Editorial

Imago Hominis (2017); 24(3): 171-173
Johannes Bonelli

Die Medizin hat in den vergangenen 20 Jahren enorme Fortschritte zum Wohl der Patienten gemacht. Zugleich sind die Prozesse immer komplexer und weniger überschaubar geworden. Patienten nehmen immer häufiger eine Anspruchshaltung gegenüber einer Medizin ein, von der gefordert wird, alles unter Kontrolle haben zu müssen. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass Ärzte heute bei der Ausübung ihrer Tätigkeit bzw. Entscheidungsfindung mehrfach von Angst vor einer Strafrechtshaftung oder Schadensersatzforderungen beeinflusst sind. Ausgehend von den USA nimmt auch die Klagebereitschaft der Patienten zu, die von einem Misstrauen gegenüber der Medizin und der Redlichkeit der Ärzteschaft herrührt. Diese hängt auch mit einer geänderten Rechtslage in Bezug auf Aufklärungspflicht, Patientenrechte und der misslichen Beweislastumkehr zusammen. Die Rechtsanwälte haben jedenfalls viele Möglichkeiten, Schadenersatz zu erwirken. Parallel dazu ist eine Ökonomisierung der Medizin zu beobachten, die teils zu falschen Behandlungsanreizen führt. Daraus folgt, dass Ärzte manchmal zur eigenen Absicherung zu einer übervorsichtigen und oft sinnlosen Diagnostik neigen, aber auch zur Ablehnung der Behandlung „teurer und riskanter“ Patienten. Viele Ärzte bieten risikoreiche, komplikationsträchtige Behandlungen gar nicht mehr an, freilich zum Schaden der Patienten, um ja keinen Fehler zu machen.

Die Perspektive ändert sich in eine gefährliche Richtung: Der Arzt sieht schließlich nicht mehr den Patienten in Not, sondern einen potentiellen Kläger, gegen den man sich absichern muss. Verstärkt wird diese Tendenz durch eine oft ungehemmte Begehrlichkeit mancher Patienten, was ebenfalls zu einer teuren Überdiagnostik verleitet, die der Arzt unter anderen Umständen gar nicht in Erwägung ziehen würde. Geschürt wird diese Entwicklung durch unverantwortliche Medienberichte, die den Patienten falsche Hoffnungen und Versprechungen über die heutigen Möglichkeiten der Medizin suggerieren. So gerät der Arzt immer mehr in die Defensive, und das ärztliche Berufsbild entwickelt sich langsam zu einer reinen Dienstleistungsmedizin. Exemplarisch dafür steht das sukzessive Aussterben des klassischen Hausarztes.

Dieses Phänomen der Defensivmedizin schwächt das Vertrauen in der Arzt-Patient-Beziehung und artet in einer „Dokumentationswut“ und „Aufklärungswut“ aus, über die sich beide Seiten, Arzt und Patient, schon bitter beklagen. Der Arzt ist in erster Linie vor seinem Bildschirm beschäftigt, während das direkte Gespräch zwischen Arzt und Patient auf der Strecke bleibt.

Die Frage lautet: Wie lassen sich die vielen positiven Entwicklungen in der Medizin zum Wohle der Patienten voranbringen, ohne in die Defensivfalle zu geraten? Wie gewinnt man das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zurück? Die partnerschaftliche Einbeziehung des Patienten in die Behandlungsentscheidungen, die Information über Nebenwirkungen, Behandlungsrisiken und Erfolgschancen sind oberstes Gebot. Darüber hinaus hat sich in den letzten Jahren als Stabilisierungsfaktor die Erstellung von Leitlinien als hilfreich etabliert. Andererseits könnten aber durch eine zu starre Fixierung auf Leitlinien die individuellen, auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Bedürfnisse vernachlässigt werden.

Diesen und ähnlichen Fragen geht die vorliegende Ausgabe von Imago Hominis nach.

Michael Memmer (Universität Wien, Institut für Rechtswissenschaften) und Helga Willinger (Wiener Pflege-, Patientinnen und Patientenanwaltschaft) beleuchten das Thema Defensivmedizin aus der Perspektive des geltenden Medizinrechts. Sicherlich hat sich die Rechtslage zugunsten der Patientenrechte verändert. Die Frage bleibt, ob es tatsächlich eine überzogene Verrechtlichung der Arzt-Patient-Beziehung gibt und inwieweit Paragraphen die Patientenrechte stützen oder zu Missbrauch führen.

Marcus Schiltenwolf (Universität Heidelberg, Klinikum für Orthopädie) setzt den Fokus auf die Perspektive des Arztes und den Faktor Angst. Angst vor Fehlern kann ärztliches Handeln hemmen aber auch motivieren. Jedoch kann auch die Begegnung des Arztes mit der Krankheit seiner Patienten, mit eigenen Erwartungen, mit Schuld und Ohnmacht wie auch mit Verzerrungen durch wirtschaftliche Vorgaben angstbesetzt sein. Das Anerkennen dieser oft unbewussten Ängste kann das ärztliche Handeln und die Arzt-Patient-Beziehung stärken.

Der Internist Werner Waldhäusel (Medizinische Universität Wien) setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit Normen und verbindliche Leitlinien zum Fortschritt in der Medizin beitragen und wo deren Gefahren liegen. Grundsätzlich sind Normen hilfreich und sollen vor allem im administrativ-technischen Vorfeld der Klinik Patienten vor Schäden bewahren. Auf der Ebene der unmittelbaren Arzt-Patient-Beziehung, müssen allerdings weiterhin – neben dem unverzichtbaren Fachwissen des Arztes – Empathie, Vertrauen und Vertraulichkeit vorherrschen. Diese lässt sich nicht in Algorithmen gießen, außer unter Zerstörung der Arzt-Patient-Beziehung.

Harald Mang (Medizinische Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg, Medical Process Management) schreibt über die Problematik bei der Einführung von betriebswirtschaftlichen Konzepten und von wirtschaftlichen Evaluierungskriterien in die Institutionen der Gesundheitsversorgung, insbesondere auch in Bezug auf die Arzt-Patient-Beziehung. Es wird dabei auf den Vorwurf eingegangen, inwieweit eine ökonomisch orientierte Prägung der Medizin die traditionelle Patientenfokussierung als Kern einer guten ärztlichen Behandlung beeinträchtigt. Die Frage stellt sich, welche Modelle sich zur optimalen Zusammenarbeit zwischen Ärzten bzw. Pflegekräften und Managern anbieten.

Der Kardiologe und Internist Klaus Gahl (Klinikum Braunschweig, Viktor von Weizsäcker-Gesellschaft) fokussiert das Thema Misstrauen und Vertrauen in der Arzt-Patient-Beziehung. Der Arzt hat als Experte in der Arzt-Patient-Beziehung einen naturgegebenen Vorsprung gegenüber seinen Patienten (Asymmetrie). Dieses Spannungsverhältnis kann nicht allein durch eine umfassende Aufklärung überbrückt werden, sondern nur durch die Kultivierung eines echten Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient. Hier erwächst in erster Linie dem Arzt eine unaufhebbare Verantwortung, die er in hohem Maße wahrnehmen sollte.

Die Beiträge bieten wertvolle Anregungen und eine umfassende Analyse der Entwicklung im Verhältnis von Arzt und Patient in der gegenwärtigen Medizin.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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