Tagungsbericht: Sich in Medizin und Pflege auf den Sterbenden einlassen
Über die letzte Lebensphase und Wünsche zu sprechen, wird von Schwerkranken, Hochbetagten, aber auch deren Angehörigen häufig gemieden. Worin liegen die ethischen Herausforderungen, um im medizinischen Hochleistungsbetrieb eine Sprache humaner Sterbebegleitung wiederzugewinnen, die von professioneller Kompetenz, Zuwendung, Fürsorge und Wahrhaftigkeit getragen ist? Das war Thema des interdisziplinären Jahressymposiums Dem Sterbenden begegnen. Herausforderungen an Medizin und Pflege, das von IMABE veranstaltet wurde und mit 300 Teilnehmern ausgebucht am 10. November 2017 im Wiener Raiffeisen Forum stattfand.
Um einen Kulturwandel des Sterbens als Teil des Lebens zu erreichen, sei es nötig, das Bild des selbstbestimmten, autonomen Patienten durch eine Kultur der Fragilität und Verletzlichkeit zu ergänzen. Darauf wies der Altersforscher Franz Kolland von der Universität Wien hin. „Die Gebrechlichkeit gehört zum Menschen“, unterstrich der Soziologe. Dies sei kein Verlust, denn, die „Sorge um den Anderen ist es, die bereichert“. Er zeigte auf, dass die Verdrängung des Sterbens schon früher beginne – nämlich mit einer Verdrängung des Alterns. Insbesondere in der Medizin herrsche eine „Gerontophobie“, kritisierte Kolland.
Dass der Prozess des Sterbens heute vielfach biographisch, räumlich und sozial marginalisiert wird, räumte auch Günther Gastl, Klinikdirektor Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie an der Medizinischen Universität Innsbruck, ein. „In der modernen Medizin wird das Sterben als Endpunkt von akuten oder chronisch verlaufenden Krankheitsprozessen pathologisiert“, so der Onkologe. Doch der Tod sei keine Krankheit, sondern ein natürlicher Teil des Lebens. Damit seien Mediziner häufig überfordert: „Wir haben Medikamente gegen physische Schmerzen, aber nicht gegen psychische oder spirituelle Leiden, die oft ein Thema am Lebensende sind.“ Gastl legte ein klares Bekenntnis gegen die Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen ab und trat für eine personalisierte Medizin am Lebensende ein: „Die Personalisierung des Sterbenlassens muss wieder Teil der Kunst der Medizin werden“, so der Internist.
Der Tod ist keine Krankheit, sondern ein natürlicher Teil des Lebens
Für den Medizinethiker Martin W. Schnell, Direktor des Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen, Universität Witten/Herdecke ist die Unsicherheit unter Ärzten und Pflegenden beim Thema Sterben kein Zufall. Auf existentielle Fragen zu antworten, seien sie nicht vorbereitet, also biete man lieber medizinische Leistungen an. „Das erste Tabu im Umgang mit dem Tod ist, dass ich selber sterbe.“ Erst die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit ermögliche eine „Kommunikation mit dem Sterbenden am Rande des Schweigens“, so Schnell. Sich letztlich nicht in den Sterbenden hineinversetzen zu können, heiße nicht, dass man ihn nicht gut begleiten könne, betonte der Ethiker. Er plädierte für eine möglichst frühe Auseinandersetzung mit Tod und Sterben schon in der Ausbildung.
Eine Studie aus dem Jahr 2017 zeigt, dass in Österreich jeder fünfte Sterbende eine sog. Palliative Sedierungstherapie erhält. In Extremfällen kann diese durch Medikamente herbeigeführte Bewusstseinsdämpfung am Lebensende ethisch gerechtfertigt sein, stellte Dietmar Weixler, Anästhesist und Vorstandsmitglied der Österreichischen Palliativgesellschaft (ÖPG) klar. Er zeigte sich aber über das Ausmaß der Medikalisierung des Sterbens betroffen. „In Österreich begründet man bei etwa einem Drittel der pharmakologisch Sedierten diese Vorgangsweise mit einem ‚existenziellen Leiden’. Das halte ich für problematisch“, so der Intensivmediziner, der anhand der Österreichischen Leitlinie zur Palliativen Sedierungstherapie (PST) zeigte, wie sich eine ausufernde „Sedierungskultur am Lebensende“ durch klare Vorgaben vermeiden lässt.
Zu Hause sterben: Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit
„Unter ‚gutem Sterben’ verstehen 80 Prozent der Österreicher das Sterben zu Hause. Trotzdem verstarben 2015 österreichweit nur 26 Prozent der Menschen an ihrem Wohnort, in städtischen Bereichen sank der Prozentsatz bei Tumorerkrankungen sogar auf knapp 11 Prozent.“ Darauf wies Hilde Kössler, Vorsitzende der AG Palliativpflege der ÖPG, hin. Kössler relativierte allerdings den Wunsch des Zuhause-Sterben-Wollens: „Den Wunsch äußern Gesunde. Für Palliativpatienten ist der gute Ort des Sterbens dort, wo sie sich sicher fühlen“. Auch Hausärzte, Hauskrankenpflege, 24-Stunden-Betreuerinnen und Ehrenamtliche bräuchten Unterstützung, „um einen Menschen sterben zu lassen, ohne in einen Kontroll- und Absicherungswahn zu verfallen“, betonte die Koordinatorin des Mobilen Palliativteams Baden.
Markus Schwarz, CEO der SeneCura Gruppe verdeutlichte, dass Organisationsstrukturen wichtig sind, um ein gutes Sterben zu ermöglichen. Irena Schreyer von der Hochschule Ravensburg-Weingarten zeigte anhand einer deutschen Studie, wie sich die Rolle der Angehörigen verändert und welche Bedürfnisse sie haben, wenn sie selbst zu Pflegenden von Sterbenden werden. Angelika Feichtner, Dozentin im Bereich Palliative Care und Hospizarbeit, zeigt auf, wie sich Spannungen beim Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit am Lebensende auflösen lassen.
Der Tod – nur noch in Händen von Experten?
Der deutsche Soziologe Reimer Gronemeyer (Universität Gießen) spricht von einer „modernen Ratlosigkeit angesichts des Sterbens“. Eine gegenwärtige „metaphysische Obdachlosigkeit“ habe dazu geführt, aus dem Sterben ein „perfekt qualitätskontrolliertes und evaluierbares Projekt“ zu machen.“ Gronemeyer lobt die Hospizbewegung, dank derer „neue Räume geschaffen wurden, in denen ein würdiges Sterben möglich geworden ist“. Kritisch sieht er deren zunehmende Professionalisierung und finanzielle Konkurrenzsituation zur Palliativmedizin. Aus dem ehrenamtlichen Engagement werde Schritt für Schritt eine ökonomisierte Dienstleistung. „Wollen wir in Zukunft ISO-zertifizierte Sterbebegleiter oder Rankings für Hospize wie in den USA?“ Das Hospizwesen sollte ein unverzichtbares und heilsames Korrektiv sein zu einem „Lebensende, das allmählich als ein technisch-medizinisches Abwicklungsprojekt“ gestaltet wird.
Sterbenden begegnen heißt Grenzen anzuerkennen
„Wer Menschen das Sterben erleichtern will, muss auch die Grenzen des Lebens anerkennen. Therapeutischer Übereifer und ein ‚qualitätsgesichertes Sterben’, bei dem ‚alles getan’ wird, verdecken nicht selten die uneingestandene Ratlosigkeit oder Angst vor der eigenen Endlichkeit“, ergänzt IMABE-Tagungsleiter und Internist Johannes Bonelli.