Recht auf Leben - Recht zu sterben. Grenzen menschlicher Selbstbestimmung am Lebensende
Zusammenfassung
Die gegenwärtige Euthanasiediskussion geht häufig von einer doppelten Voraussetzung aus: Einerseits wird die Forderung einer gesetzlichen Freigabe auch der aktiven Euthanasie mit dem Selbstbestimmungsrecht des Sterbenden begründet, andererseits werden die dagegen vorgebrachten Einwände auf ein religiöses Menschenbild zurückgeführt, das in einer pluralistischen Gesellschaft keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen könne. Demgegenüber zeigt der Autor auf, dass die ethische Argumentation zugunsten der Euthanasie von verdeckten anthropologischen Prämissen lebt, die der realen Situation schwerkranker und sterbender Patienten nicht gerecht werden. Neben der Kritik an einem Menschenbild, das Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit einseitig ins Zentrum rückt, erläutert er die Aufgabe der Annahme des eigenen Todes und den Sinn der Unterscheidung von aktiver und passiver Euthanasie für das Arzt-Patient-Verhältnis.
Schlüsselwörter: Selbstbestimmung, aktive Euthanasie, passive Euthanasie
Abstract
The present Euthanasia discussion is often based on two suppositions: on the one hand legalizing active Euthanasia is demanded as the result of the right to self determination of the person who is deadly ill, on the other hand arguments against the legalization are presented as being based on a religious view of the human person and these argument can not be generally accepted in today‘s pluralistic society. The author shows us that the pro-argumentation is founded on subtile anthropological suppositions which in no way relate to the real situation of dangerously ill or dying person. Besides criticizing the lopsided view of the human person based solely on self determination, autonomy and independence, he also explains the need of accepting ones own mortality as well as the need and sense of differentiating between active and passive Euthanasia for the patient-doctor relationship.
Keywords: self determination, active euthanasia, passive euthanasia
Wer das Denken der Menschen beeinflussen will, muss versuchen, Macht über ihre Sprache zu gewinnen. Die aktuelle Euthanasiedebatte liefert ein sprechendes Beispiel für die Richtig dieses Grundsatzes. Die Befürworter einer Legalisierung ärztlicher Tötungshandlungen verfahren nach einer doppelten Devise, um die Akzeptanzchancen ihrer Position in der öffentlichen Meinung zu erhöhen: Zum einen unterlaufen sie die notwendigen Unterscheidungen von aktiver und passiver Euthanasie, von Sterbenlassen und Töten, um so unterschiedliche Handlungskonstellationen wie Behandlungsverzicht oder Behandlungsabbruch, hoch dosierte Schmerztherapie unter Inkaufnahme einer möglichen lebensverkürzenden Wirkung, Beihilfe zum Suizid und einvernehmliche oder nicht-einvernehmliche Tötungshandlungen unterschiedslos der Sammelbezeichnung “Sterbehilfe” zuzurechnen. Zum anderen versuchen sie emotional positiv besetzte Grundworte der moralischen Sprache wie Mitleid, Selbstbestimmung und Autonomie auf einen ihren Zielsetzungen entsprechenden Sprachgebrauch festzulegen.
Im Rahmen einer solchen Strategie semantischer Politik kommt dem Begriff des “eigenen” Todes zentrale Bedeutung zu. Dieses Wort weckt bei allen Menschen positive Assoziationen. Obwohl ihnen der eigene Tod von allen Ereignissen ihres Lebens am wenigsten vertraut ist, möchte niemand einen “fremden” Tod sterben. Während man seit Rainer Maria Rilkes Protest gegen den anonymen Krankenhaustod unter dem “eigenen” Tod das persönlich und bewusst angenommene Sterben verstand, soll dieser Begriff nun das Recht postulieren, Art, Zeitpunkt und Umstände des eigenen Todes selbst zu bestimmen und sich dazu der Mithilfe des ärztlichen Berufsstandes oder des medizinischen Pflegepersonals unserer Krankenhäuser zu bedienen.
Dagegen wird die Rede vom eigenen Tod in den folgenden Überlegungen im Sinn ihrer ursprünglichen Wortbedeutung gebraucht. Danach kann ein humaner Sterbebeistand allein dem Ziel dienen, dem Sterbenden Raum für seinen eigenen Tod im Sinne des ihm verfügten Todes zu gewähren. Eine solche menschlich anspruchsvollere Sterbebegleitung belässt dem Sterbenden das Recht auf seinen eigenen Tod - nicht nach der Art der manipulierten Selbsttötung, sondern im Sinn einer bewussten Annahme des Todes, die von seiten der Ärzte und der Angehörigen durch palliatve Schmerzbekämfung und menschliche Nähe unterstützt wird. Dieses integrale Verständnis einer medizinischen, menschlichen und geistlich-religiösen Sterbebegleitung beruht freilich auf einer anthropologischen Voraussetzung: Das Sterben ist nicht einfach das Ende, sondern selbst ein Teil des Lebens. Im Tod geht es um die Vollendung des Lebens, die vom Menschen nicht nur passiv erlitten, sondern soweit es die Umstände des eigenen Sterbens erlauben, bewusst angenommen werden soll. Wie ein Mensch stirbt und wie er diese letzte Aufgabe erfüllt, sagt etwas aus über die Art seines Lebens, so wie umgekehrt in sozial-ethischer Perspektive der Umgang unserer Gesellschaft mit den Sterbenden in ihrer Mitte etwas von ihrer humanen Qualität erkennen lässt.
Die aktive Euthanasie verfehlt dagegen den eigenen Tod des Menschen, indem sie ihm vorgreift und ihn in ein gezielt herbeigeführtes, bewusst geplantes Ereignis verwandelt. Wenn die Wiederbelebung der Euthanasieidee in unseren Tagen auch aus dem Protest gegen die therapeutischen Exzesse der modernen Intensivmedizin hervorgeht, so bleibt sie in diesem Protest doch insgeheim noch immer dem gleichen Denkmodell einer technischen Bewerkstelligung des Todes verhaftet. Die künstliche Verlängerung des Lebens um jeden Preis und die bewusste Beschleunigung des Todes entspringen in vielfacher Hinsicht - sowohl aus der Perspektive des Arztes als auch aus der des Patienten - gegensätzlichen Absichten, aber sie stimmen darin überein, dass sie der Annahme des eigenen Todes ausweichen. Zwischen dem Versuch einer äußersten Lebensverlängerung mit Hilfe der apparativen Medizin und der Tötung auf Verlangen besteht deshalb eine enge Verwandtschaft im Blick auf das beiden zugrundeliegende Paradigma ärztlichen Handelns: “Es gibt zwei Möglichkeiten, den Augenblick des Todes zu umgehen. Die erste besteht darin, diesen Augenblick bewusst so weit wie möglich hinauszuzögern, die andere darin, sich zu fügen und diesem Augenblick vorzugreifen; therapeutischer Übereifer und Euthanasie sind die beiden symmetrischen Versuche, der Begegnung mit dem Tod auszuweichen”.1
1. Selbstbestimmung und Hilfsbedürftigkeit
Neben diesen medizintheoretischen Erwägungen, die den Euthanasiegedanken einem in anderen Zusammenhängen überwundenen Paradigma ärztlichen Handelns zuordnen, muss eine ethische Bewertung unterschiedlicher Formen der Sterbehilfe auch die Auswirkungen bedenken, die diese für die Grundgestalt der anzustrebenden Arzt-Patient-Beziehung haben. Liberale Rechtfertigungsversuche der aktiven Euthanasie begehen häufig einen argumentativen Kurzschluss, indem sie die geforderte Bereitschaft zu einvernehmlichen Tötungshandlungen mit einem partnerschaftlichen Modell des gegenseitigen Respekts zwischen Arzt und Patient gleichsetzen, während eine ärztliche Haltung, die sich der Alternative des Tötens verweigert, als paternalistische Entmündigung des Patienten dargestellt wird. In Wirklichkeit verhalten sich die idealtypischen Erwartungen, die angesichts der Begrenztheit ärztlichen Handelns in einer Situation therapeutischer Ohnmacht an das Arzt-Patient-Verhältnis zu stellen sind, aber viel komplexer zueinander - und zwar gerade dann, wenn beide Seiten sich bemühen, die andere in ihrer unvertretbaren Situation und Verantwortung anzuerkennen.
Im Blick auf den Patienten wird die Herausforderung einer partnerschaftlichen Arzt-Patient-Beziehung vor allem in der Schwierigkeit greifbar, seine Willensäußerungen richtig zu deuten. Eine schriftliche Verfügung aus gesunden Tagen muss dem wirklichen Wunsch des Kranken im Angesicht des nahen Todes nicht unbedingt entsprechen und seine aktuelle Entscheidungsfähigkeit ist häufig durch körperliches Leiden und psychische Niedergeschlagenheit beeinträchtigt. Die in den philosophischen Rechtfertigungsversuchen für die Euthanasieforderung unterstellte Autonomie der Person, die sich in der Fähigkeit äußern soll, über den Wert des eigenen Lebens frei von Fremdeinflüssen, allein aus der Binnenperspektive der eigenen Existenz zu urteilen, beruht auf einer abstrakten Konstruktion, die der faktischen Abhängigkeit des menschlichen Daseins nicht gerecht wird. Eine solche unabhängige Lebensrechnung mag philosophisch als letzter Akt autonomer Selbstbestimmung qualifiziert werden, sie kommt jedoch im wirklichen Leben kaum vor, am wenigsten in der letzten Phase des Sterbens, in der die mögliche Erfahrung des eigenen Lebenssinnes nur dann gelingt, wenn sie von der Solidarität und Nähe anderer Menschen mitgetragen wird.
Die Beurteilung des eigenen Lebenswertes stellt immer eine Reaktion auf die Wertschätzung dar, die sterbende Menschen in ihrer Umgebung noch erfahren. Deshalb lässt sich auch die klare gedankliche Unterscheidungslinie, die gesellschaftliche Nützlichkeitserwägungen und die Rücksicht auf Fremdinteressen aus der autonomen Beurteilung des verbleibenden Lebensinteresses ausschließen soll, in der realen Welt nicht durchhalten. Eine Argumentation, die ihren Ausgangspunkt allein beim Gedanken der Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen nimmt, ist zudem nur scheinbar frei von anthropologischen Voraussetzungen. Sie enthält in Wahrheit eine dezidierte anthropologische Prämisse – Autonomie im Sinne der Autarkie und Selbstgenügsamkeit -, die am gesunden, leistungsbewussten und keiner Hilfe bedürftigen Individuum abgelesen ist und auf die Situation des Sterbens übertragen wird.
Angesichts der faktischen Abhängigkeit des menschlichen Daseins, die am Lebensende und in der terminalen Sterbephase in besonderer Intensität hervortritt, erfordert ein menschenwürdiges Sterben mehr als bloßen Respekt vor einer angeblich unbeeinflussten Selbstbestimmung des Sterbenden. Menschenwürdiges Sterben ist, wenn der Begriff nicht nur als eine rhetorische Legitimationsformel dienen soll, hinter der sich die Verweigerung wirklicher Hilfe verbirgt, überhaupt nur unter der Bedingung möglich, dass personale Beziehungen und das Angebot menschlicher Nähe aufrechterhalten werden. Unsere moralischen Pflichten gegenüber Sterbenden, so zeigt sich in dieser umfassenderen Perspektive, lassen sich nicht auf den formalen Respekt vor ihrer Autonomie und Selbstbestimmung reduzieren. Wirkliche Anerkennung, die der Herausforderung des Sterbens nicht ausweicht, erfordert in Situationen extremer Belastung immer auch die Bereitschaft zum Dabeibleiben, zum geduldigen Ausharren und zuletzt: zum gemeinsamen Warten auf den Tod.
2. Sterbewünsche als Ausdruck rationaler Selbstbestimmung?
Auch unterliegt der Kranke in den einzelnen Sterbephasen wechselnden Stimmungen, so dass der in einem depressiven Stadium geäußerte Wunsch nach einer künstlichen Verursachung des Todes von einem neuen Lebensschub abgelöst werden kann, der dem Kranken eine bewusste Annahme des Todesschicksals ermöglicht. Vor allem aber bleibt der Todeswunsch selbst ein zweideutiges Signal, dessen Bedeutung schwer zu entschlüsseln ist. Ebenso wie die verzweifelte Geste der versuchten Selbsttötung sind auch sprachlich geäußerte Sterbewünsche im letzten Krankheitsstadium häufig verhüllte Mitteilungen, die auf einer tieferen Beziehungsebene etwas anderes meinen, als sie äußerlich ausdrücken. Oftmals sind sie ein Appell, den Sterbenden in seiner letzten Lebensphase nicht allein zu lassen, also der Wunsch nach wirksamer Hilfe im Sterben. Hinter der Bitte “wenn ich doch sterben könnte” verbirgt sich dann der Ruf nach menschlicher Nähe und nach solidarischem Beistand, der durch eine wörtliche Erfüllung des Sterbewunsches gerade enttäuscht würde. Auch wenn man die Möglichkeit eines selbstbestimmten Todeswillens als Ergebnis einer rationalen Lebensbilanz grundsätzlich nicht ausschließen kann, bleibt damit zu rechnen, dass die Euthanasiebitte in der Einsamkeit und Hilflosigkeit der letzten Sterbephase nur eine Seite der Stimmungslage des Kranken zum Ausdruck bringt und dass diese auch auf dem Hintergrund einer Patientenverfügung aus gesunden Tagen kein eindeutiges Signal darstellt.2
Die Erfahrung der Hospizbewegung zeigt zudem, dass ein ernsthafter Wunsch nach aktiver Euthanasie noch seltener geäußert wird, wenn unheilbar kranke Menschen wissen, dass sie auch in der letzten Sterbephase mit einer wirksamen Schmerzbekämpfung und menschlichem Beistand rechnen können. Dieser in der ärztlichen Erfahrung vielfach bestätigte Umstand verweist auf der theoretischen Begründungsebene auf eine innere Widersprüchlichkeit der Euthanasieidee, die von ihren Vertretern meist umgangen wird. Ärztliche Tötungshandlungen sollen nur als ultima ratio in Frage kommen, also nur unter der Voraussetzung moralisch zulässig sein, dass sie die letzte noch verbleibende Möglichkeit darstellen, einem sterbenden oder schwerkranken Menschen wirksam zu helfen. Der Eintritt dieser Bedingungen lässt sich aber kaum noch mit der geforderten Sorgfalt feststellen, wenn der Rückgriff auf einvernehmliche oder, wenn die Äußerung selbstbestimmter Wünsche nicht mehr erfolgen kann, auch auf nicht-freiwillige Tötungshandlungen erst einmal Eingang in den klinischen Alltag gefunden hat. Die Befürchtung, dass die Tötung auf Verlangen die Suche nach pflegerischen und palliativen Alternativen auch verdrängen kann und als der schnellere, aufwandslosere und kostengünstigere Weg zum Ziel eines ruhigen Todes oder der Befreiung von schweren Leidenszuständen angesehen wird, ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Gefahr einer unkontrollierbaren Ausweitung erscheint sehr wohl real, zumal die Euthanasieforderung langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen wie der zunehmenden Vereinzelung der Menschen, dem demographischen Trend zur Überalterung und der ökonomischen Kostenexplosion im Gesundheitswesen auf ihre Weise durchaus entgegenkommt. Die von einem liberalen Selbstbestimmungspathos genährte Erwartung, dass die Möglichkeit der aktiven Euthanasie die Freiheit der Sterbenden stärkt und ihre Chancen zur Einflussnahme auf die konkreten Umstände ihres Sterbens gleichsam automatisch erhöht, bleibt für dieses Dilemma blind. Es ignoriert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die subtilen Mechanismen, die das Leben der Sterbenden der Willkür ihrer Umgebung ausliefern können.
3. Die Bedeutung des Autonomieprinzips
Über diese allgemeinen medizinethischen Überlegungen hinaus sprechen gewichtige Argumente der spezifisch ärztlichen Ethik gegen die vorgetragenen Rechtfertigungsversuche der aktiven Euthanasie. Diese kritischen Gegenfragen richten sich zunächst an den primären Legitimationstypus, der das vermeintliche Recht auf einen selbstbestimmten Tod und die dazu erforderliche Inanspruchnahme ärztlicher Tötungshandlungen aus dem fundamentalen Autonomieprinzip der neuzeitlichen Ethik herleiten möchte. Sie betreffen jedoch ebenso die häufig herangezogene Begleitargumentation, die aus dem Humanitätsgebot eine allgemeine, vom Arzt einzulösende Beistandspflicht ableiten möchte, die in Extremsituationen das Tötungsverbot außer Kraft setzen soll.3
Zunächst eine grundsätzliche Bemerkung zur Tragweite und Bedeutung des Autonomieprinzips, die innerhalb einer medizinethischen Grundlagenreflexion näher zu erörtern wäre: Es ist für die zukünftige Entwicklung des Arztbildes in unserer Gesellschaft von folgenreicher Bedeutung, ob die Bindung ärztlichen Handelns an die Willensbestimmung des Patienten als eine notwendige und unerlässliche, aber allein noch nicht hinreichende Bedingung angesehen wird, oder ob das Autonomieprinzip als einziger Legitimationsmaßstab ärztlichen Handelns gelten soll. Im einen Fall tritt der Respekt vor der Willensbestimmung des kranken Menschen in einer spannungsreichen, oftmals auch konflikthaften Gleichrangigkeit den klassischen ärztlichen Handlungsprinzipien der salus aegroti und des nil nocere zur Seite, im anderen Fall werden diese von der Selbstbestimmung des Patienten verdrängt, so dass die Arzt-Patient-Beziehung zu einer Art Geschäftsbeziehung wird, in welcher der Arzt auf Wunsch seines Vertragspartners medizinische Dienstleistungen erbringt.4 Die Frage, ob die Zuordnung der einzelnen Grundprinzipien in einem hierarchischen Modell, in dem das Autonomieprinzip zum höchsten Maßstab wird, oder in Koordinationsmodellen erfolgen soll, die dem Arzt im Fall von Urteilsmängeln oder offenkundig unbegründeten Willensentscheidungen des Patienten einen eigenständigen Spielraum ärztlicher Verantwortung belassen, kann in diesem Zusammenhang nicht weiter verfolgt werden. Für den Komplex Behandlungsverzicht-Sterbebegleitung-Euthanasie genügt jedoch der Hinweis, dass selbst ein als Höchstprinzip fungierender Autonomiegedanke den Arzt nicht einseitig zu beliebigem Handeln verpflichten könnte, das mit seiner ärztlichen Grundhaltung unvereinbar wäre.
Auf dem Hintergrund ihrer Bedeutungsentwicklung in der philosophischen Ethik seit Kant meint moralische Selbstbestimmung keine ungebundene Autonomie, sondern eine Bestimmung des individuellen Willens, die zugleich als Gegenstand eines allgemeinen Willens gedacht werden kann.5 Aus diesem Postulat vernünftiger Allgemeinheit, das die Bestimmbarkeit des individuellen Willens einem im Gedanken der sittlichen Autonomie selbst angelegten Prüfungsverfahren unterwirft, lässt sich zwar kein schlüssiger Beweis für eine generelle Unerlaubtheit der Selbsttötung gewinnen, wie Kant irrtümlich annahm.6 Aus der inneren Bindung der Willensbestimmung des Patienten an das Postulat vernünftiger Allgemeinheit folgt jedoch, so lässt sich Kants Argument in einer schwächeren Wiederaufnahme verstehen, dass auch ein sterbender Patient zur Rücksichtnahme auf den gesellschaftlichen Auftrag und die berufsethische Selbstdefinition des Arztes verpflichtet ist. Während der Patient, der mit einem Sterbewunsch an seine Umgebung herantritt, im ärztlichen Partner gewissermaßen den natürlichen Adressaten seiner Willensäußerung sieht, beruht eine solche Rollenzuweisung aus der Sicht des ärztlichen Berufsethos auf einer psychologisch verständlichen, in der Sache jedoch unzulässigen Schlussfolgerung. Ein moralisches Recht des Patienten, den eigenen Todeszeitpunkt sowie die Umstände seiner Herbeiführung selbst zu bestimmen, impliziert nämlich noch keinesfalls das weitergehende Recht, dazu die Mitwirkung anderer in Anspruch zu nehmen oder gar auf eine professionelle Verpflichtung des ärztlichen Berufsstandes zu solcher Mitwirkung zurückgreifen zu können.
4. Die Bedeutung des Humanitätsgebots
Auch im Blick auf den zweiten Begründungstypus verhält sich die in der gegenwärtigen Diskussion meist ganz selbstverständlich und unreflektiert unterstellte Prämisse, wonach allein der Arzt die Tötungshandlung auf Wunsch des Sterbenden auszuführen befugt sei, kontraintuitiv zur versuchten Legitimation der aktiven Euthanasie. Wenn diese als Pflicht zur menschlichen Hilfeleistung aufgrund des Humanitätsgebotes oder der mitmenschlichen Solidarität überhaupt gerechtfertigt werden soll, dann müssten als die primären Adressaten einer solchen allgemeinen Beistandspflicht eigentlich eher die Angehörigen oder die persönlichen Freunde des Sterbenden gelten, die sich einem solchen Ansinnen durch die Delegation der Ausführung der gewünschten Tötungshandlung an die professionelle “Kunst” des Arztes aber gerade zu entziehen trachten.
Die Stellung des Arztes gegenüber dem Kranken, aber auch gegenüber seiner Familie, wandelt sich von Grund auf, wenn er in die Rolle dessen gedrängt wird, der darüber zu befinden hat, ob einem früher geäußerten Euthanasiewunsch des Sterbenden entsprochen werden und ab wann dies geschehen soll. Hält er sich bei einer solchen Entscheidung ausschließlich an das freie Selbstbestimmungsrecht des Patienten, wird er in vielen Fällen, in denen dieses starker Einschränkung unterliegt oder nach Eintritt der Entscheidungsunfähigkeit völlig aufgehoben ist, selbst handlungsunfähig. Soll er dagegen objektive, im tatsächlichen Zustand des Kranken liegenden Kriterien berücksichtigen und eine stellvertretende Entscheidung fällen, übernimmt er die Verantwortung zur Bewertung eines anderen Lebens, die er nicht tragen kann. Im einen Fall bleibt die ärztliche Verantwortung ausgeklammert, im anderen wird sie überfordert. Dagegen dient die Unterscheidung von aktivem und passivem Tun, Töten und Sterbenlassen gerade dazu, in den Grenzbereichen zwischen Leben und Tod den Spielraum gegenseitiger Verantwortung zu begrenzen, den Menschen ausfüllen können. Die Befugnis, die objektive Wertlosigkeit bestimmter Lebenszustände festzustellen oder die Sinnlosigkeit der Weiterpflege von schwerstkranken Patienten zum gesellschaftlichen Leitbild zu erheben, fällt dagegen nicht unter den ärztlichen Auftrag. Eine solche Entscheidungsvollmacht wäre im übrigen weder mit einem freiheitlichen Menschenbild noch mit dem Bestreben vereinbar, menschliche Würde in Extremsituationen zu schützen.
5. Töten und Sterbenlassen
Das Begriffspaar von “aktiv” und “passiv”, von Töten und Sterbenlassen bleibt für den Arzt eine entscheidende Orientierungshilfe im Schnittfeld zwischen Lebensschutz und Tötungsverbot, die ihm hilft, die Reichweite und Grenze seines ärztlichen Auftrages zu erkennen. Der theoretische Vergleich beider Handlungstypen führt sowohl hinsichtlich der Intentionalität des Handelnden als auch der Kausalität in der Herbeiführung des Todes zu wichtigen Differenzierungen, die in einer ethischen Beurteilung nicht unterlaufen werden dürfen. Direktes Handlungsziel der “passiven” Euthanasie sind die größtmögliche Freiheit des Sterbenden von Angst- und Schmerzzuständen, der Abbruch einer das Leiden verlängernden Behandlung sowie der Verzicht auf weitere medizinische Interventionen, die nicht mehr durch das nunmehr palliative Behandlungsziel indiziert sind, wohingegen durch die “aktive” Euthanasie der Tod direkt und unmittelbar herbeigeführt wird. Entsprechend stellt der Abbruch kurativer Behandlungsformen im ersten Fall zwar eine notwendige, doch nicht hinreichende Bedingung für den Eintritt des Todes dar, während im zweiten Fall der Tod im Sinne zureichender Antezedenz-Bedingungen durch den Arzt herbeigeführt wird.7 Auch wenn die Tragweite und die präzise begriffliche Abgrenzung dieser Unterscheidung innerhalb der wissenschaftlichen Ethik umstritten bleiben, kommt ihr in dem Interaktionsgefüge zwischen Arzt und Patient auf der einen sowie Arzt und Angehörigen auf der anderen Seite hohe Bedeutung zu. Ein unheilbar Kranker, der nach einem künstlichen Reanimationsversuch den Wunsch äußert, diesen bei einem weiteren Herzstillstand nicht zu wiederholen, bittet darum, dass der Arzt ihn sterben lässt, wenn seine Zeit gekommen ist. Er bittet, die ihm gesetzte Grenze zu achten, aber er will nicht, dass der Arzt diese Grenze von sich aus setzt und ihn tötet. Der Arzt, der umgekehrt einen unheilbaren Patienten sterben lässt und eine aussichtslos gewordene Behandlung abbricht, tut dies seinerseits in dem Wissen, dass seine medizinische Kunst nicht der Lebensverlängerung um jeden Preis, sondern dem Wohl eines konkreten Menschen dient, der seiner ärztlichen Fürsorge auch in der letalen Phase des Sterbeprozesses bedarf. Er achtet den ihm anvertrauten Patienten in der Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit seines leiblichen Seins, indem er sein Sterben zu erleichtern sucht, aber dabei die letzte Grenze des Todes respektiert, die allen Beteiligten - dem Sterbenden, seiner Umgebung, dem staatlichen Gesundheitssystem und auch dem Arzt - gezogen sind.
Im Ertragen dieser gemeinsamen Ohnmacht zeigt sich eine tiefere menschliche Solidarität und eine entschiedenere Achtung vor der Würde des sterbenden Menschen als in dem Ausweg einer absichtlichen Herbeiführung des Todes. Der Gedanke an die aktive Euthanasie setzt unterschwellig eine dualistische Sichtweise voraus, in der die Achtung vor der sittlichen Selbstbestimmung des Menschen und die Achtung vor seiner konkreten Leiblichkeit, in der sich diese vollzieht, radikal auseinandertreten. Die durch den Arzt erfolgte Tötung soll das physische Leben des Patienten vernichten, um auf diese Weise den Respekt vor seiner Selbstbestimmung als Person zum Ausdruck zu bringen. Erst aufgrund dieses latenten Dualismus und einer Entpersonalisierung der ärztlichen Tötungshandlung als einer angeblich medizinisch indizierten Maßnahme lässt sich die Fiktion nachvollziehen, die personale Beziehung zu dem Sterbenden werde durch seine Tötung nicht abgebrochen, sondern aufrechterhalten. Nur wenn man einen leidenden und sterbenden Menschen gänzlich auf seine physische Existenz reduziert, wird der ansonsten widersprüchliche Gedanke überhaupt denkbar, dass wir ihn von seinem unerträglichen Leiden befreien, indem wir ihn zugleich von seinem Leben befreien.8
6. Schlussbemerkung
Auch in einer Gesellschaft, zu deren sozialen Spielregeln die moralische Akzeptanz der aktiven Euthanasie gehört, werden nur wenige Menschen die Alternative zur Annahme des ihnen verfügten Todes als ein heiteres Sterben zur rechten Zeit erfahren. Die Regel wird eher ein im Einklang mit den medizinischen, materiellen und menschlichen Ressourcen dieser Gesellschaft geplanter Tod sein, dem die Sterbenden unter der Fahne von Humanität und Menschenwürde ausgeliefert sind. Dagegen wahren das Tötungsverbot und seine unbedingte Respektierung im ärztlichen Handeln sowohl die Würde des Arztes als auch die seines Patienten. Die Bereitschaft, die in Geburt und Tod verfügten Grenzen hinzunehmen, führt zu keiner Entfremdung des Menschen, über die er sich in der Kraft seiner moralischen Selbstbestimmung erheben müsste. Es gehört vielmehr zu seiner Würde als endlichem Wesen, dass er nicht gegen alle Grenzen rebellieren muss, sondern auch unter extremen Belastungen in ihnen leben und sterben darf. Die Verfügtheiten des Daseins, allem voran die Last der Krankheit und das Schicksal des Todes, einmal ganz aufheben zu können, bleibt ein vergeblicher Traum. Es kann deshalb kein sinnvolles Ziel ärztlichen Handelns sein, Leid unbedingt und um jeden Preis zu vermeiden. Wohl aber gehört es zum ärztlichen Auftrag, dem leidenden Menschen bis zum Schluss zur Seite zu stehen. Wenn man darüber nicht im Ungewissen bleiben muss und sich auf die Zusage wirksamer Hilfe im Sterben verlassen kann, lässt sich auch die Angst vor dem künftigen Leiden leichter ertragen. Die Hoffnung unheilbar kranker und sterbender Menschen richtet sich dann darauf, an der Hand eines Menschen zu sterben, nicht durch die Hand des Arztes getötet zu werden.
Referenzen
- Malherbe, J.-F., Medizinische Ethik, Würzburg 1990, S.183
- von Lutterotti, M., Menschenwürdiges Sterben, Freiburg 1985, S.108-109
- Wolf U., Philosophie und Öffentlichkeit - Anmerkungen zur Euthanasiedebatte. In: Hegselmann, R., Merkel, R. (Hg.), Zur Debatte über Euthanasie. Beiträge und Stellungnahmen, Frankfurt 1991, S.181-196, bes. S.196
- Wieland W., Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, Heidelberg 1986, S. 40-47
- Vgl. die Grundform des kategorischen Imperativs: “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde”. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 52; zit. nach: Theorie-Werkausgabe (Ed. Weischedel), Bd. VII, S.51; vgl. auch Kritik der praktischen Vernunft, A 54; aaO., 140
- Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 53; aaO., S.52
- Ricken F., Handeln und Unterlassen. In: Lexikon der Bioethik (hg. von Korff, W. u.a.), Gütersloh 1998, S.200
- Fischer, J., Aktive und passive Sterbehilfe. In: ZEE 40 (1996), S.110-127, bes. S.118f
Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff
Institut für system. Theologie
Albert-Ludwig Universität
Werthmannplatz 3, D-79085 Freiburg