Ethik ist nicht der Konsens, sondern das politische Gemeinwohl, das in den konkreten Fragen nicht selten weit entfernt vom Konsens oder den Präferenzen der Mehrheit liegt. Eine wichtige Funktion der politischen Ethik liegt gerade darin, Unterscheidungskriterien zwischen jenen Ansprüchen zu finden, die im demokratischen Diskurs geachtet werden müssen, und jenen, die keinen Respekt verdienen, weil sie gegen das Gemeinwohl verstoßen. Das Recht auf Abtreibung kann z.B. aus der Perspektive einer politischen Ethik des Gemeinwohls, die das Lebensrecht und das Prinzip der Nichtdiskriminierung postuliert, keinen Anspruch auf Respekt erheben. Die politische Ethik wird ein solches Recht nicht aus religiösen Gründen ablehnen, weil es etwa gegen das fünfte Gebot verstößt, sondern weil es dem Recht, das für das Gemeinwohl konstitutiv ist, entgegengesetzt ist. Leider kann man nicht behaupten, dass sich die Bioethik bis jetzt als eine politische Ethik des Gemeinwohls entwickelt hat, sondern eher als eine des Konsenses. Dies hat sich in der Bielefelder Konferenz klar gezeigt.

Bioethik als Angewandte Tugendethik

Die moderne Ethik hat eine wichtige anthropologische Vorgabe verdrängt, die der klassischen Lebensethik zugrunde liegt, nämlich die leib-seelische Einheit des Menschen. Geist und Leib, Vernunft und Sinnlichkeit bilden im Menschen eine Einheit. Der Mensch und alles in ihm ist leib-seelisch geprägt: keine Operation von ihm lässt sich so zum leiblichen oder zum seelischen Teil zuzuordnen, dass diese Einheit in einen Dualismus verfällt. Die Handlungen als Gegenstand der Ethik entziehen sich dieser Prägung nicht.

Der Prinzipialismus und der Konsensualismus teilen diesen Dualismus, in dem sie bei der Rechtfertigung und Geltung von ethischen Prinzipien und Normen den kognitiven, nicht aber den affektiven Teil des Menschen berücksichtigen: Da Erkenntnis und Anerkennung von Pflichten (Normen und Prinzipien) eine rein geistige Tätigkeit sind, wird die Vernunft unabhängig von der emotionalen-sinnlichen Verfassung des Menschen imstande sein, die Prinzipien richtig zu erkennen und der Wille wird auch dieser Vernunft folgen. Diese Unabhängigkeit wird allerdings – so müssen die späten Strömungen der Moderne realistisch einschränken - durch einen interpersonalen Diskurs erreicht, der auf einen Konsens abzielt. Die Anerkennung dieses Konsens ist es, was der Norm oder dem Prinzip eine allgemeine Geltung verleiht. Stocker hat diesen Dualismus der modernen deontologischen Strömungen in der Ethik kritisiert, die sich intensiv mit der Festlegung der Pflicht beschäftigen, die Motivation und die tatsächlichen affektiven Tendenzen des Menschen aber außer Acht lassen. Sie bestimmen was zu tun ist, versagen aber darin, „das Gute, das zu tun ist„ zu begründen und zu zeigen „wie man die eigenen Tendenzen auf das Gute hin steuert“.38 Das ist gerade, was die in der Lebensethik verankerte Tugendlehre leistet. Ihr zufolge fließen die Handlungen des Menschen unmittelbar aus seinem geistigen (dem Willen) und seinem sinnlichen Strebevermögen (organisch und physiologisch bedingte Tendenzen und Neigungen der Sinne), und mittelbar aus der im Strebevermögen eingebetteten praktischen Vernunft. Letztere erkennt, was zu tun, gut ist, und beeinflusst das Strebevermögen, das eigentliche Handlungsvermögen. Dennoch determiniert die Vernunft den Willen nicht. Bereits Aristoteles zeigte, dass die Vernunft nicht eine despotische Herrschaft über das Strebevermögen führt, sondern „eine politische Herrschaft über Freie“.39 Nun, ist die Tugend das, was das Strebevermögen auf dem von der Vernunft erkannten Guten hinordnet. Aber man darf die Tugend nicht als eine Art Züchtigung des Strebevermögen, das völlig der Vernunft unterworfen wird, ansehen, denn die Vernunft, die vom Willen bewegt wird, vermag in den Neigungen und Tendenzen des sinnlichen Strebevermögen, fern von jedem Naturalismus einen Sinn (Teleologie) zu erkennen, der zur Grundlage des Unterscheidungsprinzip zwischen Gut und Böse wird. Die praktische Vernunft bestimmt also in jeder konkreten Situation, was zu tun gut ist. Wenn aber die Vernunft in ihrem eigenen Akt von Affekten und Leidenschaften verhindert wird, wird der Mensch das für gut halten, was objektiv eigentlich nicht gut ist. Die Tugenden ordnen die Affekte und Leidenschaften, sodass sie die Vernunft in ihrem Akt nicht stören, sondern sie auch auf das Gute hinorientieren.40 Sie erscheinen somit einerseits als Befreiung und Freiheit der Vernunft und anderseits, als Garant, dass dem richtigen Urteil der Vernunft gefolgt wird. A.M. Gonzalez hat die Tugenden als „eine Frucht des „Dialogs“ zwischen Vernunft und Natur“41 sehr treffend beschrieben. Und der Hl. Thomas spricht in diesem Zusammenhang immer von recta ratio (rechte Vernunft). Bei ihm hat nur die rechte Vernunft den Namen Vernunft bekommen, nicht aber die irrige, affektierte oder krankhafte, die weder die Wahrheit noch das Gute zu erfassen vermag: „ratio corrupta non es ratio42. Aus dem kann man folgern, dass bei einer Ethik, die auf Prinzipien aufbaut und Tugenden vernachlässigt, keine Gewähr gegeben ist, dass ihre Prinzipien und die daraus abgeleiteten Normen in der rechten Vernunft gründen. Das ist das Problem der erwähnten Strömungen in der Bioethik: der Konsens garantiert nicht die Vernünftigkeit der Normen und die Richtigkeit der Prinzpien, denn wie schon Aristoteles ausführlich erläuterte, das Laster verdirbt das Handelnsprinzip und zerstört das praktische Urteilsvermögen.43

Aber natürlich ist die Bioethik als angewandte Ethik keine Tugendethik in dem Sinn, dass sie spezielle bioethische Tugenden ausarbeiten sollte. Hauptaufgabe der Bioethik ist, eine Handlungstheorie zu entwerfen, die es erlaubt, eine bestimmte Art von Handlungen sittlich zu bewerten und zu typisieren. Sie untersucht die Natur und Struktur jener Handlungen, die mit Eingriffen des Menschen in sein eigenes biologisches Leben oder in jenes anderer Lebewesen zu tun haben. Es geht um sehr komplizierte Zusammenhänge, wie die Genetik, die Fortpflanzungsmedizin, die Palliativmedizin usw., die in ihrer Natur sich dem Handelnden nicht unmittelbar erschließen, sodass er sofort wissen müsste, was er im sittlichen Sinn eigentlich tut. Man kann beispielsweise einen bewusstlosen schwerkranken Menschen künstlich Flüssigkeit und Nahrung zuführen: in manchen Fälle wird dadurch der Patient gerettet und in manchen Fälle vielleicht nur die Agonie verlängert werden. Die Grenze zwischen diesen beiden Situationen so genau wie möglich zu definieren, ist ganz wichtig, um festzustellen, ob man beim gleichen Tun eigentlich heilt, quält oder tötet. Die Beurteilung der Sittlichkeit der Handlung, das eigentliche Ziel der Ethik, setzt somit eine vorgelagerte Handlungstheorie voraus. Darin besteht im wesentlichen die Aufgabe der angewandten Ethik. Diese, so auch de Bioethik, ist keine in sich geschlossene Disziplin, sie wendet Kriterien der Sittlichkeit an, die sie nicht aus ihrer Analyse ableiten oder begründen kann. Sie ist da auf die allgemeine Ethik angewiesen, d.h. auf die Tugenden und die Prinzipien.

Im Zusammenhang mit dem Konsensualismus und dem Prinzipialismus stellt sich auch die Frage, welche Art von Rationalität eine Ethik hat, die die Tugendlehre ignoriert? Und in weitere Folge: Welchen Konsens kann man in einer „Lastergesellschaft“ erreichen? Man wird nicht ausschließen können, dass ein solcher Konsens theoretisch mit dem Gemeinwohl noch etwas zu tun haben könnte, aber man darf nicht vergessen, dass auch das politisch-gute-Handeln eine Frage der politischen Tugenden ist.44 Im Lichte der Lehre von der Einheit der Tugenden (die Tugend bildet insofern eine Einheit, als eine Handlung nicht gemäß einer Tugend gut und gemäß einer anderen böse sein kann), wird man nur skeptisch über die moralische Qualität des Konsenses in einer „Lastergesellschaft“ sein können. Was für einen Wert hat ein solcher Konsens? Wie oben erwähnt, gibt der Konsens nicht Gewähr für Rationalität. Dies kann nur durch die Tugendlehre erreicht werden. Es geht aber, wie bereits erwähnt, nicht darum, spezifische bioethische Tugenden zu entdecken. Die Tugendlehre hat allgemeinen Charakter, es geht also vielmehr darum, in die Bioethik die Tugendlehre als Ergänzung zu der speziellen Handlungstheorie einzubeziehen.45

In der gegenwärtigen Diskussion um die Tugenden behaupten die Prinzipialisten46, dass, obwohl Tugenden und Prinzipien nicht dasselbe sind, der Unterschied gar nicht so groß ist, denn es gibt zwischen ihnen eine klare Korrespondenz, d.h. jede Tugend kann einem gleichnamigen Prinzip zugeordnet werden, sodass dadurch beide Begriffe kompatibel werden. Tatsächlich sind die normativ-kognitiven Prinzipien der praktischen Vernunft die Ziele und auch Wegweiser der Tugenden. Aber einerseits enthält der Tugendbegriff neben dieser kognitiven Dimension (den Prinzipien), eine handlungsbezogene affektiv-intentionale Dimension (die Hinordnung der Tendenzen und der Affekte auf das letzte Ziel) und eine ebenfalls handlungsbezogene elektive Dimension (die Wahl der geeigneten Mittel zur Erreichung des Zieles). Die zwei zuletzt genannten Dimensionen sind den Prinzipien fremd. Diese zwei handlungsbezogenen Dimensionen vermögen auf der Ebene der konkreten partikulären Situation die Entscheidungen im Sinne der moralischen universellen Prinzipien, d.h. auch der Wahrheit zu treffen und der Entscheidung gemäß zu handeln.47 Und anderseits wir bereits oben erwähnt, sind die praktische Prinzipien überhaupt ohne Tugenden schwer erkennbar.48

Ausblick: Die Bioethik sollte sich sowohl als eine angewandte Individualethik als auch als eine politische Spezialethik entwickeln.49 Es sind, wie oben erwähnt, keine verschiedenen Ethiken, sonder systematisch gegliederte Teile einer einzigen Wissenschaft der praktischen Vernunft. Die klassische und die moderne Ethik stimmen darin überein, dass sie die Gerechtigkeit als ihren zentralen Gegenstand wählen. Aber während die klassische Ethik außerdem dazu tendiert, der Wahrheit und der Tugend den Vorrang über Frieden und Freiheit einzuräumen, unterstellt die moderne Ethik den Frieden, die Wahrheit und die Tugenden der Autonomie. Die klassische Ethik hat vor allem ihr Ziel in das gute Leben gesetzt, die Moderne auf das friedliche Zusammenleben. Da es aber darum geht, gut und glücklich zusammenzuleben, muss man beide Bestandteile der ethischen Grundfragen gut miteinander verbinden. Dies erfordert eine harmonische Entwicklung beider Perspektiven der Bioethik – der persönlichen und der politischen. Auch als politische Ethik braucht die Bioethik die Tugenden, denn keine formal und auch inhaltlich richtige Konsenslehre kann an der Tugendlehre vorbeigehen.50 Die Bioethik müsste sich also in der nächsten Zukunft viel stärker der Tugendlehre zuwenden, auch um in schwierigen Fragen einen Konsens zu erreichen.

Referenzen

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  3. Prinzipialismus steht hier für den in der englischen (USA) Fachliteratur eingeführten Terminus Prinzipialism, der manchmal auf deutsch auch mit Prinzipismus übersetzt wird. Damit wird ein ethischer Ansatz bezeichnet, der auf Prinzipien und nicht auf Tugenden gründet.
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  40. Eine genaue Darstellung des Zusammenwirkens von praktische Vernunft und Strebevermögen, in ihre kognitiven und operativen Funktion bietet Rhonheimer, M., Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, (1994) und Die sittlichen Tugenden. Anthropologie und praktisch-kognitive Dimensionen in diesem Heft, S. 103
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  48. Dies wird in Rhonheimer, M., La prospectiva della morale. Fundamenti dell'etice filosofica., Armando Editore Roma (1994), S.239-255
  49. Es ist klar, dass jede Ethik eine „persönliche„ oder eine Individualethik ist. Sie beurteilt die sittliche Qualität der menschlichen Handlungen, die immer persönlich sind. Deshalb ist auch die politische eine persönliche Ethik, jedoch werden in ihr die (politischen) Handlungen unter dem spezifischen formalen Aspekt ihres Dienstes zum Gemeinwohl beurteilt. Deontologische und utilitaristische Ansätze führen de fakto zu einer Ethik für den „Zuschauer“, d.h. für einen fiktiven Nichthandelnden, der die Handlung des (politisch) Agierenden „objektiv“ beurteilt. Über die Problematik dieser Ansätze, die auch als Ethik der dritten Person genannt werden vgl. Abbà, G., Felicitá, vita buona e virtú, LAS, Roma 1989.
  50. Rodriguez Luño, A., Ética Personal y Ética Política, in Banùs, E., Llano, A., Razón práctica y multiculturalismo, Pamplona (1999), S. 284

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Prof. Dr. Enrique H. Prat, Geschäftsführer des IMABE-Instituts
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