Von den Tugenden des Patienten

Imago Hominis (2000); 7(2): 115-124
Dietrich von Engelhardt

Zusammenfassung

Der Patient hat in historischerwie gegenwärtiger Sicht nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten und kann Tugenden leben, was sich am Umgang mit der Krankheit, an der Beziehung zum Arzt, der Euthanasie und Forschung zeigen lässt.

Schlüsselwörter: Tugenden, Rechte und Pflichten des Patienten, historische Entwicklung, gegenwärtige Bedeutung, Arzt-Patient-Beziehung, Euthanasie, Forschung

Abstract

In a historical as well a contemporary perspective, the patient does not only have rights, but also duties, and can implement virtues which can be shown in his coping with disease, the relationship with the physician, euthanasia and research.

Keywords: virtues, rights and duties of the patient, historical development, contemporary significance, physician-patient-relationship, euthanasia, research


I. Zusammenhänge

Die Gegenwart wird von einer asymmetrischen oder einseitigen Verteilung der Rechte und Pflichten auf Patient und Arzt beherrscht, von Tugenden wird nicht gesprochen: Rechte besitzt der Patient, Pflichten hat der Arzt. In der Vergangenheit war dagegen umgekehrt stets auch von Pflichten des Patienten und Rechten des Arztes die Rede; im übrigen wurde ebenfalls die Auffassung vertreten, dass Arzt und Patient wie auch Mitmenschen sich von Tugenden leiten lassen können und auch sollten.

Krankheit ist nicht nur ein Zustand, ein Sein, sondern vor allem eine Haltung, ein Bewusstsein eines Menschen. Der Patient leidet an einer Krankheit und muss mit ihr umgehen, er hat sich auf den Arzt und die medizinische Institution einzustellen, er steht in sozialen Kontakten und beeinflusst mit seiner Krankheit das Leben anderer Menschen. Der Patient nimmt nicht nur Symptome an sich wahr, sondern bewertet sie auch und kann sich seiner Situation angemessen verhalten oder ihr gegenüber versagen.

Medizinische Ethik lässt sich nicht nur auf den Arzt und die Gesellschaft begrenzen, sondern gilt immer auch dem kranken Menschen. Der Patient ist auf den Arzt, auf andere Patienten und die Umwelt bezogen, der Arzt auf den Patienten, die Kollegen, die Medizin und die Umwelt, die selbst wiederum mit dem Arzt und dem Patienten in einer Verbindung steht. Dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient kommt in diesem Beziehungsgefüge aber ohne Zweifel eine herausgehobene Bedeutung zu, die sich weder relativieren noch überwinden lässt. Die Ethik des Patienten wird – wie die Ethik des Arztes – von philosophischen und anthropologischen Voraussetzungen, von politisch-juristischen und wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen, von individuellen Faktoren und nicht zuletzt vom diagnostisch-therapeutischen Entwicklungsstand der Medizin beeinflusst.

Ethos und Ethik oder sittliche Einstellung und sittliches Verhalten auf der einen und ethische Begründung auf der anderen Seite hängen zwar miteinander zusammen, sind aber nicht identisch. Zwischen Geboten und Praxis besteht ebenfalls ein Zusammenhang wie zugleich ein Unterschied; die Aufstellung von Pflichten ist keine Begründung und garantiert auch keineswegs schon ihre Realisierung. Die Bibel enthält moralische Gebote, die aber selbst nicht wieder theologisch abgeleitet werden; auch der sogenannte hippokratische Eid ist ein deontologischer Text ohne philosophische Rechtfertigung. Immer wieder zeigt sich für die Ausbreitung sittlichen Verhaltens, welche große Bedeutung dem konkreten Beispiel wie ebenfalls dem individuellen Gewissen und vor allem der Tugend als Kraft des einzelnen Menschen zukommt, sittliche Werte und Normen auch zu verwirklichen. Etikette als etablierte Sitte trägt ohne Zweifel ihrerseits zur Ausbreitung sittlichen Verhaltens bei. 

Entscheidend sind im übrigen aber die Gesetze. Ethik in der Medizin hängt wesentlich von juristischen Sanktionen ab, da sich in der konkreten Realität ethisches Gewissen, ethische Forderungen und ethische Prinzipien nur zu oft als zu schwach erweisen, um sittliches Verhalten zu garantieren. Aber auch Gesetze können nicht alles regeln oder sichern, was für ethisch sinnvoll oder notwendig gehalten wird.

Die Begründung sittlichen oder moralischen Verhaltens wie sittlicher oder moralischer Gebote und Verbote kann von verschiedenen Prinzipien ausgehen, sie kann sich an unterschiedlichen Normen und Werten orientieren. Weltweit werden zur Zeit in der Bioethik oder Medizinischen Ethik vor allem folgende Prinzipien beachtet: Nutzen (beneficence), Schadensvermeidung (non-maleficence), Autonomie (autonomy), Gerechtigkeit (justice). Im Blick auf die ethische Praxis in der Medizin wie im Verhalten des Kranken und seiner Umgebung legt sich eine Erweiterung dieses Prinzipienquartetts um die Begriffe Würde (dignity) und Tugend (virtue) nahe. 

Die Geschichte hat in Tagebüchern, Briefen, Lebenserinnerungen, Biographien, Leichenpredigten und wissenschaftlichen Aufzeichnungen zahlreiche Zeugnisse für den Umgang des Kranken mit seiner Krankheit überliefert. Werke der Kunst und vor allem der Literatur stellen ihrerseits eine wichtige Quelle als Reflex oder Spiegel ihrer Zeit dar und enthalten – genauso wie philosophische und theologische Schriften – stimulierende Beschreibungen und Deutungen der Anthropologie des Krankseins oder der Subjektivität und Ethik des kranken, leidenden und sterbenden Menschen.

II. Historische Entwicklung 

Der Gedanke von einer Patientenethik findet sich bereits in der Antike. Der Philosoph Plato verlangt Wahrhaftigkeit vom Kranken dem Arzt gegenüber, ebenso Kooperation in der Therapie. Die platonische Unterscheidung eines Arztes für Freie und eines Sklavenarztes besitzt ihre Entsprechung auf der Seite des Kranken, der sich seinerseits wie ein freier Kranker oder ein Sklavenkranker verhalten kann. Aufklärung und Einwilligung kennzeichnen das Verhältnis zwischen dem Arzt für Freie und dem freien Patienten, Anweisung und Gehorsam dagegen das Verhältnis zwischen dem Arzt als Tyrannen und dem Kranken als Sklaven. Eigenverantwortung und Kommunikation müssen vom Patienten aber auch gewollt und realisiert werden. Zugleich wird es immer wieder Situationen geben, in denen die aufgeklärte Einwilligung nur eingeschränkt oder überhaupt nicht zu erreichen ist. Seit der Antike durchzieht die Geschichte der Medizin der Gegensatz vom Willen des Kranken (voluntas aegroti suprema lex) und dem Wohl des Kranken (salus aegroti suprema lex) als oberstem Gesetz ärztlichen Handelns.

Von Plato und Cicero werden als zentrale Tugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Bescheidenheit hervorgehoben und in ihrer Bedeutung analysiert. Diese Tugenden besitzen Gültigkeit nicht nur für den gesunden, sondern auch für den kranken Menschen wie ebenfalls und vor allem für den Arzt.

In den Epidemiebüchern der hippokratischen Schriftensammlung (Corpus Hippocraticum) wird aus ärztlicher Sicht an die Mitarbeit des Kranken appelliert und kategorisch festgestellt: „Der Arzt ist der Diener der Kunst; es ist notwendig, dass der Kranke dem Arzt helfe, die Krankheit zu bekämpfen.“ Der Kranke soll sich als Freund des Arztes um des Arztes und nicht um seiner eigenen Krankheit willen verstehen. In diesem Sinne heißt es auch bei dem Philosophen Seneca: „Warum schulde ich dem Arzt und dem Erzieher mehr als nur den Lohn? Weil der Arzt und der Erzieher uns zu Freunden werden und uns nicht durch die Dienstleistung verpflichten, die sie verkaufen, sondern durch ihr gütiges Wohlwollen wie einem Familienmitglied gegenüber.“

Transzendenz bestimmt im Mittelalter Ethos und Ethik des Kranken – wie des Arztes und der Mitmenschen. Krankheit und Schmerz werden auf Erbsünde, individuelle Schuld, Besessenheit oder Prüfung durch Gott zurückgeführt. Leitfiguren enthalten das Alte und Neue Testament wie die zahlreichen Heiligenlegenden aus späterer Zeit. Hiob steht für die Prüfung durch Gott; in seiner Klage über sein Kranksein verbinden sich physischer Schmerz, soziale Isolierung, individuelle Trauer und religiöse Verlassenheit. „Ich schreie zu dir, aber du antwortest mir nicht; ich stehe da, aber du achtest nicht auf mich“. Kraftgebende und trostbringende Gestalt für jeden Kranken und jeden Sterbenden ist Christus mit seinem Leiden und seiner Zuversicht bei dem Gang in den Tod („passio Christi“). 

Die antiken Kardinaltugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Bescheidenheit werden durch die christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung ergänzt, sie sollen für jeden kranken und sterbenden Menschen Maßstab und Hilfe sein können. Diese sieben Tugenden machen seit jener Zeit bis in die Gegenwart den Kanon der Tugenden aus. Wiederholt kommt es zu Diskussionen über ihre Rangfolge, immer wieder werden Erweiterungen oder Einschränkungen vorgeschlagen. Dass die Laster Stolz, Neid, Zorn, Verzweiflung, Geiz, Genusssucht und Ausschweifung ebenfalls beim Kranken anzutreffen sind, ist nicht nur dem Mittelalter vertraut, sondern kann auch heute immer wieder erlebt werden. Zahlreich sind die Darstellungen der Tugenden wie Laster in Werken der Kunst und Literatur. 

Die bedeutende Äbtissin, Naturforscherin und Ärztin Hildegard von Bingen stellt mit ihrem Leben ein bewegendes Beispiel für den Umgang des gläubigen Menschen mit Kranksein und Sterben im christlichen Geist jener Epoche dar. In einer zeitgenössischen Biographie dieser stets von Schmerzen geplagten Frau wird gesagt: „Doch wie sich im Feuerofen das Gefäß des Töpfers bewährt, so gelangt im Leiden die Tugend zur Vollendung. Beinahe von Kindheit an hatte sie fast ständig an schmerzlichen Krankheiten zu leiden, so dass sie nur selten gehen konnte. Und da ihr ganzer Körper ununterbrochen Schwankungen unterworfen war, glich ihr Leben dem Bild eines kostbaren Sterbens. Was aber den Kräften des äußeren Menschen abging, das wuchs dem inneren durch den Geist der Weisheit und Stärke zu“. 

Franz von Assisi hat ebenfalls ständig qualvolle Krankheiten zu erdulden. Im „Sonnengesang“ werden von ihm trotz dieser Schmerzen und Leiden Natur und Schöpfer gepriesen. Jene Menschen seien zu bewundern, die an Krankheit und Trübsal nicht zerbrechen und ihren Mitmenschen verzeihen können. Der Kranke soll nach Franz von Assisi das eigene Leid vor der Umwelt verbergen, um sie nicht zu betrüben: „Warum zeigst du nach außen deine Trauer und deinen Schmerz über das, was dich innerlich quält? Deine Schwermut soll nur zwischen dir und Gott stehen“.

Säkularisierung, Naturalisierung und Individualisierung der Neuzeit bringen andere Orientierungen mit sich, die tiefgreifende Folgen für den Umgang mit Gesundheit, Krankheit und Sterben haben; das Paradies wird verweltlicht, bereits im Diesseits und nicht erst im Jenseits sollen ewiges Leben, Jugend, Schönheit und Gesundheit erreicht werden können. Medizinische Theorie und Praxis erhalten mächtige Antriebe. Gleichzeitig behalten christliche und philosophische Traditionen für viele Menschen bis in die Gegenwart ihr Gewicht.

Der Theologe Blaise Pascal sieht in der Krankheit den „natürlichen Zustand des Christen“, da man nun aller Güter und Sinnesfreuden ledig sei und sich auf die wahren Fragen des Lebens konzentrieren könne. Der Philosoph und Politiker Montaigne spricht von heilsamen Krankheiten („maladies salutaires“) und will selbst von den Kolikschmerzen den Gewinn gehabt haben, „dass vollendet wird, was ich selbst nicht über mich vermocht hatte, mich völlig mit dem Tode auszusöhnen und zu befreunden“. 

Die Ethik des Patienten bleibt weiterhin ein Gegenstand theoretischer Überlegungen und entsprechender Publikationen. Das Jahrhundert der Aufklärung setzt sich in der Medizin noch einmal intensiv mit den Pflichten und Tugenden des Patienten auseinander. Die klassischen antiken und christlichen Tugenden werden durch bürgerliche Tugenden oder Sekundärtugenden wie Fleiß, Gehorsam, Ordnung und Reinlichkeit ergänzt. Kollisionen zwischen Tugenden und Pflichten sollen sich auch im Bereich der Medizin nicht vermeiden lassen. Lösungen sollen weniger durch Gesetze als vom Geist der Humanität und der Kraft des Glaubens gefunden werden. 

In der Bewältigung der Schmerzen und des Leidens soll der Kranke nicht selten einen höheren Zustand gewinnen können als der Gesunde. Geduld und Hoffnung gelten als besondere Tugenden des Kranken, die selbst wieder im Glauben und der Vernunft eine Basis besitzen. Geduld gegenüber den Schmerzen, Geduld bei erfolgloser Therapie, Geduld gegenüber verständnislosen Ärzten, Geduld in chronischen Erkrankungen. Wie der Kranke mit Krankheit und Tod umgeht, soll seinen moralischen Charakter offenbaren: „Bei Not und Elend, in Kummer und Krankheit wird sichs entscheiden, wer eine edle Seele besitze“, heißt es bei dem Mediziner Johann August Unzer. Kranke sollen den Geistlichen sogar zu einem Vorbild werden und diese durch ihr Verhalten „auf die Bahn der Tugend und Pflichten“ zurückleiten können. Auch gegenüber Freunden und Angehörigen, die ihn aus unterschiedlichen Motiven aufsuchen, darf der Kranke seine Beherrschung nicht verlieren, er bleibt auch noch in diesem Zustand ein soziales Wesen mit bestimmten Pflichten und nicht nur Rechten.

Von Tugenden – wie ebenfalls Etikette – kann auch der Umgang mit dem Sterben geprägt werden. Frauen des 18. Jahrhunderts lassen das eigene Sterben für die Umwelt, wie von den Brüdern Edmond und Jules Goncourt in ihrer Studie über Die Frau im 18. Jahrhundert berichtet wird, zu einem heiteren Ereignis werden. „Die Frau dieser Zeit ist mehr als sanft, sie ist höflich gegen den Tod“. Man stirbt mit Grazie und Diskretion. „‚Schade‘, sagte die eine ganz einfach, als sie sich von der Erde löste. Dann gibt es welche, die bis zu ihrem Ende die Hände der Freundschaft drücken und deren Tod nur eine letzte Ohnmacht zu sein scheint. Andere umgeben sich beim Sterben mit Gesellschaft und äußern den Wunsch, dass das Geräusch eines neben ihrem Bett aufgestellten Lottospiels das Röcheln ihres letzten Seufzers übertönen möge“.

Idealismus und Romantik beeinflussen mit ihrem Natur- und Geistverständnis nicht allein die Medizin in Theorie und Praxis, die Vorstellungen dieser Epoche um 1800 haben Resonanz auch im Selbstverständnis kranker und sterbender Menschen. Die Bewältigung von Krankheit wird positiv eingeschätzt, die Subjektivität oder Personalität des Patienten gewinnt besondere Bedeutung, die Therapie des Geisteskranken soll auf humanitäre Gesichtspunkte nicht verzichten dürfen, jeder Patient wird für seine Krankheit und Gesundheit verantwortlich erklärt. Chronische Krankheiten können nach Novalis zu „Lehrjahren der Lebenskunst und Gemütsbildung“ werden. 

Das positivistische 19. Jahrhundert mit seiner Trennung der Natur- und Geisteswissenschaften sowie der naturwissenschaftlichen Grundlegung der Medizin hat Folgen auch für das Verständnis der Krankheit und des Kranken, die Therapieziele und die Arzt-Patienten-Beziehung. Lebensquantität und Lebensqualität werden durch Anästhesie, Antisepsis und Bakteriologie ohne Zweifel wesentlich gesteigert. Zugleich kommt es zu anthropologischen Verlusten, zu einer Reduktion auf das Objektive, zur Anonymisierung und Technisierung; Krankengeschichte wird zunehmend durch Krankheitsgeschichte verdrängt. 

Anthroplogische Medizin, philosophische Psychiatrie, Palliativmedizin und Hospizbewegung sind Stichworte für neue Tendenzen und gegenläufige Initiativen des 20. Jahrhunderts. Eine Humanmedizin, die wirklich humane Medizin sein möchte, kann an der Subjektivität und Ethik des kranken Menschen nicht vorbeigehen. Das Urphänomen der Medizin setzt sich nach dem Mediziner Viktor von Weizsäcker aus zwei Entsprechungen zusammen: 1. die personale Entsprechung: ein Mensch in Not – ein Mensch als Helfer, 2. die sachliche Entsprechung: Krankheit – Medizin.

III. Umgang mit der Krankheit

Die Ethik des Patienten bezieht sich auf sein Verhältnis zur Krankheit, zu anderen Kranken, zur persönlichen Umwelt und zum Staat, zum Arzt und zu den Pflegepersonen, zur Diagnostik und Therapie, zur medizinischen Institution und zur medizinischen Forschung. 

Bereits in der ideellen oder konzeptionellen Ebene spielen ethische Dimensionen eine wesentliche Rolle. Besondere Beachtung verdient in dieser Hinsicht die Definition der Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahre 1947: „Gesundheit ist der Zustand vollständigen physischen, sozialen und psychischen Wohlbefindens und nicht allein das Freisein von Krankheit und Behinderung“. Für diese Definition spricht ihre ganzheitliche Orientierung; Krankheit und Gesundheit werden nicht nur auf Biologie bezogen, sondern stellen ebenso soziale, seelische und geistige Erscheinungen dar. Weniger überzeugend sind die strikte Entgegensetzung von Krankheit und Gesundheit wie die normative Gleichsetzung von gesund als positiv und krank als negativ. Gesundheit kann auch als Fähigkeit des Menschen verstanden werden, mit Krankheit und Behinderung leben und sein eigenes Ende akzeptieren zu können.

Rechte und Pflichten sind für den Umgang mit der Krankheit wesentlich, deren Bewältigung auch zum Beweis tugendhaften Verhaltens werden kann. Das Gegenteil ist ebenso möglich. Gesundheit ist eine sittliche Aufgabe, ebenso ist Krankheit auf Ethik bezogen – positiv als Krankheitseinsicht, negativ als Flucht in die Krankheit oder aus der Krankheit. Der Kranke soll tapfer sein im Leiden und bescheiden in der Gesundheit, der Kranke soll mit seiner Krankheit die Mitmenschen in ihrem Leben nicht gefährden, der Kranke soll im Sterben nicht verzweifeln.

Der Mediziner und Philosoph Karl Jaspers hat in lebenslangem Umgang mit der eigenen Erkrankung (Bronchiektasen, sekundäre Herzinsuffizienz) erfahren und beschrieben, welche Gratwanderung vom chronisch Kranken im Umgang mit der Krankheit abverlangt wird: „Die Aufgabe war, sie fast ohne Bewusstsein richtig zu behandeln und zu arbeiten, als ob sie nicht da ist“. Zwei Einstellungen und Reaktionen werden von Jaspers ausdrücklich abgelehnt: die Aussonderung des Kranken als Rückfall in die Barbarei, aber ebenso die alleinige Orientierung in der Krankheit am Glücksempfinden als Verkehrung christlicher Caritas.

Psychologie und Soziologie haben ihrerseits wichtige Beobachtungen über Einstellung und Verhalten des Patienten gewonnen. Beachtung verdienen schließlich die Selbsthilfegruppen, nicht als Alternative zur Medizin, sondern als ihre Ergänzung. Die empirischen Studien der vergangenen Jahrzehnte über den Umgang des Kranken mit seiner Krankheit, über seine Empfindungen, Urteile und Verhaltensweisen sowie seine individuelle Lebenssituation haben ein Spektrum an Möglichkeiten manifestiert mit entsprechenden ethischen Orientierungen. 

Nach dem amerikanischen Forscher Lipowski verbindet der Laie mit Krankheit vor allem acht Interpretationen: Herausforderung, Erleichterung, Feind, strategische Möglichkeit, Bestrafung, Verlust oder Beschädigung, Schwäche, Wertsteigerung. Für den spanischen Mediziner und Antropologen Laín Entralgo ist die Subjektivität des Krankseins einerseits von den sieben Momenten: Schwäche, Unbehagen, Bedrohung, Einsamkeit, Absorbiertheit von körperlichen Empfindungen, Anomalie und Zuflucht geprägt und wird andererseits von den vier Deutungen: Strafe, Unheil, Herausforderung, Prüfung bestimmt. 

Große Herausforderungen an den Patienten verbinden sich mit der Reaktion auf das durch die Krankheit veränderte Leben in der Familie und im Kontakt mit den Freunden, im Beruf, in der Freizeit und vor allem im Selbstbild. In den Extremen steht einem konstruktiven ein destruktiver Umgang gegenüber; auch hier sind in der Wirklichkeit Zwischenformen die Regel, ebenso kommt es zu Veränderungen im Prozess des Lebens mit der Krankheit. 

Der Kranke kann in seinem Verhalten gegenüber der Umwelt Tugenden beweisen – gegenüber den Pflegepersonen, gegenüber den Angehörigen, gegenüber dem Staat. Gesunde haben ihrerseits Rechte, die der Kranke zu respektieren hat, auch von ihm können noch Verständnis und Bescheidenheit erwartet werden. Der Kranke soll sich weder zu ängstlich geben, noch zu sorglos tun, er soll die Hilfe dankbar annehmen und nicht zu ungeduldig werden, wenn diese nicht subtil, schnell und dauerhaft genug ausfallen sollte. Von dem Dichter Kafka stammt die tiefe Einsicht: „Der Kranke ist vom Gesunden verlassen, aber der Gesunde vom Kranken auch“.

IV. Beziehung zum Arzt

Neben der Reaktion auf die Krankheit und Umwelt steht die Reaktion des Kranken auf den Arzt und allgemein die Medizin, auf Diagnostik, Therapie und Krankenhaus. Auch hier sind die Möglichkeiten vielfältig, üben persönliche, soziale und kulturelle Hintergründe einen Einfluss aus, gibt es Rechte, Pflichten und Tugenden. 

Allgemein kann ein kooperatives von einem unkooperativem Verhältnis zwischen Patient und Arzt unterschieden werden; Wandlungen sind im Verlaufe der Behandlung ebenso möglich wie Abweichungen zwischen dem Verhältnis zum Arzt und zu den Pflegekräften. 

Dem Kranken wird die Pflicht zugeschrieben, dem Arzt seine Beschwerden wahrheitsgemäß mitzuteilen und die ärztlichen Therapievorschläge (Compliance) einzuhalten, sich rücksichtsvoll anderen Kranken gegenüber zu verhalten, überhaupt seine Krankheit überwinden zu wollen und die grundsätzliche Endlichkeit des menschlichen Lebens hinzunehmen. 

Bei knappen Ressourcen wie Mangel an Organen gibt es vielfältige Möglichkeiten zu tugendhaftem Verhalten im Blick auf Bescheidenheit und Tapferkeit, Liebe und Hoffnung, die mit Rechten und Pflichten nicht zu erfassen sind. Auf die Fortsetzung kostspieliger Therapien, die mit wenig Lebenszeit verbunden sind, kann verzichtet werden, Organe können anderen Menschen gespendet werden. 

Auf allen Ebenen ist Gelingen wie Scheitern möglich. Tugenden wie Laster können das Verhalten des Patienten in vielen Bereichen bestimmen. Am Kranken können sich nach dem Philosophen Eduard Spranger die ethischen Reserven der menschlichen Natur ebenso erweisen wie die Zerbrechlichkeit der Kultur, „hinter deren Fassade eine ursprüngliche Bosheit lebt“. 

Die Medizin folgt in ihrer Entwicklung eigenen Tendenzen oder immanenten Gesetzen, die gleichzeitig in menschlichen Bedürfnissen, Erwartungen und Hoffnungen ihre Basis haben und ihnen weitere Impulse verleihen. In der modernen Medizin begegnet der Mensch sich selbst, schaut seine eigenen Wünsche und eigenen Hoffnungen an. Offensichtlich verbinden sich im Menschen unterschiedliche, widersprüchliche und auch destruktive Neigungen. 

Die Forderungen der Gegenwart nach einem aktiven und mündigen Patienten prägen unmittelbar das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Die Autonomie des Kranken schließt nach dem amerikanischen Medizinethiker Edmund Pellegrino grundsätzlich die Möglichkeit der Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und dem Arzt ein; der Kranke müsse Selbstverantwortung übernehmen, der Arzt habe seine eigenen Wertorientierungen offenzulegen und müsse dem Kranken das Recht einräumen, seine persönlichen moralischen Entscheidungen zu treffen. 

Aufklärung entfaltet sich im Spektrum zwischen diagnostischer Information und Solidarität in der Wahrheit des Krankseins. Anforderungen ergeben sich nicht nur für den Arzt, sondern stets auch für den Kranken. Autonomie wird sich allerdings keineswegs immer oder vollständig verwirklichen lassen, eine anthropologische Asymmetrie zwischen Arzt und Patient ist unaufhebbar. Der Patient als Mensch in Not kann mit dem Arzt als Helfer nicht gleichgesetzt werden. Asymmetrie darf die ursprüngliche Identität und Symmetrie zwischen Arzt und Patient aber nicht vergessen lassen. Mit dem Beginn der Therapie wird dem Arzt Autonomie vom Patienten übertragen, das Ende der Therapie muss in einer Rückgabe dieser Autonomie an den Patienten bestehen. 

Neben dem Willen muss die Würde des Patienten ein ethisches Grundprinzip der Medizin ausmachen. Subjektivität sollte auch nicht mit Egoismus oder Beliebigkeit gleichgesetzt werden, Autonomie setzt den Bezug zur Vernunft („nomos“) als Selbstbestimmung („autos“) oder den Respekt vor dem Mitmenschen im Sinne des Philosophen Kant voraus: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“.

Wie immer die Befragungen über das Bedürfnis nach Aufklärung bei Patienten ausfallen mögen, entscheidend ist der einzelne Kranke. Medizinische Ethik ist kein Produkt der Statistik. Bitte um Aufklärung kann Aufklärung gerade nicht wollen, Schweigen muss seinerseits nicht unbedingt Ablehnung der Aufklärung bedeuten. Die Autonomie des Patienten muss mit der Autonomie des Arztes vermittelt werden. 

Alter, Geschlecht und spezifische Krankheit sind mit jeweils besonderen Anforderungen an die Tugenden des Kranken verbunden. Bewegende Beispiele finden sich im Umgang von kranken und sterbenden Kindern mit ihrem Leiden und bevorstehenden Tod. Der alte Mensch kann ebenfalls verzweifeln oder seine Situation akzeptieren und bejahen. Mit Recht stellt der Theologe Romano Guardini fest: „Was helfen aber alle Gerontologie der Medizin und alle Fürsorge der Sozialpflege, wenn nicht zugleich der alte Mensch selbst zum Bewusstsein seines Sinnes gelangt?“ Die Verteilung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten stellt die Frage nach dem Verhältnis der Generationen. Auch hier spielen neben Rechten und Pflichten auch Tugenden eine wichtige Rolle, das Wort vom Generationenvertrag bezeichnet nur die äußere oder juristische Dimension. 

V. Euthanasie

Mit der demographischen Entwicklung gewinnt das Thema der Euthanasie zwischen Lebensbeendigung und Sterbebeistand eine neue und prekäre Bedeutung und bringt ihrerseits Tugenden mit Rechten und Pflichten in ein spezifisches Spannungsverhältnis für den Kranken wie den Gesunden. Sterben und Tod sind Grenzsituationen für jeden Menschen – wie auch für die moderne Medizin, die Gesellschaft und die Kultur. Die meisten Menschen werden im Krankenhaus geboren und sterben auch dort. Damit ist eine Kluft zwischen der normalen Lebenswelt und diesen entscheidenden Situationen der menschlichen Existenz aufgerissen, die zu schließen oder zu verringern eine der großen Aufgaben der Zukunft darstellt. 

Sterben wurde bis in das 19. und zum Teil auch 20. Jahrhundert im Kreise der Familie, der Freunde und Nachbarn erlebt. Sterben war ein soziales Ereignis; äußere Form und geistige Deutung, vor allem aber die religiöse Perspektive boten dem Sterbenden wie dem Überlebenden Halt und Trost. Die „ars moriendi“ gehörte seit dem Mittelalter zur „ars vivendi“; wer zu leben versteht, muss auch zu sterben wissen, es gibt einen guten und einen schlechten Tod. Euthanasie meinte ursprünglich ein angenehmes und gutes Sterben („mors felix et honesta“).

Sterben und Tod werden im Verlaufe der Neuzeit zunehmend zu einem privaten und diesseitigen Ereignis, zu einem einsamen und stummen Geschehen, zu einer biologischen und objektiven Tatsache. Nur zu bezeichnend sind die Todesanzeigen der Gegenwart wie ebenfalls die zeitgenössischen Formen der Beerdigung. Verdrängung und Sprachlosigkeit kennzeichnen heute im allgemeinen den Umgang mit Sterben und Tod.

Sterben bezieht sich auf unterschiedliche Bereiche: physische Auflösung, soziale Isolation, geistige Verzweiflung und Todesangst. Mehrere Phasen des Sterbeprozesses lassen sich unterscheiden, neben ihnen stehen unterschiedliche Stufen des Erlebens. Alle Differenzen in den Phasen und Stufen des Sterbens können aber von dem übergreifenden Grund des Menschlichen durchzogen und getragen werden, immer gibt es Formen des Beistandes und Trostes: auf der untersten Stufe die körperliche Berührung, der Klang der Stimme, der Blick des Auges, auf der obersten Stufe die sprachliche Kommunikation und geistige Verbundenheit. Mit Rechten und Pflichten kann diese Zuwendung nicht oder nur unvollkommen erfasst werden, hier kommt es wesentlich auf Tugenden an – auch auf Tugenden des Sterbenden.

Dem Sterbenden bietet die Welt der Kultur mit den Werken der Literatur, der Malerei, der Musik, der Philosophie und Theologie Trost und Beruhigung. Entscheidend bleibt allerdings die Einstellung des einzelnen Menschen zu seinem Sterben und seinem Tod, die wiederum wesentlich von der Aufnahme des Todes in die soziale Wirklichkeit als bewusster und erlebter Solidarität der Lebenden mit den Sterbenden und der Sterbenden mit den Lebenden geprägt wird.

VI. Forschung

Die medizinische Forschung thematisiert ihrerseits Tugenden neben Rechten und Pflichten des kranken Menschen. Forschung mit gesunden und kranken Menschen bringt ethische Probleme mit sich, für die bereits in der Vergangenheit und nicht erst im 20. Jahrhundert ein Bewusstsein bestand und Lösungen gesucht wurden. Im Selbstversuch wurde von zahlreichen Medizinern ein Ausweg aus diesem Dilemma zwischen wissenschaftlichem Interesse und der Achtung vor dem Menschen gesehen, nicht selten wurde diese Bereitschaft mit Sucht, Krankheit und auch Tod bezahlt. 

Ohne Aufklärung und Einwilligung stellt therapeutisches und bereits diagnostisches Handeln für das geltende Recht in der Bundesrepublik eine Körperverletzung dar. Diese juristische Sichtweise löst bei Ärzten wegen der Vernachlässigung der humanen Motivation ihres Tuns nicht selten Unbehagen aus; wer ärztlich handelt, will helfen und heilen und nicht verletzen. Zahlreiche Einschränkungen und Ausnahmen der aufgeklärten Einwilligung werden im übrigen ethisch wie juristisch ausdrücklich gerechtfertigt.

Aufklärung und Einwilligung entfalten sich in einer sozialen Situation und verlangen psychologische Fähigkeiten nicht nur vom Arzt, sondern auch vom Patienten. Aufklärung und Einwilligung garantieren an sich aber noch nicht ethisches Niveau; sie können sich auch auf unsittliche oder inhumane Inhalte beziehen. Ethik verwirklicht sich im „informed consent" erst mit der Beachtung der Autonomie und Würde des Patienten; im Grunde müsste deshalb genauer von „moral and legal informed consent“ gesprochen werden. 

1931 werden in Deutschland Reichsrichtlinien zur Forschung am Menschen verabschiedet, die in der Substanz die entsprechenden Deklarationen nach dem Nürnberger Prozess vorwegnehmen und verbrecherische Versuche während des Dritten Reiches nicht verhindert haben. Mit den Deklarationen des Weltärztebundes von Helsinki (1964) und Tokio (1975) werden ethische Prinzipien der Forschung am Menschen festgelegt, die auch für die nun in vielen Ländern der Welt entstehenden Ethikkommissionen verpflichtend sind. 

Jede medizinische Disziplin ist in Diagnostik, Therapie und Forschung mit besonderen Bedingungen für den Kranken verbunden, jede Krankheit zieht charakteristische Beziehungen von Rechten, Pflichten und Tugenden des Kranken nach sich. Aufklärung in der Chirurgie unterscheidet sich von Aufklärung in der Psychiatrie, Forschung in der Pädiatrie und Geriatrie hängt mit Problemen zusammen, die sich in der Inneren Medizin nicht stellen. 

VII. Perspektiven

Die klassischen und christlichen Tugenden – Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit, Bescheidenheit, Glaube, Liebe, Hoffnung – besitzen für den Arzt und die Pflegeperson, den Patienten und die Angehörigen Gültigkeit. Rechte und Pflichten reichen nicht aus und sollten auch nicht einseitig auf Patient und Arzt verteilt werden. Auf Tugenden als Kraft des Menschen, sittliche Überzeugungen nicht nur zu wissen, sondern sich von ihnen auch leiten zu lassen, sie auch zu verwirklichen, wird es immer wieder wesentlich ankommen. 

Medizinische Ethik ist keine Sonderethik, wohl aber eine Ethik besonderer Situationen. Ethik in der Medizin bezieht sich nicht nur auf den Arzt und die Pflegepersonen, sondern ebenso auf den Patienten und seine Umwelt, wobei der Arzt-Patienten-Beziehung eine dominierende Bedeutung zukommt. 

Individualität und Personalität des Kranken sind immer wieder gefährdet. Auf die Errungenschaften der modernen Medizin werden die Menschen der Zukunft bei allen Einwänden und aller Skepsis weder verzichten wollen noch können; Alternativmedizin stellt keinen Ausweg dar, notwendig ist vielmehr die anthropologisch-ethische Durchdringung der Medizin, notwendig ist allgemein die Verbindung von Technik, Wissenschaft und Humanität im Gesundheitswesen. 

Wohl und Wille des Patienten müssen stets von neuem ebenso in einen Ausgleich gebracht werden wie die Autonomie des Patienten mit der Autonomie des Arztes und den Ansprüchen der Gesellschaft. Von der jetzigen Generation muss zugleich an die Existenz kommender Generationen gedacht werden. Die Nahethik muss die Fernethik wie die Ethik der Mitwelt sowie die Ethik der Umwelt und der Nachwelt einschließen.

Rechte, Pflichten und Tugenden sind gleichermaßen wichtig in der medizinischen Wirklichkeit; sie spielen für den Kranken, die Ärzte, Pflegepersonen und Angehörigen eine Rolle, sie gelten in der Prävention, Kuration und Rehabilitation, in der Diagnostik wie Therapie, in akuten und chronischen Krankheiten wie auch im Sterben.

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Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Dietrich von Engelhardt
Medizinische Universität zu Lübeck, Inst. f. Medizin- u. Wissenschaftsgeschichte
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