Die Medizin ist doch nicht korrupt
Ist die Medizin korrupt? Sind Ärzte Komplizen der Pharmakonzerne? Ja, lautete die Antwort des Aufdeck-Medizinjournalisten Hans Weiss in seinem im Herbst 2008 erschienenen 270 Seiten umfassenden Buch.1 Ein reißerischer Buchtitel („Korrupte Medizin – Ärzte als Komplizen der Konzerne“) ist damit auf jeden Fall gesichert. Im Vorwort macht der Autor seine Absichten deutlich: „Für dieses Buch wollte ich wissen, ob Ärzte sich an diese ethischen Grundsätze (gemeint ist die Helsinki-Deklaration2) halten. Die erschreckende Antwort lautet: nein.“ (S. 9) Titel und Untertitel sind damit gerechtfertigt. Für den Autor seien die Ärzte „nichts als Komplizen der Konzerne“ und „die Interessen der Medizin zunehmend bedrängt von den finanziellen Interessen, die die Pharmaindustrie verfolgt“.
In der Regel haben Bücher dieser Art keine Chance, in einer wissenschaftlichen Zeitschrift erwähnt zu werden. Angesichts der hohen Wellen, die das Buch geschlagen hat, machen wir diesmal eine Ausnahme und gehen in der Rubrik „Aus aktuellem Anlass“ darauf ein – denn das Buch kann weder in die Kategorie Wissenschaft noch in jene eines seriösen Journalismus eingeordnet werden, weshalb die Rubrik Buchbesprechungen ein zu hoher Rahmen für dieses Unterfangen wäre.
„Ein Medizinjournalist wechselt seine Identität und wird Pharma-Consultant“. Weiss tischt damit die erste Unwahrheit auf – und nicht die letzte dieses „Aufdecker“-Buches. Der Journalist wird nicht Pharmareferent, er täuscht es nur vor. Der Autor erzählt bis ins Detail, wie er vorsätzlich mit falschen Angaben neun Klinikchefs (acht Deutsche und einen Österreicher) hereinlegen konnte: Sie seien prinzipiell bereit gewesen, gegen großes Entgelt für Pharmafirmen Forschungen durchzuführen, die vermeintlich gegen die Regeln des Weltärztebundes verstießen. Ob sie es wirklich getan hätten, wissen wir nicht, denn die „Abtast“-Gespräche wurden nicht zu Ende geführt. Wie viele (erfolglose) Versuche der Journalist unternommen hat, nach welchen Kriterien er die Opfer seiner Täuschungen gewählt hat und wer seine (zugegebenen) Komplizen in der Pharmaindustrie gewesen sind, kann dem Buch nicht entnommen werden. Immerhin berichtet Weiss aber von einem prominenten Klinikvorstand, der das Angebot sofort abgelehnt hat.
Immer öfter werden ethisch bedenkliche Praktiken der Pharmaindustrie so präsentiert, als ob damit das ganze Gesundheitssystem und daher auch die Medizin im selben Fahrwasser schwämmen. Das ist auch die Erfolgsmasche des Buches. Dass so eine Darstellung jedoch verfehlt ist, kann anhand von drei Fragen deutlich gemacht werden:
Erstens: Welche Glaubwürdigkeit kann ein Autor beanspruchen, der erzählt, wie geschickt er log, um sein Ziel zu erreichen? Damit untergräbt er das Vertrauen auch in andere, im Buch als Fakten präsentierte Angaben. Wer weiß, ob diese nicht auch erlogen sind? Allein deswegen könnte das Buch der Schriftart des Pamphlets bezichtigt werden.
Zweitens: Wie kann ein Journalismus gerechtfertigt werden, der sich anmaßt, mit den Mitteln der Lüge Wahrheit aufzudecken? Wichtigster Grundsatz jedes ethischen Codex ist, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt. Ohne ein klares Bekenntnis zu diesem ethischen Grundsatz kann in einer Gesellschaft nicht jenes Minimum an Vertrauen vorhanden sein, das notwendig ist, damit die zwischenmenschlichen Beziehungen trotz einzelnen immer wiederkehrenden Verfehlungen funktionieren. Schwarze Schafe und Trittbrettfahrer gab es, gibt es und wird es weiterhin überall geben. Sie sind eine erträgliche Systembelastung, wenn das erwähnte Bekenntnis zur Wahrhaftigkeit und daher zur Paktfähigkeit vorherrscht.
Drittens: Wie kann der Autor auf Grund von neun Fällen den ganzen Berufsstand als korrupt bezeichnen? Auch wenn diese neun Fälle Korruptionsfälle wären, widerspricht es jedem gesunden Urteilsvermögen, daraus zu schließen, dass damit der ganze, rund 400.000 Menschen (in Deutschland und Österreich) umfassende Berufsstand korrupt wäre.
Bedauerlich ist, dass der eine oder andere Arzt, vor allem jene in der Forschung tätigen, sich von der Pharmaindustrie manipulieren lässt. Dagegen muss man sicher effizienter eingreifen als bislang. Doch die überwiegende Mehrheit der Ärzte handeln ihrem ärztlichen Ethos entsprechend korrekt. Das Pauschalurteil, die Medizin als solche sei korrupt, hat sicher die Verkaufszahlen des Buches gesteigert. Zu einem höheren Wahrheitswert des Buches hat es ganz sicher nicht geführt.
Laut Eurohealth Consumer Index 2008 zählt das österreichische Gesundheitssystem immer noch zu den drei besten Europas. Zwar sind wir gegenüber 2007 auf den dritten Platz unter 31 Ländern knapp hinter Dänemark und Holland gerutscht. Dennoch spricht diese Bewertung für die hervorragende Qualität der medizinischen Versorgung in unserem Land, was das regelmäßig vorgebrachte Urteil, die Medizin als solche sei korrupt, wohl ausschließt.
Damit es zu keinem Missverständnis kommt: Dass es auch in unserem Gesundheitssystem moralische Missstände gibt, ist keine Frage. Ganz offensichtlich hängen viele ethische Problemfelder mit der Pharmaindustrie zusammen. Nahezu jeder Großkonzern war in den letzten Jahren in einen Skandal verwickelt. Nicht unproblematisch ist auch mancherorts die klinische akademische Forschung. Tatsache ist, dass in der Praxis trotz Ethikkommissionen Forschungsziele, die dem Patienten dienen, gegenüber nicht unmittelbar therapeutischen Forschungszielen unter die Räder kommen. Die Pharmaindustrie versteht es, Ehrgeiz und Eitelkeiten der Wissenschaftler für ihre eigenen, wirtschaftlichen Ziele vorteilhaft zu verwerten. Die Tendenz, aus jedem Patienten im Krankenhaus auch ein potentielles Studienobjekt zu machen, ist sehr bedenklich. Aus diesen Missständen in der Pharmaindustrie und in der von ihr abhängigen Forschung darf aber nicht gefolgert werden, dass die Medizin oder gar das Gesundheitssystem als solches korrupt sei.
Der Wahrheitsanspruch, den Titel und Untertitel dieses Buches erheben, wird in keinem der Kapitel eingeholt. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht: War es wirklich nötig, dem unseriösen, ja unethischen Journalismus ein unrühmliches Kapitel hinzuzufügen?
Referenzen
Prof. Dr. Enrique H. Prat, IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
ehprat(at)imabe.org