Editorial
Dem Sterbenden begegnen? Sterbende begleiten? Jeder stirbt für sich allein. Man kann eine gewisse Begleitung erfahren, aber im Grunde stirbt jeder seinen eigenen Tod, keiner kann mitgehen. Diese Einsamkeit gehört zum Wesen des Sterbens.
Deshalb ist der sterbende Mensch existentiell zunächst kein Nächster, sondern ein Fremder, auch für Angehörige. Allen ist bewusst: Diesen letzten Weg muss der Sterbende allein gehen. Die Aufgabe und Herausforderung besteht darin, den Sterbenden in einer für ihn existentiell gerechten Begegnung zu einem Nächsten werden zu lassen. Er stirbt allein, aber nicht alleine gelassen. Dem Sterbenden begegnet man im Gespräch, im Dasein, in der Berührung, in der emotionalen Nähe, die jener auch als solche dankbar wahr- und annimmt.
Die Palliativmedizin hat wesentliche Fortschritte in der Behandlung von Schmerz und Symptomkontrolle gebracht. Gemeinsam mit Ehrenamtlichen der Hospizbewegung ist man um die Begleitung des Sterbenden bemüht. Trotz aller positiver Entwicklungen: Die Begegnung mit dem Sterbenden fällt nicht leicht. Die Kommunikation mit dem eigentlich Sterbenden, das offene Eingehen auf die Nöte und Wünsche in der letzten Lebensphase wird von Angehörigen, aber auch Ärzte und Pflegende und vom Sterbenden selbst häufig gemieden. Alle fühlen sich überfordert, insbesondere Ärzte führen an, dass sie dafür zu wenig ausgebildet seien. Sterben ist in einer kurativen Medizin nicht vorgesehen. So kommt es vielfach zu keiner echten Begegnung oder Begleitung. Denn diese würde letztlich von allen Beteiligten, Professionisten wie Angehörigen, voraussetzen, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Ärzte, Pflegende, Ehrenamtliche und Angehörige stehen nach wie vor, wenn es an die Schwelle des Todes geht, vor einer letzten Ohnmacht.
Wer Menschen das Sterben erleichtern will, ja, eine Humanisierung des Sterbens inmitten eines hoch technisierten Medizinapparates fördern will, muss die Grenzen des Lebens anerkennen. Therapeutischer Übereifer und ein „qualitätsgesichertes Sterben“, bei dem „alles getan“ wurde, verdecken nicht selten die uneingestandene Ratlosigkeit oder Angst vor der (eigenen) Endlichkeit. Gut abgewogene Gespräche über das Leben und den Tod haben sowohl auf die Patienten als auch auf ihre Betreuer, die sich dadurch besser auf den Tod ihres Patienten vorbereiten konnten, einen positiven Effekt. Dazu liefert Spiritual Care, eine relativ neue Querdisziplin im Schnittpunkt von Medizin, Pflege und Seelsorge wertvolle Konzepte für ein multiprofessionelles Begleitungsteam.
Die vorliegenden Ausgabe von Imago Hominis ist Band 1 der erweiterten Vorträge des interdisziplinären Symposiums „Dem Sterbenden begegnen. Herausforderungen an Medizin und Pflege“, das im November 2017 in Wien stattfand.
Experten haben dabei viele offene Fragen diskutiert: Was brauchen Menschen, die in ihren letzten Tagen mit ihrer Endlichkeit unmittelbar konfrontiert sind – und was brauchen jene, die sie begleiten? Welche Kompetenzen sind unter Ärzten, Pflegenden und Therapeuten nötig, um dem Sterbenden in seinen physischen und spirituellen Nöten und Ängsten zu begegnen? Wie lassen sich ethische Konflikte auflösen, die am Lebensende drängend werden: etwa im Bereich der palliativen Sedierung, des Verlusts von Hunger und Durstgefühl – oder auch beim sog. freiwilligem Nahrungsverzicht?
Ist Sterben gesellschaftlich immer noch ein Tabu? Der Soziologe und Altersforscher Franz Kolland (Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Wien) ortet eine Ambivalenz. Einerseits findet sich in den letzten Jahren tatsächlich eine verstärkte Aufmerksamkeit für Fragen des Sterbens im Zusammenhang mit Sterbehilfe oder Palliative Care, und andererseits bedingen enge Regelungen und Amtsstrukturen in Pflegeheimen und Krankenhäusern eine schwache Anteilnahmekultur und Tabuisierung des Sterbens. Um einen Kulturwandel des Sterbens als Teil des Lebens zu erreichen, sei es nötig, das Bild des selbstbestimmten, autonomen Patienten zu ergänzen durch eine Kultur der Fragilität und Verletzlichkeit.
Der Medizinethiker Martin W. Schnell (Universität Witten/Herdecke) betont die Asymmetrie zwischen Arzt und Pflege gegenüber dem Sterbenden. Niemand kann dem Anderen sein Sterben abnehmen. Der Tod ist der je eigene Tod. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient geschieht an der Grenze des Schweigens, weil am Lebensende die für den Dialog zwischen Ich und Du notwendige, gemeinsame Bedeutungswelt schwindet. Deshalb sei es wichtig, dass Mediziner und Pflegende existenzphilosophische, kommunikative und palliativmedizinische Aspekte der Diversität am Lebensende kennen und voneinander unterscheiden.
Die Palliative Sedierungstherapie (PST) gilt als ethisch umstrittene medizinische Therapie zur Bewusstseinsdämpfung am Lebensende, stets im Graubereich des rechtlich Vertretbaren. Im Jahr 2017 wurde deshalb die Österreichische Leitlinie zur Palliativen Sedierungstherapie veröffentlicht. Der Palliativmediziner Dietmar Weixler (Landesklinikum Horn-Allentsteig) und Vorsitzender der AG Ethik in Palliative Care (OPG) stellt die Leitlinie vor. Um potenziell lebensbegrenzende Mittel zu verwenden, brauche es Regeln, definierte Prozesse, Transparenz und Nachvollziehbarkeit – im Respekt für die Person und deren Rechte.
Angelika Feichnter, Dozentin im Bereich von Hospizarbeit und Palliative Care, klärt in ihrem Beitrag darüber auf, was es heißt, wenn es am Lebensende zu einem Verlust des Appetits bei schwerkranken Menschen kommt. Bei den betroffenen Angehörigen löst dies Ängste aus, doch: „Verhungern“ und „Verdursten“ sind in diesem Zusammenhang unzulässige Begriffe. In fortgeschrittenen Situationen und besonders im Sterbeprozess kann jede Form der Nahrung zu einer großen Belastung werden. Eine Aufklärung der Angehörigen tut hier not.
Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit mit der bewussten Absicht, aus dem Leben zu scheiden (FVNF), auch „Sterbefasten“ genannt, wird zunehmend als Alternative zur Tötung auf Verlangen diskutiert. FVNF wirft viele ethische Fragen auf, die Enrique Prat (IMABE, Wien) diskutiert. FVNF stellt eine besondere Form des Suizids dar, der den Anschein eines natürlichen Todes hat. Die Begleitung stellt Ärzte, Pflegepersonen und Angehörige vor Gewissenskonflikte, die differenziert diskutiert werden.