Editorial

Imago Hominis (2000); 7(1): 5-6

Das zunehmende Interesse für Ethik in allen Bereichen der Gesellschaft und die damit verbundene Entstehung und Entwicklung der sogenannten Bindestrichethiken – z.B. Bio-ethik, Wirtschafts-ethik, Kunst-ethik, Öko-ethik, Medien-ethik, Berufs-ethik usw. – haben zweifelsohne eine Intensivierung der Reflexion über die Grundlagen der Ethik mit sich gebracht. Eine Frage, die sich dabei immer stärker in den Vordergrund der akademisch – ethischen Diskussion drängt, ist die des Stellenwerts der Tugenden in der Ethik. In der bis vor wenigen Jahrhunderten vorherrschenden ethischen Tradition, die auf Hippokrates und Aristoteles zurückgeht, spielen die Tugenden eine Schlüsselrolle, die sogar zur Bezeichnung dieser Ethik als Tugendethik geführt haben. Die Grundthese Aristoteles könnte so formuliert werden: Nur der gute Mensch (der Tugendhafte) kann letztlich wissen, was gut oder schlecht ist. Er hat es damit begründet, dass allein das Wissen um das Gute nicht genügt, um tatsächlich gut zu handeln; nur der Tugendhafte schafft es. Es kommt hinzu, dass wer eine Handlung, die er für gut hält, wiederholt nicht tut, bald diese nicht mehr für gut halten wird. Diese ethische Tradition setzt die Sittlichkeit der Handlung in Zusammenhang mit dem Lebensziel des Menschen, und wird auch manchmal, in Abgrenzung zu einer Handlungsethik, die die Handlung unabhängig vom Lebensziel des Handelnden betrachtet, als Lebensethik bezeichnet. Für die Lebensethik ist keine Handlung gut, die für das Gelingen des Lebens abträglich ist. Gerade der Konnex zwischen den einzelnen Handlungen und dem Gelingen des Lebens macht das Wesen der Tugenden aus: jeder Tugendakt ist schon ein Stück des Gelingens des Lebens.

Für die Moderne war die oben erwähnte Grundthese des Aristoteles ein Affront gegen die Vernunft: wie kann man überhaupt das Gute tun (tugendhaft sein), haben sich die Philosophen der letzten Jahrhunderte gefragt, wenn man, um zu wissen, was das Gute ist, vorher schon gut (tugendhaft) sein muss. Sie haben hier einen unüberwindbaren Widerspruch gesehen. Daraufhin wurde eine Handlungsethik in zwei Richtungen entwickelt. Die utilitaristisch-konsequentialistische Ethik, die das Gute mit dem Nutzen gleichsetzt und die Sittlichkeit von der Nutzen- bzw. Folgenbilanz abhängen lässt und die deontologische Ethik, die sich von der Kategorie des Guten verabschiedet und die Pflicht als zentralen Begriff des Sittlichen wählt: jeder soll seine Pflicht, d.h. das, was zur allgemeinen Norm erhoben werden kann, erfüllen (kategorischer Imperativ).

Die Moderne hat damit also eine Ethik der mündigen Vernunft entwickelt, und von einem, tugend- und lebenszielunabhängigen Sittlichkeitsbegriff abgesehen. In der letzten Zeit wurde aber immer wieder zugegeben, dass man in der Praxis ohne erworbene Grundhaltungen nicht auskommen kann. Man akzeptiert, dass dem Erwerb dieser Haltungen (Tugenden) eine gewisse Bedeutung im Vorfeld der Sittlichkeit zukommt.

Die Bioethik und die aktuelle ärztliche Ethik sind ein Produkt der Moderne. Sie befassen sich in erster Linie mit Prinzipien der Sittlichkeit und auch sie geben den Tugenden kaum eine Bedeutung. Auch hier werden aber jene Stimmen immer lauter, die eine Einbindung der Tugenden in die Bioethik und vor allem in die ärztliche Ethik verlangen. Offensichtlich ist eine sehr fruchtbare Diskussion im Gange. In dieser Nummer von Imago Hominis wollen wir den Stand dieser Diskussion zwischen Prinzipien und Tugenden in der Bioethik mit den Beiträgen von zwei Philosophen und Bioethikern, Ana Marta Gonzalez und Walter Schweidler und einem Mediziner, Hans Thomas, der im Bereich des ärztlichen Berufsethos Experte ist, publizieren. Das Thema der Tugenden in der Bioethik wollen wir auch weiterhin behandeln und sehen mindestens ein zusätzliches Heft, vielleicht sogar zwei, für die nächste Zeit vor.

Außerdem sollen in diesem ersten Heft des Jahres 2000 zwei neue Rubriken eingeführt werden. Der ersten geben wir den Namen „Sinnorientierte Medizin (S.O.M)“. Im Heft IH 3/99 haben wir das Konzept der Sinnorientierten Medizin vorgestellt. Das unerwartet positive Echo hat uns dazu veranlasst, zukünftig in jeder Nummer eine kurze S.O.M.-Bewertung zu veröffentlichen. Wichtige Ergebnisse von Multicenterstudien werden in dieser Rubrik anhand der S.O.M.-Kriterien (Wirksamkeit, Relevanz und Verhältnismäßigkeit) kommentiert. Neben dem Service für unsere Leser, die im medizinischen Bereich tätig sind, können die konkreten S.O.M.-Bewertungen auch als Anregung gelten. Die Ergebnisse der Forschung sollen mit „geläutertem“ Blick betrachtet werden, ohne von wirtschaftlichen Interessen getrübt zu sein.

Eine zweite Rubrik, die wir für die vier Nummern des Jahres 2000 vorsehen, soll den medizinisch-ethischen Reflexionen namhafter Mediziner gewidmet sein. J. Smolle aus Graz hat den ersten Beitrag dieser Reihe verfasst.

Die Herausgeber

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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