Editorial

Imago Hominis (2018); 25(1): 003-005
E. H. Prat

Nach bestem Wissen und Gewissen handeln: Ärzte, Pflegende, aber auch Patienten haben im medizinischen Alltag das existentielle Bedürfnis, mit dem eigenen Gewissen klar zu kommen. Dies ist mit immer größeren Herausforderungen verbunden. Denn ethische Fragestellungen werden in der medizinischen Forschung, aber auch in Prozessen der Diagnostik und der Therapie zunehmend komplexer und komplizierter. Dazu kommt, dass die Veränderung in der Arzt-Patient-Beziehung durch Ökonomie, Anspruchsdenken oder unterschiedliche kulturelle Voraussetzungen eine immer stärkere ethische Kompetenz der Akteure im Gesundheitswesen fordert.

Gewissensfreiheit d.h. die Achtung des persönlichen Gewissensentscheids, ist ein anerkanntes Menschenrecht, das in der Medizin seit Hippokrates einen hohen Stellenwert hat. Die Gewissensfreiheit ist allerdings gefährdet. Einerseits, weil der Gewissenvorbehalt immer stärker in Frage gestellt wird, andererseits, weil das Gewissens in seiner ureigensten Funktion unter Rechtfertigungsdruck kommt: Strömungen der Postmoderne und des Transhumanismus sehen das Gewissen selbst als Konstrukt der Evolution an und haben sich de facto vom Gewissen als Organ, das in der konkreten Situation das Gute ermittelt, verabschiedet.

Tagtäglich wendet der Mensch im Gewissensurteil sein persönliches moralisches Wissen auf konkrete Handlungsurteile an bzw. im Rückblick auf vollzogene Handlungen und beurteilt diese als gut oder schlecht. Diese Reflexion ist wichtig: Jeder kann sich irren: Selbst wenn etwas als richtig erkannt wurde, kann die Lebenspraxis hinter moralischen Einsichten zurückbleiben.

Der Unterschied zwischen Gewissensurteil und praktischem Wahlurteil darf dabei nicht übersehen werden. Ein Wahlurteil, die Entscheidung eines Menschen, ist nämlich nicht in jedem Fall eine Gewissensentscheidung. Moderne ethische Ansätze kennen diese Unterscheidung nicht. Jedes praktische Urteil sei per se ein Gewissensurteil. Mit der Tatsache, sich entschieden zu haben, könne sich also das Gewissen rechtfertigen.

Das hat weitreichende Folgen: Einerseits gibt es nun kein irrendes Gewissen mehr, auch nicht mehr die Frage, wie man sein Gewissen am Guten orientieren kann, sondern allein seinem Gewissen zu folgen, gilt als oberster moralischer Imperativ. Noch problematischer folgt daraus, dass dieser Imperativ als absolut und unhintergehbar verstanden wird. Dies unabhängig von der Art des subjektiv-praktischen Urteils, dem dieses Gewissen zu folgen gebietet. Die neuzeitliche Gleichsetzung von Gewissens- und Wahlurteil stellt damit de facto eine Auflösung des Gewissens als innere Richterinstanz dar. Hier spiegelt sich eine Art moralischer Relativismus wider: Alles ist gleich gültig, damit wird alles aber auch gleichgültig.

Worin besteht dann die ethische Kompetenz? Verbreitet sind dazu zwei irrige Meinungen: Die erste setzt ethische Kompetenz mit dem Gewissen gleich, das jeder hat und vor dem er sich verantworten kann und muss. Mitunter wird behauptet, man müsse sich nicht gesondert um die Ethik kümmern, da das persönliche Gewissen die Sittlichkeit der Entscheidungen garantiert. Der Arzt, der nach seinem Gewissen entscheide, handle schon richtig. Wozu dann die Ethik? Diese Behauptung enthält natürlich ein Körnchen Wahrheit.

Denn natürlich muss der Arzt wie jeder andere Mensch seinem Gewissen folgen. Weder darf man aber annehmen, dass deswegen schon jede Entscheidung eine des Gewissens ist, noch dass jedes Gewissen schon die Stimme der Wahrheit ist. Würde man das annehmen, könnte kein Mensch fehlen.

Eine zweite Fehlansicht setzt ethische Kompetenz mit ethischem Wissen gleich. Allerdings zählt es zu den ersten und unumstrittenen ethischen Grundwahrheiten, dass ethisches Wissen allein nicht ausreicht, um das Gute zu tun. Ethik ist eine praktische Wissenschaft. Sie will gelebt sein. Die ethische Kompetenz besteht deshalb nicht nur aus persönlichem ethischen Wissen (praktische Prinzipien, Handlungstheorie und Handlungstypologie), sondern vor allem im persönlichen Umsetzungsvermögen dieses Wissens: in der Tugend.

Die vorliegende Ausgabe von IMAGO HOMINIS greift einige Fragen dieses Themenkomplexes auf. Der Theologe William Hoye (Institut für Katholische Theologie und ihre Didaktik, Universität Münster) legt dar, warum dem Gewissen sowohl die Wahrheitsfähigkeit als auch die Irrtumsfähigkeit eigen ist. Irrtum ist möglich, da der Mensch begrenzt ist, die Wahrheit sucht, sie aber nie vollkommen findet. Das Gewissen muss sich an der Wahrheit orientieren; es entwirft nicht das Gesetz, sondern fungiert eher als ein „Dolmetscher des Gesetzes“. Wie gut dies gelingt, hängt von der ethischen Kompetenz des Einzelnen ab. Entscheidend sei dabei die Kultivierung moralischer Tugenden, die es erst ermöglichen, nicht nur zu sehen, was gut ist, sondern auch danach zu handeln.

Die Juristin Maria Schörghuber (Wien) zeigt, dass die Gewissensfreiheit in Österreich eine feste, verfassungsrechtliche Grundlage hat und teilweise auch durch Gewissensklauseln geschützt ist. Im Konflikt mit anderen Rechtsgütern müsse man sich insbesondere der Frage stellen, wie hoch die Gewissensfreiheit in Relation zu diesen Rechtsgütern einzuschätzen ist, und wo ihre Grenzen sind.

Im Bereich des ärztlichen und pflegerischen Handelns erweist sich der Respekt vor dem Gewissen sowohl der Patienten als auch der Mitarbeiter im Krankendienst als unerlässlich. Systemische und legistische Vorgaben sollen den nötigen Freiheitsraum für das Handeln gemäß dem Gewissen sowie für einen Einspruch aus Gewissengründen bereitstellen, betont Moraltheologe Josef Spindelböck (Theologische Hochschule der Diözese St. Pölten).

Der Moraltheologe, Jurist und Mediziner Kosmas Lars Thielmann (Philosophisch-Theologische Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz) erläutert das Verhältnis zwischen Ethikkommissionen und Gewissen. Ethikkommissionen können eine Hilfe für den einzelnen leisten, ein Gewissensersatz sind sie allemal nicht.

Die Bioethikerin und Pharmazeutin Margit Spatzenegger (Wien) geht dem Verhältnis von Norm und Eigenverantwortung anhand der Überlegungen von Martin Heidegger, Romano Guardini und Dietrich Bonhoeffer nach. Aktuelle Beispiele aus dem Bereich der Medizin verdeutlichen das Ringen zwischen Anpassung und Identität, Ideal und Wirklichkeit, Wünschen und Handeln sowie Methode und Menschenwürde.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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