Fragen an der Grenze zwischen Spiritualität und Psychopathologie. Eine Würdigung zu Prof. Dr. Gottfried Roths 80. Geburtstag
„Psychologie et vie spirituelle. Distinguer pour unir“ – Diesem Thema ist das erste Heft des Jahrgangs 2003 der renommierten, von den französischen Jesuiten herausgegebenen Zeitschrift „Christus. Revue de formation spirituelle“ gewidmet. „Distinguer pour unir", „unterscheiden, um zu vereinen“ war auch das Anliegen der zehn gemeinsamen Lehrveranstaltungen, die ich mit Prof.Dr. Gottfried Roth zwischen Sommersemester 1977 und Wintersemester 1995/96 durchgeführt habe.1 Wir behandelten in diesen Konversatorien „Grenzfragen zwischen Spiritualität und Religionspsychopathologie (Pastoralpsychiatrie)“, Fragen zu „Mystik und Pseudomystik“ sowie zu „Spiritueller Begleitung und Psychiatrie“. So etwa lauteten die Titel der Lehrveranstaltungen. Von 1971 an hatte Prof.Dr. Gottfried Roth an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien den Bereich Pastoralmedizin als Lektor betreut. In dieser Aufgabe folgte er Prof.DDDr. Albert Niedermeyer und Primarius Doz.Dr. Peter Dal Bianco.2 Der Verfasser dieser Zeilen war von 1976 an als Außerordentlicher Universitätsprofessor im Institut für Dogmatische Theologie und Dogmengeschichte für den Bereich der Spirituellen Theologie zuständig. Eine Zusammenarbeit und Kooperation („distinguer pour unir“) zwischen Pastoralmedizin (mit besonderer Betonung der Psychiatrie) und Spiritueller Theologie bot sich hier an.
Theologie und Spiritualität gilt es von Psychologie zu unterscheiden, aber es geht dabei keineswegs um ein Gegeneinander, um eine Konkurrenzsituation, sondern um ein Miteinander. Im „Editorial“ des zitierten Themenheftes der Zeitschrift „Christus“ wird auf die Aktualität dieser Thematik hingewiesen.3 Die Herausgeberschaft betont, dass wir uns heute offensichtlich in einer „psychologisierten“ Epoche befinden. Der neue Imperativ lautet: Sich Wohlfühlen in seiner Haut, das Schlagwort von der „wellness“ erobert zunehmend auch die psychische Dimension unseres Daseins. „Die harmonische Entfaltung des psychischen Lebens ist das große Postulat, ist die ‚Spiritualität’ unserer Zeit.“ Das geistliche Leben betrifft den ganzen Menschen als leib-seelische Einheit, ist aber nicht einfach mit psychischen Zuständlichkeiten zu identifizieren. Enthusiasmus und Tröstung durch den Heiligen Geist sind nicht einfachhin aus dem gleichen Stoff gewebt, Depression ist nicht das Gleiche wie geistliche „Trostlosigkeit“. Es gilt zu unterscheiden und miteinander zu arbeiten; es gilt auch da die chalkedonische Formel des „unvermischt und ungetrennt“.
Die Grenzfragen im Einzelnen
Im Folgenden möchte ich einen Überblick über die wichtigsten Themenbereiche vermitteln, die Prof. Roth und ich gemeinsam bzw. mit verteilten Rollen in den genannten Lehrveranstaltungen behandelt haben. Dabei ist noch zu bemerken, dass die Lehrveranstaltungsform „Konversatorium“ auch die Mitarbeit der Hörer und Hörerinnen impliziert hat bzw. provozieren wollte. Wir haben danach getrachtet, dass im Rahmen der für die Lehrveranstaltung vorgesehenen Zeit auch für Fragen seitens der Studierenden und für das Gespräch ausreichend Zeit vorhanden war. Auch wurden Texte, Literaturhinweise und kurze Zusammenfassungen den Studierenden zur Verfügung gestellt.
Da die Mehrzahl der Hörer und Hörerinnen Studierende der Katholischen Theologie waren, mussten zu Anfang der Lehrveranstaltungen jeweils grundlegende medizinische bzw. psychiatrische Kenntnisse vermittelt werden. So firmierte jedes Mal eine Einführung in die psychiatrische Systematik und in die Religionspsychopathologie als Einstieg in das gemeinsame Unternehmen. Ein weiterer fixer Programmpunkt war ein Überblick über „Heilen und Formen des Heilens“. Beide Themenfelder wurden von Prof. Roth in bewährter Weise abgedeckt.
Ein großes Themenfeld war der Bereich „Privatoffenbarungen – Visionen – Prophetien“. Da war es vorerst notwendig, die Wertigkeit dieses Phänomens theologisch auszuloten. Karl Rahners tiefgründige Untersuchung „Visionen und Prophezeiungen" war dabei immer ein wichtiger Gesprächsbeitrag und Ausgangspunkt für weitere Überlegungen.4 Visionen und Auditionen haben aber natürlich auch eine nicht zu vernachlässigende psychische Dimension. Krankhaftes und „Gesundes" gilt es da zu unterscheiden, nicht nur theologisch, sondern auch psychopathologisch.
Dieses umfassende Feld wurde durch die kritische Betrachtung konkreter Fälle illustriert und aktualisiert. Die behaupteten Erscheinungen Marias in Medjugorje waren ein solcher Fall, zumal dazu auch publizierte medizinische Gutachten vorlagen.5 Auch der Fall der Theresia Neumann von Konnersreuth beschäftigte uns als verschieden bewerteter Grenzfall.
Ein Themenkreis fand fast immer besondere Aufmerksamkeit in unseren Lehrveranstaltungen: das Phänomen der Depression. Prof. Roth musste sich „berufsmäßig“ immer wieder mit depressiven Beschwerden von Patienten auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang verfolgte er den schon von den frühen Mönchen in Ägypten beschriebenen Zustand der Akedia (acedia) und die Erwähnung der Melancholia in mittelalterlichen Texten. Das Studium der diesbezüglichen Quellen aus der frühen monastischen Tradition führte zur Unterscheidung, schloss aber auch gemeinsame Elemente nicht aus.
Ein wichtiger Fragenkreis im Grenzbereich von Psychiatrie und Theologie war „Besessenheit“ und damit im Zusammenhang der Exorzismus. Dr. Roth plädierte in solchen Fällen immer dafür, dass vor der Behauptung einer Besessenheit zuerst alle psychologischen und psychiatrischen Diagnosen und Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft werden müssten.
Ein anderes Grenzphänomen war das Phänomen der Stigmatisation, die wir in unseren Lehrveranstaltungen das eine oder andere Mal behandelt haben. Ich konnte dazu frömmigkeitsgeschichtliche Beiträge leisten. Im Besonderen konnten wichtige Interpretationshinweise aus den Berichten der franziskanischen Quellschriften über die Stigmatisation des heiligen Franz von Assisi gewonnen werden. Gerade in diesem komplexen Phänomen ist das Miteinander von Spiritualität und Medizin von großer Bedeutung.
Im Rückblick könnten noch gemeinsame Bemühungen zum Verständnis der Glossolalie erwähnt werden sowie Versuche, geistliche Führung (Begleitung) und ärztliche Psychotherapie zu unterscheiden. Auch die Frage der Drogenmystik und die Wirkung destruktiver Kulte (der sogenannten Jugendreligionen) wurde einige Male einer näheren Betrachtung unterzogen.
Unterscheidung der Geister
Ein Themenbereich, der in gewissem Sinn auch den Schlüssel zur Lösung mancher angedeuteter Fragen und Probleme darstellt, soll noch erwähnt werden: die „Unterscheidung der Geister“, die discretio spirituum. Diesem Topos schenkt man gegenwärtig wieder vermehrt Aufmerksamkeit, denn es gilt ja, spirituelle Phänomene hinsichtlich ihrer Geistgewirktheit zu unterscheiden, sowie Orientierungspunkte für die Beurteilung geistlicher Bewegungen zu finden. Prof. Roth hat diese Berührungslinie mit Psychologie und Psychiatrie immer mit Aufmerksamkeit verfolgt und dazu auch etliche Detailstudien publiziert.
Gewöhnlich pflegt man beim Terminus „Unterscheidung der Geister“ spontan meist nur das Exerzitienbuch des heiligen Ignatius von Loyola zu assoziieren.6 Im Exerzitienprozess spielen die inneren Bewegungen des Trostes und der Trostlosigkeit eine wichtige Rolle für das Finden der Entscheidung, für die Wahl des Weges, den Gott dem Einzelnen zeigt. Oft übersieht man aber dabei, dass Ignatius mit seinen Unterscheidungsregeln schon in einer großen Tradition steht, ohne dass damit seine Genialität und Originalität in Frage gestellt wäre. Gerade im Spätmittelalter wurde eine Anzahl von Traktaten und Abhandlungen zu dieser Thematik verfasst.7 Der Grund dafür, dass im 14. und 15. Jahrhundert dieser Topos so große Beachtung und so vielfältige Behandlung gefunden hat, war wohl in der starken inneren Erregung zu sehen, die damals weite Kreise der Kirche ergriffen hatte: Das große Schisma hatte die Christenheit zerrissen und damit in eine fieberhafte Spannung versetzt; man sehnte sich nach der Erneuerung der Kirche durch einen engelgleichen Papst, auf der anderen Seite sah man gerade in den Missständen in Kirche und Welt Vorzeichen eines nahen Weltendes. Es verwundert nicht, dass Visionen und Prophezeiungen in dieser Zeit Hochkonjunktur hatten.
Zwei Texte des Neuen Testamentes kehren in den spätmittelalterlichen Traktaten zur Unterscheidung der Geister immer wieder; sie stellen eine Art Schlüssel für das Bemühen um Unterscheidung dar: In Mt 7,15-20 wird darauf hingewiesen, dass man die wahren Propheten von den falschen gerade an ihren Früchten erkennen könne; in 2 Kor 11,14 wird davon gesprochen, dass sich der Satan auch als Engel des Lichtes zu tarnen vermag.
Unter den bedeutenden Texten, die im 14. und 15. Jahrhundert ausführlich über das Thema der Unterscheidung der Geister gehandelt haben, ist vor allem die Schrift des Erfurter Augustinereremiten Heinrich von Friemar († 1340) „De quattuor instinctibus“8 und der Traktat „De discretione spirituum“ des Heinrich von Langenstein († 1397)9 zu erwähnen. Der große Kanzler der Universität Paris, Johannes Gerson († 1429), hat drei Werke zu diesem Topos verfasst: „De distinctione verarum revelationum a falsis“, „De examinatione doctrinarum“ und „De probatione spirituum“.10 Der große Kompilator des Spätmittelalters Dionysius der Kartäuser († 1471) hat vor allem die genannten Traktate in seiner Schrift „De discretione et examinatione spirituum“ teilweise wörtlich (zitierend) wiedergegeben und mit einigen kritischen Bemerkungen versehen.11
In all diesen Abhandlungen findet sich nicht nur geistliche Unterscheidung, sondern auch so manches psychologische Wissen, oft auch Hinweise auf krankhafte Erscheinungen, die man nicht mit rechten religiösen Erfahrungen in einen Topf werfen darf.
Ich danke Prof.Dr. Gottfried Roth für die jahrelange gute Zusammenarbeit an der Grenze von Spiritualität und Psychiatrie. Ich habe dabei vieles gelernt. Hoffentlich kann er noch lange und fruchtbar ein „Grenzgänger“ in diesem Sinn bleiben.
Referenzen
- Die insgesamt 10 Lehrveranstaltungen hatten folgende Titel: SS 1977: Mystik – Pseudomystik. Theologisch-religionspsychopathologische Grenzfragen zum Problemkreis der Mystik; WS 1978/79: Psychotherapie und spirituelle Führung; SS 1980: Mystik – Pseudomystik. Theologisch-religionspsychopathologische Grenzfragen zum Problemkreis der Mystik; WS 1981/82: Grenzfragen zwischen Spiritualität und Psychiatrie; SS 1983: Grenzfragen zwischen Spiritualität und Psychiatrie; WS 1985/86: Grenzfragen zwischen Spiritualität und Religionspsychopathologie (Pastoralpsychiatrie); SS 1987: Grenzfragen zwischen Spiritualität und Religionspsychopathologie (Pastoralpsychiatrie); SS 1989: Grenzfragen zwischen Spiritualität und Religionspsychopathologie (Pastoralpsychiatrie); WS 1991/92: Grenzfragen zwischen Spiritualität und Religionspsychopathologie (Pastoralpsychiatrie); WS 1995/96: Grenzfragen zwischen Spiritualität und Religionspsychopathologie (Pastoralpsychiatrie)
- Vgl. Roth, G., Christus medicus. Zur Geschichte und Geistesgeschichte der Pastoralmedizin an der Kath.-Theologischen Fakultät der Universität Wien von 1899 bis zur Gegenwart. In: Suttner, E.Chr. (Hrsg.), Die Kath.-Theologische Fakultät der Universität Wien 1884 – 1984. Festschrift zum 600-Jahr-Jubiläum, Berlin 1984, 307-312
- Christus 50 (2003) 4f.
- Rahner, K., Visionen und Prophezeiungen. Unter Mitarbeit von P. Th. Baumann SJ. ergänzt, Freiburg 21958, 31906 (Quaestiones Disputatae 4). Eine um einen Anhang erweiterte, unveränderte Neuausgabe erfolgte 1989: Rahner, K., Visionen und Prophezeiungen. Zur Mystik und Transzendenzerfahrung. Hrsg. v. Sudbrack, J., Freiburg 1989
- Laurentin, R., Joyeux, H., Etudes medicales et scientifiques sur les apparitions de Medjugorje, Paris 1985; deutsche Übersetzung v. Meister, I.: Medizinische Untersuchungen in Medjugorje, Mit einem Nachwort v. Roth, G., Graz 1986
- Vgl. Exerzitienbuch Nr. 313-336: Ignatius von Loyola. Geistliche Übungen. Nach dem spanischen Urtext übersetzt v. Knauer, P., Würzburg 1998, 127-135
- Einen Überblick über diese spätmittelalterlichen Traktate habe ich in der Festschrift für Josef Sudbrack SJ zu geben versucht: Weismayer, J., Ein Blick in einen fernen Spiegel. Spätmittelalterliche Traktate über die Unterscheidung der Geister. In: Imhof, P. (Hrsg.), Gottes Nähe. Religiöse Erfahrung in Mystik und Offenbarung, Würzburg 1990, 110-126
- Warnock, R. G., Zumkeller, A. (Hrsg.), Der Traktat Heinrichs von Friemar über die Unterscheidung der Geister, Lateinisch-mittelhochdeutsche Textausgabe mit Untersuchungen, Würzburg (1977)
- Heinrichs von Langenstein „Unterscheidung der Geister“. Lateinisch und deutsch. Texte und Untersuchungen zur Übersetzungsliteratur aus der Wiener Schule. Hg. Hohmann, Th., München 1977
- Einen Überblick über Gersons Lehre von der Unterscheidung der Geister bietet: Roth, C., Discretio spirituum. Kriterien geistlicher Unterscheidung bei Johannes Gerson, Würzburg 2001.
- Weismayer, J., Dionysius der Kartäuser als Lehrer der Unterscheidung der Geister. In: Hogg, J. (Hrsg.), Analecta Cartusiana. Bd. 116/2, Salzburg 1988 (Kartäuserliturgie und Kartäuserschrifttum. Internationaler Kongress vom 2. bis 5. September 1987), 5-27
Prof. Dr. Josef Weismayer
Vorstand des Instituts für Dogmatische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät, Universität Wien
Schottenring 21
A-1010 Wien